Dobroff
John Micklin wohnte in der Duke Street, in einem kleinen Häuschen, das gemütlich und mit viel Geschmack eingerichtet war. Eine kleine Veranda, wie so oft üblich, lag vor dem kleinen Gebäude.
Die Sonne brach mit ihren Strahlen über die aus Holzpaneelen beplankte Terrasse herein auf dem ein alter Schaukelstuhl aus Bambus wippte. Ein warmer Wind wehte herüber.
Leider war er allein. Seine Frau war schon vor etlichen Jahren von ihm gegangen und er hatte lange Zeit gebraucht diesen Verlust zu überwinden.
Wohliger fühlte er sich eigentlich im Wohnzimmer. Er war bereits Rentner, hatte
aber während seines Berufslebens etwas auf die Seite geschafft. Auch das Häuschen war sein Eigen und vor allem schuldenfrei! Je nach Lust und Laune, widmete er sich entweder seinem Garten, oder er ging einkaufen auf ein Schwätzchen im Supermarkt und vielleicht im Winter die Vögel füttern. Der kleine Ort war ideal dazu geeignet dort seinen Lebensabend zu verbringen.
John war also etwas langweilig auf den ersten Blick. Er hatte nur einen einzigen Tick. Seine geradezu abgöttische Verehrung zu Michael Dobroff, dem Dichter und Romancier, von dem die ganze Welt sprach. Er war es auch, der ihn aus der Lethargie gerissen hatte, als er nach dem Tod seiner Frau sich
aufgegeben hatte. Sie war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Nur die philosophische Lektüre von Michael Dobroff hatte verhindert, dass er sich in der ersten Zeit nach diesem Unfall nicht selbst umgebracht hatte. Er verdankte ihm sozusagen das Leben. Die Prosa und Lyrik Dobroffs war gewissermaßen der Strohhalm zum irdischen Leben gewesen. Seitdem widmete sich Micklin dem Schaffen des Meisters mit geradezu manischer Hingabe.
John konnte sich glücklich schätzen, dass er alle Werke Dobroffs gesammelt hatte. Oft hatte es ihn Mühe gekostet einzelne Bände zu finden.
Keiner interessierte sich offensichtlich für wirkliche Literatur. Die Auflagenhaie
eroberten sich ihr Publikum mit Agenten-Romanen, Krimis und Brutalo-Pamphleten. Zukunftsgeschwafel und Groschenromane liefen auch nicht schlecht.
Dobroff aber war seltene Kunst, er zelebrierte sie. In gewissen Kreisen, in gehobenen Literaturzirkeln zum Beispiel, wusste man über Dobroff Bescheid. Sogar das Konsortium der Alfred Nobel Stiftung beriet schon über eine eventuelle Nobelpreisvergabe.
Micklin rauchte nie, trank nie und er benützte seinen teuren, handgefertigten Ledersessel, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand - dort wölbte sich auch der offene Kamin heraus - eben nur dann, wenn er seinen geliebten Dobroff las. Dann räkelte er sich in das Leder hinein, hielt eines der Werke vor
sich und gönnte er sich eine Pfeife. Die eine ganz bestimmte, die Dobroff-Pfeife, wie er sie nannte. Er goss sich dazu einen seichten Whiskey ein. Der Rauch und der strenge Geschmack des Whiskeys ließen ihn in eine andere Welt blicken, durch die ihn Dobroffs Gedanken ihn führte.
Michael Dobroff bedeutete ihm alles. Er gab ihm Lebenseinstellung, Hoffnung. Sein verwunschenes Reich in den Wolken.
Er ging nun über den naturbelassenen Steinweg durch seinen kleinen Garten zu dem Gartentürchen zum Briefkasten. De Zeitung war es. Er ging zur Veranda zurück, setzte sich in seinen Schaukelstuhl und schlug die Zeitung auf.
