Das kleine Männchen legte Stein auf Stein. Es sollte eine Mauer werden, undurchdringlich, eine Festung. Sie sollte schützen, was so leicht zu verletzen war, sollte abhalten, wer kommen und sein furchtbares Spiel gewinnen wollte. Das Männchen hatte dies schon einige Male gemacht, ließ sich auch mal hinreißen, die Steine abzutragen und den Weg frei zu machen zum Ziele vieler.
Diesmal aber, wollte er es nicht noch einmal tun, wollte schützen, was zu schützen galt, oder zumindest, von dem er glaubte, dass er es beschützen müsse. Kühn war der, der glaubte, die Mauer überwinden zu können. Im Sturm hätte er jenes erobern können, das vielleicht sogar gerade auf ihn all die Jahre gewartet hat.
Es gab eine Lücke in der unbezwingbaren Mauer. Eine winzige zwar, aber durch sie zu gelangen, war leicht. Der Kühne schlüpfte ohne Anstrengung hindurch, war dem Ziel näher als er es verstand. Es fühlte sich richtig an, Zweifel gab es keine. Trümmerlos. Die Mauer sollte nicht eingerissen werden, eher wollte er sie auflösen, das Männchen in den verdienten Ruhestand geschickt und das Glück entfesselt werden. Das Männchen baute unbeirrt an der Mauer weiter, hatte es den Eindringling doch gar nicht bemerkt.
Wohl aber das, was es zu erreichen gab. Es empfing den einen wie keinen zweiten zuvor. Öffnete Fenster, Tore, verlas ganze Bücher, sang jene Lieder, die noch kein Ohr gehört hatte und sorgte für eine Vertrautheit, die selten erreicht wurde. Es war das Besondere, das Kostbare, das entzückte, verzauberte und beflügelte. Alles erschien möglich und wohl verdient.
Das Alte, Verletzte wirkte jetzt eher wie eine Episode, wie ein Testspiel vor dem großen Finale. So viel Glück war eigentlich nicht zu verkraften, da es zu ungewohnt erschien.
Dunkle Wolken zogen auf. Blitze zuckten, Donner groll. Der Kühne wollte nach dem Rechten sehen und wurde von einer Windhose erfasst, die ihn aus der Festung trug. Nach weiten Flug landete er von Wolke 7 irgendwo im Wald des Lebens. Der Weg zurück zur Festung erschien beschwerlich, er war aber bereit, alles auf sich zu nehmen, das ihn zurückbringen könnte. Er hatte den Schatz gesehen, die Rosen gerochen, den einen Duft eingeatmet, die eine süße Frucht gekostet, und die Wärme gespürt. Das Wertvollste wollte er nicht verlieren, das erschien ihm nicht gerecht.
Nach Monaten erreichte er abermals die Mauer, die nun noch höher war als zuvor – die eine kleine Lücke geschlossen. Er sprach mit dem Männchen, bat um Einlass, flehte beinah. Er versuchte zu überzeugen. Es hatte ihn doch empfangen, die Bücher verlesen, Fenster und Tore geöffnet, hatte ihn erwählt, nur ihn. Doch das Männchen war taub. Das eine Abenteuer erschien jetzt wie ein Traum, ein schöner zwar, aber die Erinnerung daran schmerzte mehr als der Schnitt von tausend Messern. Die Einsamkeit fühlte sich jetzt grauenhafter als zuvor an. Kälte war kälter, Dunkelheit dunkler, Echos verhallten, Lieder verstummten, Düfte wurden vom Wind der Zeit fortgetragen. Ein Teil fehlte. Netze zerschnitten. Die Nacht übernahm das Kommando.
Die Mauer stand und an ihr gab es keine East Gallery, keine Gedenksteine, keine Museen, kein Präsident forderte zum Abriss auf. Der Kühne verweilte noch einige Wochen, war betrunken von der Hoffnung, doch irgendwo die steinige Hürde überwinden zu können. Er war nah dran am Herzen und dennoch so weit weg.