Die Mutprobe
Gänsehaut-Geschichten
01 Die Mutprobe
© by Pinball
Wie es früher so üblich war, trafen sich die Kinder aus der Nachbarschaft am Nachmittag, wenn die Hausaufgaben erledigt waren, zum gemeinsamen Spielen.
Außenseiter hatten es immer schwer, von solch einer Gruppe angenommen und akzeptiert zu werden. Häufig war es so, daß zunächst eine Mutprobe bestanden werden mußte.
Dies galt auch für Lucie, die mit ihren Eltern erst vor kurzem in das kleine Dorf gezogen war.
Sie war eine Weile lang von den anderen Kindern geschnitten worden, bis sie eines Tages von Klas, dem Wortführer der anderen Kinder angesprochen wurde.
„Wenn du bei uns mitmachen willst, mußt du die Mutprobe bestehen“, sagte er ihr und die anderen Kinder, die im Kreis um die beiden herumstanden, nickten.
„Und was muß ich da machen?“ fragte Lucie schüchtern.
„Du mußt im Dunkeln über den Friedhof laufen“ hörte sie „und als Beweis mußt du am Grab des Selbstmörders einen Stock in die Erde stecken“.
Lucie überlegte einen Augenblick. Sie hatte Angst, Friedhöfe waren ihr unheimlich und dann auch noch wenn es dunkel ist, dachte sie. Aber andererseits wollte sie auch dazugehören, also fragte sie: „Und wann soll ich das machen?“
„Heute, heute“ riefen die anderen Kinder und es wurde vereinbart, daß sich die ganze Gruppe um 20.00 Uhr an der alten Eiche am Ausgang des Dorfes treffen wollte, denn es war Herbst und um diese Zeit auch schon dunkel genug.
Als der Abend kam und sich die Kinder trafen, war Nebel aufgezogen und machte alles noch viel unheimlicher.
Gemeinsam zogen die Kinder zum Friedhof, der hinter einem kleinen Wäldchen lag.
Klas drückte Lucie einen weißen Stock in die Hand und erklärte ihr, wo das Grab lag.
„Steck ihn neben den Grabstein in die Erde“, sagte er zu Lucie „und pass auf, daß dich der Geist vom Selbstmörder nicht holt, der geht da nämlich um.“
Nun hatte Lucie noch mehr Angst, wollte das aber nicht zeigen und kneifen wollte sie auch nicht. „Und was macht ihr, wo wartet ihr auf mich?“
„Wir gehen außen um den Friedhof rum und warten am anderen Ausgang auf dich“ erklärte ihr Klas.
Lucie nickte nur stumm und ging mit langsamen Schritten auf den Eingang des Friedhofes zu, während sich die anderen Kinder auf den Weg um den Friedhof herum machten, um dort auf Lucie zu warten.
Nach wenigen Minuten schon hatten sie den Ausgang erreicht und warteten. Aber Lucie kam nicht, statt dessen hörten die Kinder einen gellenden Schrei, dann einen weiteren Schrei, der plötzlich verstummte.
Kreischend flohen die Kinder zurück in das Dorf, wo bereits vor der Dorfkneipe einige Männer standen, die der Lärm auf die Straße gelockt hatte.
Es dauerte eine Weile, bis man endlich aus den Kindern herausbekommen hatte, was geschehen war.
Eilig holten die Männer Laternen und machten sich auf den Weg zum Friedhof.
Dort fanden sie auf dem Grab des Selbstmörders Lucie; sie war tot.
Es stellte sich dann heraus, das wohl folgendes geschehen war:
Lucie hatte das Grab gefunden, hatte sich gebückt, um den Stock in die Erde zu schieben. Dabei hatte sich wohl ihre Schürze, die damals noch von Mädchen getragen wurde, nach vorn geschoben und sie hatte den Stock durch den Stoff der Schürze in die Erde geschoben.
Als sie sich wieder aufrichten wollte, kam sie nicht hoch, weil der fest in die Erde gestoßene Stock die Schürze festhielt.
Lucie muß panische Angst gehabt haben, der Geist des Selbstmörders wolle sie holen und so hatte sie einen Herzschlag bekommen.