„Der große Dichter Michael Dobroff ist vor kurzem verstorben. Arm, aber zufrieden ist er von uns gegangen in die jenseitige Welt, von der er so oft geschrieben hatte.“
Er erstarrte. Micklin glotzte auf die Schlagzeile. Die Zeitung vibrierte in seiner Hand. Er fühlte sich der Ohnmacht nahe. Ein Zittern bemächtigte sich ihm. Grabeskälte! Herzzersprengende Einsamkeit durchzog seine Seele. Es konnte doch einfach nicht wahr sein! Dobroff tot? Endgültig, ohne wenn und aber? Er zitterte. Er brach in sich zusammen. Der Schaukelstuhl wippte. Plötzlich musste er flennen.
Der große Dichter hätte ein Werk noch kurz vor seinem Tode fertiggestellt. Ein Buch mit
dem Titel: „Der Sinn des Lebens“.
Aber wie aus seinem Vermächtnis zu entnehmen gewesen wäre, solle dies nicht veröffentlicht werden, da er nur einem einzigem die Krönung seines Lebensschaffens anvertrauen wolle. All seine Weisheit sei darin enthalten und es läge ihm sehr am Herzen, dass es einen würdigen Besitzer fände. Es solle an den Meistbietenden versteigert werden. Dies sei sein Letzter Wille.
John starrte auf den Bericht, schniefte. Und als er seinen ersten Schock überwunden hatte, da kristallisierte sich vor allem eines heraus. Es gab noch ein letztes Buch von IHM. Sozusagen sein Vermächtnis! Micklins
Gestalt nahm wieder Umrisse, Struktur an.
Alle, aber wirklich alle Bücher von ihm, denen er je habhaft werden konnte, die hatte er. Selbst kurze Essays, Zeitungsartikel, Interviews hatte er gesammelt. Er war überzeugt davon mit Fug und Recht behaupten zu können, dass er alles besaß, was je der Feder Dobroffs entschlüpft sein mochte. Aber nun das!
Es gab noch ein weiteres Werk. Das letzte im Leben des Genies. Gewissermaßen dessen gleichzeitiger Höhepunkt und Abschluss seines Schaffens. Die ultimative Weisheit, Wahrheit!
Er wusste es genau. Er musste dieses Buch
haben. Tatendrang durchströmte ihn. Es war klar, sonnenklar! Tue was!
John flog nach Russland. Dort sollte die Versteigerung dieses einzigartigen Buches stattfinden. Vor allem war es das einzige Exemplar auf der Welt. Und Micklin würde es als Einziger besitzen und den Sinn des Lebens erfahren. Er war sozusagen dazu auserkoren.
Er war zur Versteigerung angekommen.
Nichts und Niemand würden ihn von seinem Vorhaben abbringen.
Die Versteigerung begann. Nachdem der Auktionator ausgequakt hatte, nachdem er nochmals den Lebenslauf Dobroffs Revue passieren gelassen hatte, begann endlich
das eigentliche Versteigern.
Micklin bot.
Immer wieder fuhr sein Finger nach oben.
Schließlich gab es nur noch zwei, sollte man sagen Verrückte, die bei dem inzwischen erreichten astronomischen Preis mitboten. Der eine davon war Micklin, der eigentlich gar nicht mehr mitbieten konnte, ohne sich zu ruinieren.
Ihn quälte ihn nur ein Gedanke, ein anderer könnte das Buch erringen. Ein anderer könnte den Sinn des Lebens von Michael Dobroff erfahren.
Wenn er Michael Dobroff noch zu Lebzeiten getroffen hätte, ja dann wäre es anders gewesen. Dann hätte er mit ihm tiefschürfend
über das kosmische Sein diskutieren können. Ach, wie sehr hätte er sich das gewünscht. Er hatte auch das innige Gefühl, dass niemand mit ihm diese tiefste Erkenntnis Dobroffs teilen durfte.
Er würde sein ganzes Leben lang verschuldet sein. Aber was ist das schon im Vergleich zu der Erkenntnis vom Sinn des Lebens?
