Ein hoher Ton schreckte mich aus meinem Fahrrausch, Landschaftstraum, meiner Todessehnsucht - wir sind inzwischen aus dem Innenstadt-Bezirk heraus, weit sind wir eh nicht gefahren, unser Präsidium hat mehr peripher als zentral gelegen, Gärten, Bäume und Büsche säumen Schreberhäuschen, Alleen umgehen Villen und vereinzelte Fünfzigern-Einfamilienhäuser– und dann ist der Brennstoff alle, mein Güte, sorgt so ein Polizist heutzutage nicht mehr vor? Das gibt es nicht, kaum 10 km gefahren und schon Benzintank leer.
Ich biege zu einer Tankstelle ab, die ich glücklicherweise kenne, ideal für meine Lage, handelt es sich doch um eine Kopftankstelle: die Verfolger müssen draußen bleiben. Sie würden keine Befürchtung haben, das ich ihnen entwischte: Einfahrt ist gleich Ausfahrt – die Maus musste wieder aus demjenigen Loch kommen, in dem es entwischt ist.
Ich lasse den winselnden Begleiter, Verursacher unseres Zwischenstopps, im Beifahrersitz zurück, als ich aus steige. Was sollte er schon anstellen als Gefesselter? Vorsichtshalber nehme ich die Schlüssel mit und versichere mir, dass im Handschuhfach nichts Unliebsames liegt.
Ich tanke auf, geh zur Kasse, die nur ein kleines Kabäuschen darstellt. Es handelt sich hier um eine Klickerles-Tankstelle, freie Tankstelle genannt, billiges Benzin, aber null Service und Angebote medialer und süßigkeitsbezogender Wünsche. Darin brütet ein alter Bekannter vor sich hin.
Er, sonst stets lächelnd, wenn er mich sieht, verspreche ich doch abwechslungsvolle Unterhaltung, tut es heute nicht, kommt ihm komisch vor, dass vor dem Tankstellenplatz blaublinkende, grüne Minna-Karosserien stehen. Nichtsahnend, den Kopf gereckt, späht er nach draußen und fragt: „Was ist hier los?“
„Weiß auch nicht!“, und öffne meine Geldbörse. Ich habe es eilig. Heute habe ich weiß Gott keine Zeit für Small-Talk.
Während des Geschäftsvorgangs tauschen wir aber die üblichen Konversationsfloskeln aus.
„Wie geht’s?“
„Danke gut! Und selbst?“
Ich erblicke einen flimmernden Bildschirm, denke, aha, Videoüberwachung, denkste, korrigiere ich mich, Fernseher. Schlecht. Eine Nachrichtensprecherin berichtet kaum hörbar von einer Geiselnahme, ein Fahrzeug wird gezeigt, identisch mit dem an der Zapfsäule stehenden, direkt vor uns, keine fünf Meter nach der Fensterscheibe, die zur Zapfsäulenbereich hinausweist.
Instinktiv greife ich unter der Innenseite meines Jacketts zur Pistole, bis ich begreife und wieder davon ablasse. Mein Bekannter bemerkt den Zusammenhang nicht. Nur wundert er sich über das Blaulicht draußen.
„Was da wohl los ist?“, sagt er noch einmal.
„Keine Ahnung“, tue ich arglos, „vielleicht ein Selbstmörder.“
„Kann sein!“, meint er, als er mir das Wechselgeld in die Hand zählt. Hier gibt es kaum Automaten für Wechselgeld zum Beispiel, primitivste Ausstattung nur. Nur gut, dass meinem Bekannten seine Behinderung an der Hand, nur drei Finger, bei dieser Tätigkeit nicht stört.
„Servus!“, sage ich, er ebenso immer noch verwundert nach draußen glotzend, leicht depressiv, wie ich ihn kenne und trete vor das Kabäuschen auf den schmutzigen Abtreter.
Ich greife in mein rechtes Sakkotäschchen, entnehme mir routinemäßig mit spitzen Fingern eine Zigarette und greife in die andere Tasche nach meinem Streichholzschächtelchen. Als ich mir gerade das Zündholz entbrannt habe und gen Zigarette im Mund bewege, sehe ich zwei Automobile, dicke Mercedes Benz, in den Tankstellenbereich herein- und an mein Fluchtauto heranfahren, links und rechts davon. Verdamm mich, wer hinter den dicken Windschutzscheiben sitzt da nur? Die Sonnenblenden verdecken jedoch die Gesichter.
Ich lasse den Schwefelstengel aus der Hand zu Boden fallen mitsamt Zigarette und spurte los.
Es sind keine Cops, die da aus den dicken Fahrzeugen flott herausspringen, es sind Italien-Giggolo-Typen, Kleider auf die braungebrannten Bodys gebügelt und haben jeder über die Schulter eine steife Tragetasche gehalten.
Ich stürze auf mein Fluchtauto zu, egal wer oder was, ich muss mich verschanzen, mich in Sicherheit bringen, meine Geiseln überwachen, mein leibhaftiges Unterpfand und meine einzige Lebensversicherung momentan. Während ich den Schlag aufreiße und mich auf den Steuersitz plumpsen lasse, bringe ich das Kunststück zustande, meine Knarre aus der Innentasche des Sakkos zu ziehen. Ziemlich Professionell. Sofort richte ich diese auf mein lebhafte Police und halte sie diesem gegen die Schläfe und atme auf – ich bin gerettet.
