Abran, Absallam, 1890 (nach Absallamer Zeitrechnung)
Victoria versuchte, ihr kokettes Kleid hochzuraffen. Die Treppe war breit und eine Menge Leute drängten sich an ihr vorbei. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und sah sich mit besorgtem Blick nach ihrer Begleitung um. Die ansehnlich gekleideten Damen und Herren, allesamt in vornehmen, adligen Kleidern (andernfalls wäre ihnen der Zutritt verweigert worden), drängten sich zwischen sie und ihrem Gentleman. Die Energien strömten wild auf sie ein und nervös versuchte sie, die Gedanken, die wie sprudelndes Wasser auf sie niederprasselten, auszublenden. Victoria war anders. Obwohl sie eine Sapheda war, eine Art Parallelwesen des Menschen, das die Kraft des Eises besaß und aus dem Norden Absallams kam, besaß sie doch Kräfte, die für eine Völkerin aus dem Norden ungewöhnlich waren: Sie war in der Lage, die Energie eines jeden Wesens zu spüren -sollte derjenige mit ihr in Berührung kommen - und, seine wahren
Absichten zu erkennen. Ihre Tante sagte ihr stets bei jeder Gelegenheit, wie stolz sie auf Victoria und ihre außergewöhnliche Begabung war, doch Victoria war ihrer Gabe ein wenig überdrüssig. Das Gedankenlesen war eine Sache; obwohl ein jeder Sapheda sich durch Gedanken verstand, war es etwas ganz anderes, die Gefühle und Energien eines jeden zu spüren, den sie berührte. Die Sapheda waren ein kühles, ernstes, stets zurückhaltendes Volk, wie ihre Kraft, das Eis, und sie verstanden es, ihre Gedanken zielgerichtet und zurückhaltend zu äußern. Doch die wahren Gefühle von einem jeden zu spüren ... das war etwas vollkommen anderes.
Endlich fand sie sich dicht gegen ihren Begleiter gedrängt auf der anderen Seite der Treppe wieder. Er murmelte eine höfliche Entschuldigung und ergriff ihren Arm und sie schritten zusammen die Treppe hinauf. Bald quetschte man sich nicht mehr so geballt zusammen und sie konnte ein Stück zur Seite rücken.
Ihre Tante hatte sie zu dem Ball gedrängt, da sie schon längst im heiratsfähigen Alter war und noch immer nichts von ihren Verehrern wissen wollte. Dieser Mann war ein eher kühlerer Charakter, so kalt wie seine Energie, die ihr vorkam wie ein zusammengeknülltes Stück Pergament; unbeschrieben, leer, zusammengeknüllt. Und obwohl sie in der Lage war, seinen Gedanken zu lauschen, so wusste sie einfach nicht, was er an ihr fand. Sie mochte ihn nicht und war nur wegen den Sitten mit ihm zusammen auf dem Ball gegangen.
Bei dem Betreten des Tanzsaals hielt Victoria unwillkürlich die Luft an. Sie wusste, dass ihre Welt ihren einstigen Glanz seit jenem Angriff verloren hatte, und es war allgemein bekannt, dass der Norden von Absallam nicht viel mehr zu bieten hatte als seine kalte, öde Landschaft mit vereinzelten, teils zerstörten Städten wie Abran, und den kleinen Überresten von Dörfern hier und dort. Normalerweise waren es die enthusiastischen und hitzigen Gemüter aus dem Süden, die sich, so sagte man,
darin verstanden, einen Ball auf die Beine zu stellen, wie man es im Norden nur selten zu sehen bekam. Von den Südländern, diesen Flammiferat, hatte sie schon viel gehört. Sie wünschte, ihre Tante würde ihr nicht immer diese eintönigen, kühlen langweiligen Verehrer aus dem Norden vorsetzen, die mit der ein- und derselben kalten Energie. Sie wollte etwas Neues, Aufregendes.
