Anmutig liegt eine Stadt an eines Baches Rand, Umschattet von Gebüsch, umtönt von Nachtigallen. Es wird von Hexen oft ein Paradies genannt, wenn sie vergnügt in ihren Fluren wallen. Wie aber im verlorenen Paradies Die weise Schlange List und Trug bewies, So wollt' ein solches Biest in jenem neuen Eden Die Mägdlein auch zu Sünden überreden. Sie zeigte sich in längst verjährter Tracht Als böse, dürre Frau in schon ergrautem Alter, Und pochte stark auf ihres Amtes
Macht
(von mir geändert, Originalversion- August Friedrich Langbein)
"Autsch!", fluchte ich und starrte die Blutstropfen an, die aus meinem linken Zeigefinger sickerten. Diese verdammte Cornflakes-Packung wollte es mir heute einfach nicht leicht machen. Ich lief auf die weiße Küchenzeile zu und kramte in einer Schublade nach einem Stück Pflaster. Meine Mutter hielt es leider nicht so gut mit der Ordnung und ich fand die zerknitterte Verpackung erst unter einer Dose mit Teebeuteln, deren intensiver Geruch sich sofort im ganzen Raum verbreitete. "Was machst du denn da?", fragte mich mein Bruder Yorick und deutete auf meinen verletzten Finger. Ich schnitt ihm eine
Grimasse und versuchte so den stechenden Schmerz zu unterdrücken, der sich mittlerweile in meiner gesamten Hand ausgebreitet hatte. "Ich hab' mir nur in den Finger geschnitten." "Oh! Soll ich einen Notarzt holen?", erwiderte er und ich schlug mit aller Kraft die Schublade zu. Schnell verarztete ich mir die Wunde selbst und kam doch noch zu dem Genuss eines morgendlichen Frühstücks. Mein Bruder hatte inzwischen das Interesse an mir verloren und sich ganz seiner Comic-Zeichnerei zugewandt. Ein Hobby, was er schon sein ganzes Leben verfolgte. Selbst während des Unterrichts an der South Wyalong-Highschool legte er den Stift nicht beiseite und hatte sich das ein oder andere
Mal eine Stunde Nachsitzen aufgebrummt. Er war mit seinen 15 Jahren drei Jahre jünger als ich. Äußerlich ähnelten wir uns kaum. Yorick hatte braune Haare und braune Augen. Ich hingegen hatte lange, rote Haare und graue Augen. Wir wohnten zusammen mit unserer Mutter in einem kleinen Haus in South Wyalong. Dieser kleine, von der Außenwelt fast abgeschnittene Ort, lag inmitten des australischen Bundesstaates New South Wales. Wenigstens das Wetter spielte die meiste Zeit des Jahres mit. Kaum Regen, milde Winter und viel Sonnenschein. Mit meinen roten Haaren brachten mir die zahlreichen Sonnenstunden jedoch nichts. Aber was soll's, ein Besuch im Solarium konnte mir auch nicht helfen.
