1890, Portmouth, England
"Miss." Der Butler, der am Fuße der bronzenen Eingangstür stand, hüstelte und gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass sie hier unerwünscht war. Seine Gedanken waren so langweilig und eintönig wie der Rest dieser geschmacklosen Lackaffen in Anzügen.
Nun, nicht jeder Abschaum Portmouth', mag er noch so erstklassig tun, kann erwarten, von der angesehensten, wohlhabendsten Adelsfamilie Englands zum Ball eingeladen zu werden. Was erlaubt sich eine Miss ohne jegliche Begleitung und Anstandsdame in den vornehmen Kreisen zu kursieren?
Der übliche Müll. Sie lächelte amüsiert, während sie jedoch zugleich ungeduldig mit einem hockhackigen Schuh auf den samtenen Teppich tippte. Geduld war nicht gerade ihre Stärke und sie stand nun schon seit einer halben Ewigkeit da und bat den Mann um Einlass, den er ihr ohne Eintrittskarte einfach
nicht gewähren konnte. Nun, Liebenswürdigkeit war auch nicht gerade ihre Stärke. Sollte er ihr den Eintritt weiter verweigern, hatte sie keine Lust mehr, den eingebildeten Butler weiter Faxen ziehen zu lassen, dann würde sie handeln. Und das sähe dann unschön aus. Sie atmete tief ein und lächelte kokett, geradezu bezaubernd. Keine Morde heute. Je weniger Aufmerksamkeit, desto besser. Und Gerard wollte keine Morde.
"Nun ja, Mr. ... ?"
"Collins, Miss, Mr Collins." Seine nästelnde Stimme war höflich diskret, während sie in seinen Gedanken vor Geringschätzung triefte.
"Mr Collins, sind Sie ein Gentleman?"
"Selbstverständlich, aber-"
"Ich habe meinen Handschuh fallen lassen." Der Handschuh lag nicht weit vor ihren Füßen. "Wären Sie so lieb ..." Er bückte sich und hob ihn auf, streifte ihn ihr mit einer galanten
Bewegung über die Finger. Schon hatte sie seinen Arm gekrallt und hielt ihn mit einer Kraft, die für eine Frau beinahe unmöglich sein sollte, fest. Sie wusste; wäre irgendwer in der Nähe, der außergewöhnlich war, mindestens außergewöhnliche Kräfte besaß, würde derjenige sehen, wie kaltes Eis von ihrer Berührung auf den Butler überging und seine Gedanken lähmte, doch, das wusste und spürte sie ebenso, war keine ungewöhnliche Seele weit und breit. Zufrieden legte sie den Kopf schief und lächelte, während sie in seine Gedanken eindrang.
Sie werden mich jetzt ohne Eintrittskarte hereinbitten. Sie werden sich so arschkriecherisch wie sonst benehmen und niemand weiteren hereinlassen, besonders kein außergewöhnliches Blut. Und vor allem werden Sie niemanden hier rauslassen.
Sie lächelte süß und ließ ihn los. "Das war's."
Er bittete sie herein. Sie zögerte einen Moment.
Gerard würde wütend sein, wenn er erfuhr, dass sie die Gedanken des Butlers manipuliert hatte. Und sie wusste nicht, ob Gerard heute vorbeikommen und sich selbst überzeugen wollte, ob sie sich daran gehalten hatte. Wieder fasste sie den verwirrt aussehenden Butler am Arm.
Erzählen Sie Gerard nichts davon.
Das Geräusch von klirrenden Gläsern, diskretem Gelächter und klassischer Musik erfüllte den Ballsaal, in dem es von tanzenden Paaren, die auf der Tanzfläche apart herumwirbelten, nur so wimmelte. Die Tanzgäste am Rand unterhielten sich mit Sektgläsern in der Hand, die Männer in Smoking, die Frauen in Kleidern aus Samt. Tatsächlich waren die Gedanken der Leute um sie herum schon viel interessanter; ein etwas älterer Mann mit einem Zylinder hatte den sich immer wiederholenden,gleichen Gedanken.
Ich bin ein Huhn. Ich bin ein Huhn. Ich bin ein -
Sie lächelte amüsiert. Eine Schande, dass der, den sie für Gerard aufsuchte, ihm gehörte, wie Gerard ausdrücklich betont hatte. Sie wollte, er wäre nicht immer so versessen auf diese komische Rose - die angeblich die Fugen ihrer Welt, nicht die der Menschen, ihrer Welt, wieder aufbauen würde. Ihre Welt war nicht mehr das, was sie einmal war, und mithilfe der Rose würde sie wieder zu ihrer alten Macht aufblühen - so behauptete Gerard und sie vertraute ihm.