Und nun bot sich ihr der Anblick von hunderten von prunkvollen, mit Rubinen verzierten Kronleuchtern, die ein goldenes Licht von der Decke her auf die Tanzfläche verströmten, auf der schon die ersten Sephada zur leisen, ruhigen Musik (wie es im Norden von Absallam üblich war) tanzten, die das kleine Streichorchester am Ende des Tanzsaals spielte. Bald schon gesellten sich auch Victoria und ihre Begleitung zu den Tanzenden. Das Stück war eintönig und einschläfernd und Victoria unterdrückte den Drang zu gähnen, während sie weiter von ihrem Begleiter zurückwich, der ihr andauernd in die Augen
schaute und sich immer dichter an sie schmiegte. Sie war seine schnöde Energie genau wie seine albernen Annäherungsversuche langsam leid. Schließlich stellte sie ihm Fragen. "Finden Sie nicht auch, dass dieser Tanzsaal einfach zu bezaubernd aussieht?" Es war lästig, doch Victoria hatte gelernt, ihre neugierigen Fragen stets mit den entsprechenden Höflichkeitsregeln auszustaffieren. Er erwiderte irgendetwas von wegen "Geradezu", doch Victoria fuhr schon fort: "Welch ehrenhafter Adelsfamilie haben wir dieses hübsche Tanzvergnügen zu verdanken?" Ihr Begleiter hüstelte teils verlegen, teils empört, woraufhin Victoria ihr Gesicht abwandte, um ihr Lächeln zu verbergen, das ihr bei diesem urkomischen Laut über die Lippen gekommen war. "Miss Victoria!", tadelte er. "Sie sind auf einen Ball der höchsten Klasse eingeladen und wissen nicht einmal, wer Ihnen dieses Vergnügen bereitet hat? Die Gastgeberfamilie zu kennen ist oberste Pflicht eines Gastes!" Victoria
versuchte sich zu zügeln und nicht in ihren Gedanken "Sagen Sie schon" zu knurren. "Die Gradtons", antwortete der schließlich und fuhr leicht pikiert fort:"Und das hatte ich Ihnen doch schon auf der Reise mit der Droschke hierhin erzählt." Victoria machte den Eindruck, dem Orchester für dieses Stück dankbar zuzulächeln, doch in Wirklichkeit verbarg sie nur ihre verdrehenden Augen vor ihm, wie ihre unehrenhaften Gedanken "Heulen Sie doch", als sie plötzlich seine Gedanken vernahm. Schändlicher Flammiferat-Abschaum; das sind sie alle, diese Gradtons.
Flammiferats. Victoria lächelte. Es hatte sich doch gelohnt, hierherzukommen! Auf einmal hörte Sie, wie das Orchester hinten auf der Empore verstummte. Sie sah einen jungen Mann, vielleicht in ihrem Alter, zwanzig Jahre, etwas hinaufbrüllen. "Ach kommen Sie schon! Wenn Sie nicht etwas Schnelleres spielen, schlafen Sie noch ein! Bringen Sie mal ein bisschen Schwung rein!"
Frecher Lümmel. Der kleinste von den Gradtons und doch der lauteste, vernahm sie die Gedanken ihres Begleiters. Offenbar versuchte er noch nicht einmal, sie zu verbergen, doch Victoria vermutete, dass die übrigen Tanzgäste dasselbe dachten. Sie lächelte. Selbst in dieserlei Hinsicht unterschied sie sich von den Sapheda.