"Morgen ihr beiden!", meine Mutter hatte die Küche betreten und schob gerade zwei Hälften Weißbrot in den Toaster. Ihre graublonden Haare hatte sie zu einem einfachen Knoten gedreht, aus dem sich die Hälfte schon wieder gelöst hatte. Auch in Punkto Styling ähnelte sie mehr meinem Bruder, als einer erwachsenen Frau. Er trug karierte Hemden oder einfache T-Shirts und sie karierte Blusen. Ich war das einzige Familienmitglied, das einen Sinn für Mode hatte. Daher betrachtete ich mich auch kritisch im Spiegel, der direkt neben der Eingangstür unseres Flures an der Wand hing. Mir blickten eine dünne spitze Nase, gerade weiße Zähne und hervorstehende
Wangenknochen entgegen. Mit meinem Aussehen hatte ich es eigentlich ganz gut getroffen. *** Zufrieden verließ ich das kleine Holzhaus, schnappte mir mein Fahrrad und machte mich immer den langen Sandwegen folgend, auf zur High-School. Dort besuchte ich die zwölfte Klasse und wollte später in die Hotelbranche einsteigen. Mein Traum war es an der Ostküste zu arbeiten. Sydney klang ganz verlockend und versprach wesentlich mehr Abwechslung als sie hier vorzufinden war. Kurz bevor der schlichte Flachbau in Sicht kam, trat ich noch einmal ordentlich in die Pedale, um den steilen Anstieg gekonnt zu bewältigen. Etwas aus der Puste,
verwahrte ich meinen Drahtesel sicher an einem Zaun. Ein Blick auf die vielen anderen Zweiräder sagte mir, dass ich mal wieder ziemlich spät dran war. Ich eilte an den Schülerscharen vorbei, die sich auf dem kleinen Platz vor dem Eingang tummelten. An den Spinds wartete bereits meine beste Freundin Gillian McDude auf mich. "Da bist du ja endlich, Candice." "Ich hab versucht heute etwas früher aufzubrechen", brachte ich immer noch sichtlich außer Atem zu Stande. Doch Gillian ließ mir keine Zeit für eine lange Verschnaufpause: "Hast du die Flyer vom Wettbewerb zur Miss-Wyalong-Wahl gesehen? Die Bewerbungsfrist ist erst am Donnerstag zu
Ende." "Ja und? Was willst du mir damit sagen? Das ich noch Zeit habe, mich in die Liste einzutragen?" Gillian konnte es einfach nicht lassen. Da sie mit ihren kurzen braunen Haaren, ihren großen Ohren und der kleinen Statur nicht den gesuchten Idealen entsprach, versuchte sie mich jedes Jahr zu überreden an dem Wettbewerb teilzunehmen. "Candice Ferii. Du bist die Schönheit der ganzen Schule, alle Typen drehen sich nach dir um, wenn du die Gänge entlang stolzierst. Wer nicht wenn du, hätte die Chance auf den Titel?" "Das ist mir alles zu viel Stress und jetzt komm'! Die Stunde fängt gleich an", genervt
packte ich meine Freundin am Arm und holte mit der anderen Hand die Bücher aus meinem Schließfach. Mein Finger signalisierte mir, dass es ihm noch nicht wesentlich besser ging. Also biss ich die Zähne zusammen und betrat unseren Klassenraum. Rechnungswesen stand gleich als erstes auf dem Plan. Eines der Fächer, das nicht zu meinen Stärken zählte. Doch bevor der Unterricht überhaupt begann, wurde uns eine neue Mitschülerin vorgestellt. "Fine Martin wird ab heute Teil unserer Klasse sein. Ich hoffe, ihr werdet sie mit offenen Armen empfangen, sodass sie sich schnell hier einleben kann." Das Mädchen lächelte schüchtern und begab sich auf einen Platz in der hintersten Reihe. Als sie
jedoch an mir vorbeiging, hatte ich den Eindruck, dass sie mich einige Sekunden länger anstarrte als den restlichen Teil der Klasse. "Die sieht irgendwie unheimlich aus", raunte Gillian mir zu. "Und hast du bemerkt, wie sie dich angeglotzt hat?". Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken und ich beschloss, mich für den Rest der Stunde nicht mehr nach hinten umzudrehen. "Sie rennt uns die ganze Zeit hinter her, selbst als wir auf dem Klo waren, ist sie uns gefolgt. Wie eine Psychopatin", flüsterte Gillian mir zu und machte große Augen. Auch ich spürte die ganze Zeit einen Schatten im Rücken, wagte es aber nicht, mich umzudrehen. Was war das für eine Neue?