Sie folgte den manipulierten Gedanken der Menschen zu einer kleinen Gruppe von Männern, die lachend in der Ecke standen und, so vermutete sie, betrunken waren. Denn sie lachten schallend und laut über etwas, was die Außenstehenden nicht verstanden. Den Anführer konnte sie schnell aus der Gruppe ausmachen. Ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren, der ein wenig abseits der Gruppe, im Schatten, stand, aber irgendwie trotzdem der Mittelpunkt zu sein schien. Er hatte ein verwegenes Grinsen auf dem Gesicht,
Gesicht, als habe er den Witz gemacht. Er fuhr sich immer wieder durch sein wildes Haar, das er nach hinten gegelt hatte, das aber nicht auf der Stelle blieb. Er war mehr dürr und klein, als groß und kräftig und in dem Moment der Überraschung dachte sie, Gerard hätte nur einen üblen Scherz mit ihr getrieben oder es liege eine Verwechslung vor. Doch die bronzene Farbe in seinen Augen veranlasste sie sofort, sich in ihrem koketten grünen Kleid, das ihre frechen, grasgrünen Augen betonte, in Bewegung zu setzen und sich mit einem Champagnerglas dazu zu gesellen. Wenigstens sah man ihren Augen nicht sofort an, wer sie war - nein, was sie war, während er noch nicht einmal den Versuch unternahm, seine Augen zu tarnen. Entweder, weil er einfach nur dumm war, oder, weil er sich vor nichts und niemanden fürchtete. Sie lächelte ihr verführerischstes Lächeln und bot dem jungen Gentleman ihren Arm an. Sie hörte, wie die Männer der Gruppe pfippen und zweideutige Bemerkungen abgaben, doch sie ließ sich
nicht beirren. Der Mann, oder viel mehr der Junge, lächelte fast ironisch, als sie fragte: "Wollen wir?", doch er verweigerte sich nicht, sondern verbeugte sich tief und erwiderte schließlich: "Es wäre mir eine Ehre, Miss."
Er schien Übung darin zu haben, mit einer Frau zu tanzen, denn er wirbelte sie mit gekonnten, galanten Bewegungen über die Tanzläche.
"Also? Ich vermute mal nicht Sie sind hergekommen, um sich zu ... amüsieren. Was wollen Sie?" Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er unterbrach sie. "Wenn Sie glauben, ich hätte sie, sind Sie dumm." Er hatte keine Miene verzogen, lächelte noch immer zurückhaltend und höflich. Er hatte kein einziges Mal die Lippen geöffnet; das brauchte er nicht. Es überraschte sie nicht, dass er davon wusste, Gerard hatte sie gewarnt.
"Das heißt, Sie haben die Rose nicht?"
Jetzt lachte er. "Wer will das schon wissen? Vielleicht hab ich sie, vielleicht hab ich sie
nicht."
Er packte sie fest am Arm. Sie spürte die Hitze, die von der Berührung ausging, wie heißes Feuer. Sie spürte die Blasen, die unter ihrer Haut aufgingen, bis sie sich plötzlich dem Griff entwand. Sie hatte genug gesehen.
Nun sprach er mit kalter, drohender Stimme. "Sollten Sie noch einmal versuchen, Gift in mein Glas zu kippen, sind Sie tot, genau wie Ihr gerissener Gefährte Gerard. Ich habe es Ihnen gezeigt."
Wieder verbeugte er sich. Lächelnd. "Sie sind eine bezaubernde Dame, Miss. Ich hoffe, ich werde irgendwann noch einmal das Vergnügen haben, mit Ihnen zu tanzen." Er lächelte noch ein letztes Mal, halb süffisant, halb ironisch, und er wandte sich schließlich von ihr ab. Obwohl er ihr Hitze zugeflößt hatte, fühlte sie nur Kälte und Schmerz, als sie mit schnellen Schritten davon eilte, während er ihr noch hinterher rief:"Richten Sie Mr. Collins von mir aus, dass er nun ruhig damit einhalten kann, die Herrschaften weiterhin
die vornehmen Herrschaften zu belästigen, indem er ihnen den Eintritt verweigert", und ihr schelmisch zuzwinkerte, woraufhin die Männer schallend lachten. Die Bilder, die er ihr gezeigt hatte, folgten ihr noch, als sie den Ballsaal verließ, die Gedanken des Butlers wieder in Ordnung brachte, und die Treppe hinunter rannte, oder viel mehr flog, zu spät, wie sich herausstellte, denn unten wartete schon jemand auf sie.
Sie warf sich erleichtert in seine Arme, als sie Gerard erkannte. "Er hat mir alles gezeigt. Gerard, wir ..." Er nickte ernst, als sie ihm ihre Gedanken offenbarte. "Ich weiß, Layla, ich weiß."