Das Stück wechselte schlagartig von dem Pachelbel Kanon zu einem wilden, schnellen Stück, das Victoria nicht kannte. Sie mochte es. Augenblicklich entschuldigte sich ihr Gentleman und verließ die Tanzfläche, um sich zu einer Sapheda zu gesellen, die steif und genauso kalt schien wie er selbst. Victoria zuckte die Achseln. Er wird glücklicher sein mit einer anderen. Und ich werde ohne ihn glücklicher sein, dachte sie gleichgültig. In diesem Moment blieb der junge Gradton, den ihr Begleiter als frechen Lümmel bezeichnet hatte, vor ihr mit einer tiefen Verbeugung stehen. Ohne auf eine Zustimmung zu warten,
ergriff er ihren Arm und wirbelte mit ihr über die Tanzfläche. "Linkin Park", flüsterte er ihr ins Ohr, als sie sich in Gedanken fragte, wer wohl der Komponist dieses andersartig klingenden Stücks sei. "Die Menschen sind uns knapp ein Jahrhundert voraus. Man mag es sich kaum vorstellen, dass wir in Absallam in einem Jahrhundert gleich weit sein werden. Ich hoffe nur, die Musik ist das erste, was sich ändert, sie ist ja geradezu unterirdisch." Er schnitt eine Grimasse. Victoria faszinierte diese andersartige Art und Weise zu sprechen so sehr, dass sie ganz vergaß, ihre Neugier in Zaum zu halten. "Sie waren auf der Menschenwelt?", platzte sie heraus und errötete sogleich. Er lächelte ebenfalls. "Nicht doch." Victoria hörte nicht viel von der Menschenwelt, es war ein Tabu in ganz Absallam. Manch einer behauptete doch sogar, sie wären der Grund für den Angriff auf den Planeten gewesen. Doch seit ihre Schwester Layla für einen ominösen Auftrag auf die Erde gereist und nicht mehr zurückgekehrt war,
versuchte Victoria jeden Gesprächs- oder Gedankenfetzen aufzuschnappen, der mit "Mensch" oder "Erde" zu tun hatte.
Erst jetzt fiel Victoria seine Energie auf. Auch sie, seine Energie, war flimmernd, so andersartig, anziehend. Sie prickelte bei der Berührung mit ihrer Energie. Seine Hand war warm, was Victoria nicht weiter überraschte; im Bezug auf Flammiferat und ihren Feuerkünsten hatte man sie schon informiert.
Ihrer Schwester geht es gut. Seine Gedanken waren so leise, dass sie sich sicher war, sie wäre die einzige, die sie vernahm. Und auf einmal stömten Bilder auf sie herein. Bilder von ihrer Schwester in einem grünen Kleid auf einem prunkvollen Ball, der nicht viel andersartig als dieser schien, bloß, dass die Besucher keine Sapheda, sondern Menschen zu sein schienen. Layla redete auf einen jungen Mann in kleiner Gestalt und schwarzem, wirren Haar ein, das dem von dem jungen Gradton nicht unähnlich war. Ihr Bruder?,
fragte sie ihn in Gedanken. Er nickte kaum merklich. Auf einmal wirkte ihre Schwester erschrocken und verließ den Tanzsaal augenblicklich. Die Bilder verschwanden und der junge Mr. Gradton verbeugte sich tief. "Sie sind eine bezaubernde Dame, Miss. Ich hoffe, ich werde irgendwann noch einmal das Vergnügen haben, mit Ihnen zu tanzen." Er küsste ihre Hand.
Unsere Familien sind befreundet. Seien Sie unbesorgt, mein Bruder achtet Ihre Schwester.
Victoria lächelte und sah ihm noch lange, aber nach einigen Augenblicken war er aus ihrem Blickfeld verschwunden. Schließlich wandte sie ihren Blick wieder dem Ball zu. Einige junge Männer sahen öfter zu ihr herüber als normalerweise und sie strich ihr Kleid glatt. Kurz darauf kam ein besonders vornehm gekleideter Herr zu ihr herüber, stellte sich als ein Mr. Wikings vor und reichte ihr einen Arm. Sie gab dem Drängen zum Tanzen nach und schon bald flog sie wieder über das Parkett.
Der Abend rauschte an ihr vorbei, Victoria nahm ihn gar nicht wirklich war. Als der Abend schon zu Ende war und sie im Bett lag, dachte sie noch lange nach. Sie spürte Layla in einem Winkel ihrer Gedanken, stets schweigsam, beinahe schon erloschen. Sie und ihre Schwester hatten enge Bande, so eng, dass sie sich ihre Gedanken und Gefühle teilten, selbst wenn unendliche Kilometer sie trennten. Sie spürte sie schon seit Jahren nicht mehr. War es möglich, dass Layla noch lebte und von dem älteren Gradton beschützt wurde? Kurz bevor sie vom Schlaf übermannt wurde, hatte sie noch einen letzten, interessanten Gedanken. Seit wann waren Flammiferat in der Lage, Bilder in die Köpfe von Sapheda zu teleportieren?