Und wieso verursachte sie solch ein Unbehagen bei uns? Draußen auf der riesigen Rasenfläche, die sich hinter dem Gebäude erstreckte, hatten wir endlich einen größeren Vorsprung auf unsere Verfolgerin aufgebaut und bogen unbemerkt Richtung Sporthalle ab. "Candice. Gillian. Freut mich, dass ihr auch endlich eingetroffen seid", begrüßte uns Mrs. Bellingham. Sie war die Leiterin des Cheerleader-Vereins und für ihre Strenge bekannt. "Zieht euch schnell um und dann geht es ab, draußen eine Runde entlang der Footballfelder laufen!" Ich stöhnte und schlenderte in eine der vielen Umkleidekabinen. Ich quetschte mich in die engen Hotpants und stülpte mir ein Top, in
den Farben pink-weiß, die unser Schullogo zierten, über. Wieder auf dem offenen Gelände hießen uns die warmen Sonnenstrahlen willkommen. Es war Frühlingsanfang und so waren die Temperaturen noch ganz erträglich. Gillian und ich starteten unter kritischer Beobachtung von Mrs. Bellingham unsere Runden. Ich lief schnell und zu eifrig los. Als Strafe bekam ich in der dritten Runde heftige Seitenstiche und musste mein Tempo verlangsamen. Bevor sich Gillian auf und davon machte, drehte sie sich noch einmal zu mir um. "Guck mal, wer da schon wieder steht?" Ich erstarrte und entdeckte rechts im Gebüsch vor uns die Gestalt von Fine Martin. Sie
fixierte mich mit ihren schlitzartigen Augen und schob dabei ihr spitzes Kinn vor. Ihre helle bleiche Haut glitzerte im Sonnenschein und blendete meine Sicht. Verärgert wollte ich noch einmal an Tempo zu legen, um an ihr vorbei zu spurten. "Bist du Candice Ferii?", eine glockenhohe Stimme hatte mich angesprochen und ich brauchte mich nicht mal zur Seite drehen, es war die Stimme von Fine. "Ja, das bin ich. Was willst du von mir und warum verfolgst du uns schon den ganzen Tag lang?", wollte ich wissen und blieb stehen. "Dacht ich's mir doch. Die Beschreibung trifft ganz auf dich zu", sie verzerrte ihre Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. Welche
Beschreibung verdammt noch mal, sie sollte mich endlich in Ruhe lassen. Leider folgte sie meinen Gedanken nicht. "Sie erwarten dich", mit diesen drei Worten drehte sich Fine um und verschwand zwischen den dichten Zweigen. "Soll das hier ein Witz sein!?", rief ich ihr verärgert hinterher, doch Fine war bereits verschwunden. Völlig erschöpft von den vielen neuen Übungen, die uns heute aufgezwungen wurden, machte ich mich am späten Nachmittag endlich auf den Weg nach Hause. "Wenigstens geht es jetzt bergab", murmelte ich und ließ meine Beine von den Pedalen. Der kühle Fahrtwind streifte angenehm meine Haut und ich genoss das Gefühl der Freiheit. Plötzlich huschte etwas
aus dem Straßengraben und bewegte sich auf die Straßenmitte zu. Ich versuchte den Lenker zur Seite zu reißen, kam dabei etwas ins Schlingern und erkannte den Übeltäter. Eine kleine Schlange. So schnell sie gekommen war, so schnell war sie wieder verschwunden. Nicht mal ihre Farbe konnte ich mir merken. *** Zu Hause erledigte ich in Windeseile meine Hausaufgaben und summte dabei zu meiner Lieblingssängerin Pink. " I'm trouble .Yeah trouble now I'm trouble, ya'll, I disturb my town ". Diese Zeilen beschrieben genau die Gedanken, die ich mir über das seltsame Verhalten von Fine machte. Sie hatte etwas Geheimnisvolles an
sich, etwas Fremdes, was nicht hier her gehörte. "Candice!!!", rief Yorick von nebenan. Genervt stand ich von meinem Bett auf, welches in der Mitte meines kleinen Raumes stand. Die Retro-Tapeten im 60's Style bildeten die Basis für das Farbkonzept meines Zimmers. Kräftiges Pink und Orange sorgten für eine fröhliche Stimmung, von der ich sofort gute Laune bekam. "Was gibt's' denn so Wichtiges?" "Mama will, dass du ihre Kräuter gießt". Ich verdrehte die Augen. Enna Ferii, begnadete 3-Sterne-Köchin und Gewürzspezialistin, hatte unseren Garten in ein wahres Kräuterreich verwandelt. Ich schnappte mir eine einfache Blechgießkanne und steuerte
das Basilikumbeet an. In Australien schossen schon zu Beginn des Frühlings die Keimlinge in die Höhe, um sich von der Sonne wärmen zu lassen. Leider vergaßen sie dabei aber, dass sie dadurch austrockneten. Und so kam ich ins Spiel und rettete ihnen mit ein paar Tropfen Wasser das Leben. Ich zupfte gerade einen Stängel Unkraut aus dem ausgedörrten Erdboden, als ich eine Bewegung vernahm. Wollte Yorick mir wieder einen seiner Streiche spielen? Doch anstatt meines Bruders, hatte ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Begegnung mit einer Schlange. In unserem Land keine Seltenheit. Diese war ein besonders schönes Exemplar und thronte auf einem der Zaunpfosten, die unser Grundstück vor ungebetenen Gästen
schützten. Langsam glitt der schlanke Körper das Holzstück nach unten herab und schlängelte sich an den ersten Basilikumstängeln vorbei. Sie starrte mich ebenfalls mit einem intensiven Blick aus türkisfarbenen Augen an, ganz so als wollte sie mir etwas sagen.