Ich habe es geschafft, bevor die zwei links und rechts auf das Auto heranstürmen und in ihre steifen Taschen greifen, der eine schwere Beta-Kamera herausziehend, der andere eine globige, mit einem Windschutz-Aufsatz behaftetes Richtmikrofon.
Journalisten!
Ich weiß nicht, soll ich Erleichterung zulassen oder genervt sein, wie ich es eben spontan empfinde?
Schwierig zu sagen. Da gilt es einiges abzuwägen.
Aber zunächst gilt es, Fehlalarm auszulösen und die Glieder wieder geschmeidig werden zu lassen, weil es sich um kein Überfallkommando der Polizei handelt.
Wundert man sich, dass die beiden Hyänen problemlos die Polizeiautos passieren durften? Keiner, ich weiß. Die Presse hat die Macht im Staat, das weiß jeder. Wie sie diese in meinem Fall und Beispiel ausüben, soll jetzt demonstriert werden.
Okay, ich komme ihnen entgegen, betätige das Elektrofenster an meiner Seite.
„Herr Entführer, wir begrüßen Sie!“
„Danke, ich Sie auch. Ich habe Sie schier schon vermisst.“ Ich sage das bewusst ironisch, aber der Journalist fasst es anders ab.
„Das tut uns Leid, wir haben uns sofort auf die Achsen gemacht, als wir es erfuhren, das dürfen Sie uns glauben.“ Es gibt wohl keinen eifernderen, fanatischeren und gläubigeren Sanyasin, Novizen und Konfirmanten der Presse als ich.
Trotzdem brumme ich missvergnügt.
„Also, entschuldigen Sie noch einmal.“
Ich sage trotzdem „bitte sehr“, will ja kein Spielverderber sein. Aber sie sollen mich schon kennenlernen, schwöre ich mir vor.
„Nun, Sie haben hier eine Geisel…“ Die andere Hyäne leuchtet mit einem starken Lämpchen ins Auto hinein an mir vorbei auf den Polizisten, der geblendet die Hände als Schirme über seine Augen legt. Er hat ohnehin Schmerzen, aber darauf, auf diese starke Lichteinstrahlung wird es eh nicht ankommen, wird der Journalist denken und die gesamte freie Pressewelt.
Der andere spricht mich an: „Dürfen wir ihn interviewen?“
Er grinst mich verschwörerisch an, meint, teilen wir uns doch gerecht die Beute, nicht wahr Herr Hai Nummer Zwo. Er selbst hält sich natürlich für Hai Nummer eins, worauf sie Gift nehmen können.
Ich mache eine bejahende Geste, was soll’s.
Der Interviewer spricht zuerst ins Mikrofon, bevor er es an meiner Nase vorbei zum Polizisten recken wird: „Wir haben die freundliche Genehmigung des Geiselnehmers erhalten, dass wir die Geisel befragen dürfen, was nun geschieht.
“Wie fühlen Sie sich, Herr Polizist?“
Hat man je schon eine schwachsinnigere Frage unter diesen Umständen gehört, wohl kaum. Ach, ich will das hier nicht weiter im Detail erzählen, so und noch erbärmlicher geht das jedenfalls weiter, bis ich Stopp rufe. Ich muss klarstellen, wer hier über den Lokus herrscht, oder nicht. Irgendwann muss ich Fahnen hissen, die verkünden: Leute, das hier ist kein Spiel, gedenkt zwischendurch des Ernstes der Lage. Die Hyänen haben jedenfalls sofort diesen dramaturgischen Akzent verstanden. Sie fahren mit Licht und Kamera zurück und konzentrieren sich wieder auf den Bösewicht, meine Wenigkeit.
Während der Bearbeitung der Raubfische von ihrer Beute habe ich meinerseits Zeit gehabt, in Ruhe über diese neue Wende im Handlungsablauf nachzudenken, hinsichtlich: gut für mich oder schlecht? Was erfolgt daraus, was bedeutet es, einfach alles eben. Und ich bin insgesamt zu folgenden Ergebnis gekommen: die Presse ist sehr, sehr, sehr gut für mich und meinem Zweck, als Schriftsteller herausgestellt zu werden, aber sehr, sehr, sehr schlecht hinsichtlich dessen, was dann mein Ziel, das Sich-Erschießen-Lassen anbelangt und bedeutet. Durch ersteres wird nämlich zweiteres obsolet.
Denn ich werde mit einem Mal jetzt durch dieses Interview, das in die breite Öffentlichkeit-Gestoßenwerdens durch die Hyänen- und Haien-Staatsmacht als Schriftsteller mit einem Schlag berühmt. Es ist schlicht zu erwarten, dass die Leute am nächsten Tag die Buchläden werden stürmen, um ein Exemplar eines der Bücher von diesem Bösewicht zu ergattern. Nun, was soll daraufhin noch das Erschießenwerden, das ist die Crux. Sie ist völlig überflüssig geworden, kostet nur unnützes Menschenleben, obendrein noch meines, verdamm mich, in welch beschissene Sackgasse bin ich da geraten.
Buch erhältlich unter:
http://www.pentzw.homepage.t-online.de/literatur.html