John bot schließlich 800.000 Dollar. Zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten.
Er hatte es geschafft. Das Buch, es gehörte nun ihm, ihm ganz allein. Das einzige Exemplar!
Er weinte dicke Tränen voller Glück und war gleichzeitig der Ärmste auf der Welt, völlig ruiniert.
Zuhause war er mit dem Schatz angekommen.
Sofort nach der Ankunft stürzte er in das Wohnzimmer. Dort strahlte ihn der Ledersessel an, die Whiskeyflasche auf dem Beistelltisch glühte und die Dobroff-Pfeife verlangte nach Tabak und Feuer.
Aber erst einmal entspannen, ruhig werden, das erwartungsvolle Zittern abklingen lassen.
Dobroffs Lektüren ließen sich nicht so einfach verschlingen. Man musste Muße dazu haben, die Fantasie schweifen lassen können.
Er räkelte sich also in seinem Sessel zu Recht und versuchte durch tiefe Atemzüge zu sich selbst zu finden.
Als er ganz ruhig geworden war, goss er sich zur Feier diesmal ein ganzes Glas voll
Whiskey ein. Er riss ein Streichholz an und sah das Biegen der Tabakspäne bis die Glut heiß genug war. Dann paffte er tief und genussvoll. Er blickte die ausgeblasene Rauchwolke an und spülte mit einem großen Schluck nach.
Seine Gesichtsmuskeln entspannten sich. Er zwang sich zur Beschaulichkeit, obwohl die Neugier in ihm tobte.
Nun nahm er den Koffer, ließ die Schließen aufschnappen und nahm das göttliche Buch zur Hand. Es hatte einen schweren Brokateinband, reich mit Ornamenten verziert.
Den Koffer stellte er neben seinen Sessel. Nun ließ er seinen Kopf in das Nackenkissen seines Sessels zurücksinken und mit glänzenden Augen, den Mund zugespitzt in
reiner Verzückung, schlug er die erste Seite auf:
„Der Sinn des Lebens von Michael Dobroff“
Handschriftlich, eigenhändig von dem großen Dichter. Handschriftlich wohlgemerkt!
Er ermahnte sich wieder zur Ruhe, wollte erst seine Seele sozusagen ausschaukeln lassen, bevor er es wagen konnte sich diesem Kleinod des Geistes zu widmen.
Er beschloss ganz langsam zu lesen. Jeden Satz zweimal, um nur ja nicht vielleicht gedachte Aphorismen, Parallelen oder Andeutungen in purer Hast zu übersehen. Schließlich gab er sich einen Ruck.
Nun denn! Er schlug die nächste Seite um. ----LEER!
Na, ja, ein Zwischenblatt. Normaler Weise
stand da der Verlag, Erscheinungsjahr, das Jahr der Ausgabe des Originals und ähnliches Zeug. Das war natürlich hier etwas ganz anderes! Es gab nur ein Original und das hielt er hier in Händen.
Er blätterte um.
Aber was war das?
Auch die nächste Seite war leer!
Diesmal schlug er sofort die nächste Seite auf. Wieder leer.
Gewisse Panik ergriff ihn. Hatten die Russen ihn beim Zoll betrogen? Das Buch vertauscht?
Die folgende Seite war wieder leer! Die darauf folgende ebenfalls! Er blätterte fieberhaft weiter, Schweißperlen standen ihm auf dem Gesicht. Er befand sich nahe an einem
Asthmaanfall Das konnte doch nicht wahr sein! LEER, LEER, alle Seiten waren nichts als weiße Blätter! Um Himmels Willen! NEIN! NEIN!
Auf der letzten Seite stand dann:
„Nachdem ich annehme, dass sie dieses Buch nur unter großen Mühen erworben haben, will ich ihnen den Sinn des Lebens nicht weiter vorenthalten:
Der Sinn des Lebens ist es einen Fehler immer nur ein einziges Mal zu machen.“
Gezeichnet
Michael Dobroff