Durch das harte Training war ich sehr müde und schlüpfte bereits kurz nach zehn unter meine Kuschelbettdecke. Ich brauchte sehr lange zum Einschlafen und starrte an die Decke. Eine Methode, die mich meistens noch müder machte und mich endlich schlafen ließ. Doch mir gingen Fine und ihr Verhalten einfach nicht aus dem Kopf.
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Gewitterwolken zogen über den schwarzen Himmel, getrieben von starken Windböen. Bei jedem Blitz zuckte ich zusammen. Meine Augen waren nur halb geöffnet und ich konnte unweit von mir mehrere Gestalten ausmachen. Sie hatten mich umstellt, in einem Kreis eingeschlossen, aus dem es kein Entrinnen gab. "Kann der Kreis geöffnet sein, noch ungebrochen. Möge die Liebe der Göttin jemals in deinem Herzen sein. Fröhlich zu erfüllen, fröhlich zu teilen und fröhlich wiederzutreffen", diese Worte ließen mich schweißgebadet hochschrecken.
*** Ich war wieder in meinem Zimmer, mein Wecker tickte leise vor sich hin und die Zeiger sagten mir, dass es schon früher Morgen war. Was wollten diese Leute von mir? Der Traum schien so real gewesen zu sein, fast konnte ich den Chor aus den unheimlichen Stimmen noch hören. An Einschlafen war jetzt nicht mehr zu denken und so machte ich mich früher als gewohnt auf ins Badezimmer. Es herrschte Stille im Haus. Im Spiegelbild schauten mich dunkle Augenringe an. Ich musste meinen mangelnden Schlaf unbedingt mit einem Concealer abdecken. Gillian würde mich damit aufziehen, wie ein Zombie rumzulaufen.
Schnell tupfte ich mir die Abdeckcreme unter die Augen und wollte mich gerade nach meinen Klamotten bücken, als ich im Augenwinkel sah, wie etwas auf meinem Rücken aufblitzte. Verwirrt drehte ich mich noch einmal zurück. Der Körper einer türkisfarbenen Schlange hatte sich von meinem Nacken bis zum untersten Wirbel auf meinem Rücken ausgebreitet und lag wie ein Tattoo auf meiner Haut. Erschrocken unterdrückte ich einen Aufschrei, als ich Schritte auf der Treppe wahrnahm. Was hatte das alles zu bedeuten? Gestern erst diese komischen Begegnungen und heute hatte ich das Viech auf meinem Rücken. 'Candice! Du bildest dir das doch bestimmt nur ein', schalt ich mich. Doch bevor ich mir noch weiter den
Kopf zerbrechen konnte, klopfte es an der Tür. "Candice! Bist du das?", es war die Stimme meiner Mutter. Ich griff nach einem Pullover und stülpte ihn über den Kopf. Die Tür öffnete sich und meine Mutter guckte verschlafen um die Ecke. "Was machst du denn schon so früh auf den Beinen?" "Äh", begann ich stotternd. "Ich äh, muss noch etwas für die Schule machen". Ärgerlich biss ich mir auf die Lippe. Diese Lüge würde meine Mutter doch nie glauben. Bevor sie etwas erwidern konnte, schlüpfte ich aus dem Bad. In meinem Zimmer griff ich nach meiner Schultasche und stürmte aus der Haustür. *** Da Gillian noch nicht anwesend war, steuerte
ich auf das menschenleere Mädchenklo zu. Ich tastete mit der Hand den gesamten Rücken ab und versuchte meinen Körper so zu verdrehen, dass ich das Tattoo deutlich im Spiegel sehen konnte. Meine Finger streiften eine kühle schuppige Haut. Es war wirklich da! Doch wie kam es dahin? Gelächter war zu hören und die Türklinke senkte sich nach unten. Schnell zog ich die Hand wieder unter dem Pullover hervor und begab mich zu unserem Klassenraum. Dort setzte ich mich auf meinen Platz und las noch einmal den englischen Text durch, den wir als Hausaugabe aufhatten. Auf einmal spürte ich ein unangenehmes Kitzeln im Rücken und zog die Schultern nach oben. Es schien als würde das Reptil auf meinem
Rücken hin und her kriechen. Meine Finger wurden feucht und ich wusste nicht was ich tun sollte. Was ging mit mir vor und wie wurde ich die Schlange wieder los? Keiner würde mir auch nur eine Silbe glauben, wenn ich sagen würde, dass das Bild eines Reptils aus dem Nichts auf meinem Rücken aufgetaucht war und sich zusätzlich noch hin und her bewegte. "Du bist vor mir da?", Gillian hatte sich neben mir niedergelassen. "Mhm", brachte ich zu Stande und bemerkte, dass sich die Schlange weiterhin fortbewegte. "Stress zu Hause? Du siehst irgendwie unglücklich aus", besorgt schaute Gillian mir in die Augen. Ich konnte gerade so
verhindern alles auszuplaudern. "Mein Bruder macht Stress". Inständig entschuldigte ich mich bei Yorick, der schon so manches Mal für meine Ausreden herhalten musste. "Um den Streit zu vergessen, wäre doch die Miss-Wahl die perfekte Gelegenheit." "Nein! Auf keinen Fall", platzte ich heraus. "Nur weil du keine Chance hast, muss ich nicht für dich hinhalten!" Ich wusste zwar, dass diese Worte meine Freundin verletzten würden, aber so hatte ich Ruhe vor ihr. Nach einem Streit redete sie üblicherweise einen ganzen Tag lang nicht mit mir, nur um am nächsten Morgen reumütig bei mir angekrochen zu kommen. Dieses Mal musste ich diesen Part übernehmen. Fine war heute
nicht erschienen und ich konnte ungehindert auf dem ganzen Schulgelände ein und aus gehen. In der Mittagspause schloss ich mich der Truppe um den Quarterback Tyrone an. Die ganzen Mädchen hatten nur Augen für ihn und ich konnte unbemerkt dabei sitzen ohne etwas zu sagen. Das dachte ich jedenfalls. "Wieso trägst du heute einen Pulli?", fragte mich Isalie, die größte Zicke unserer Schule und auffälligste Anbeterin von Tyrone. "Mir ist kalt, ich glaub' ich werde krank", gab ich ebenso bissig zurück. "Yo Leute, lass ma den Rest des Tages draußen chillen", forderte Tyrone seine Gruppe auf und ohne jeglichen Widerstand ließen mich seine Anhänger am Tisch zurück.
Ohne Gillian fühlte ich mich einsam, aber ich konnte einfach nicht über diese merkwürdigen Dinge mit ihr reden. Etwas hielt mich davon ab und glauben würde mir sowieso keiner. *** So entschuldigte ich mich für den restlichen Unterricht und kam frühzeitig zu Hause an. In der Küche kochte ich eine kleine Dosensuppe in der Mikrowelle. Auch wenn meine Mutter von Beruf Köchin war, so hielt sie es daheim jedoch einfach. Die Wiederholung von der gestrigen Folge 'Gossip Girl' lief auf FOX8. "Was machst du denn schon hier?", unterbrach Yorick das Streitgespräch von Blair und Serena.
"Mir ging's nicht gut." "Aha, meine Schwester macht blau." Yorick lachte und beschmiss mich mit einem braun-weiß gestreiften Sofakissen. "Lass das!", schrie ich ihn an und verfolgte wieder das Leben auf der Upper East Side. Mit seinen muskulösen Armen, die er sich beim Rugby angelegt hatte, stützte er sich von der Sofalehne und ging in sein Zimmer. Ich seufzte. Musste ich es mir heute denn mit allen verscherzen? Laute Metal Musik dröhnte aus der oberen Etage. Mein Bruder war schon immer ein Einzelgänger gewesen, weshalb er fast nie Besuch bekam. Mühselig machte ich mich auch auf den Weg nach oben. Das Tier auf meiner Haut hatte sich
beruhigt und bewegte sich kaum noch. Trotzdem wollte ich wissen, was mit mir los war. Auf meinem MacBook suchte ich nach "Sich fortbewegende Schlange auf Menschenrücken" erzielte aber kaum Treffer. Es gab nur Bilder von gewöhnlichen Tattoos, was meines sicher nicht war. "Verflucht!", schrie ich und drückte meine Fingerspitzen ein bisschen fester in die Tastatur. Es gab anscheinend niemanden mit dem gleichen Problem. Nicht in Australien. Nicht in der restlichen Welt. Und im Weltall sicherlich auch nicht. War es vielleicht eine Krankheit? Kritisch begutachtete ich mich noch einmal im Spiegel. Doch eine Hautkrankheit, die ein bewegliches Schlangentattoo hinterließ, hielt ich für
ausgeschlossen. Während meiner weiteren Recherche bemerkte ich nicht, wie schnell die Stunden vergingen, bis mich meine Mutter mit Hühncheneintopf in Pilzsoße nach unten lockte. Yorick war immer noch ein bisschen angefressen und dementsprechend wortkarg. Zu dritt hatten wir am großen weißen Holztisch Platz genommen und meine Mutter holte einfache Porzellanteller aus der Glasvitrine. "Wie war die Schule?", wollte sie wissen. "War Scheiße", antworteten Yorick und ich gleichzeitig. Wir fingen an zu lachen und der Streit von vorhin war vergessen. "Ein Problem weniger", dachte ich, als ich mich später zu Bett legte.
Auch dieses Mal fiel es mir schwer, einzuschlafen. Das Bellen eines Hundes riss mich gegen Mitternacht aus dem Schlaf. Um aus dem Fenster zu gucken, ob der Nachbarshund mal wieder ausgerissen war, stand ich auf. Ehe ich das Fenster erreichen konnte, hielt ich wie versteinert vor dem Spiegel inne. Aus meinen Augen leuchtete ein intensives türkises Licht, das das gesamte Zimmer in eine mystische Atmosphäre tauchte. Ich schrie auf und rannte die Treppen runter nach draußen. Hatte ich jetzt auch noch eine Augenkrankheit? Langsam begann ich zu zweifeln, ob das alles noch Teil der Realität sein konnte. An etwas wie Magie oder
Übernatürliches hatte ich bisher nicht wirklich geglaubt, aber im Moment schien es die einzig mögliche Lösung zu sein. *** Die angenehme Luft ließ meinen Kopf wieder etwas kühler werden. Die vielen Kieselsteine piekten unter meinen Füßen, während ich nach hinten in den Garten ging. Ich setzte mich an den kleinen Teich, dessen leichtes Plätschern meine Nerven beruhigte. Auf dem Weg zurück ins Haus, erkannte ich einen dunklen Schatten am gusseisernen Eingangstor. Ich trat näher und ein violettes Leuchten blitzte in der Ferne auf. "Hallo Candice", Fine trat direkt an das Tor heran. Sie war wohl der Übeltäter für den Aufruhr des Hundes gewesen. Fine hatte den
Kopf gesenkt, hob ihn jetzt aber wieder an und ich starrte erschrocken in ihre Pupillen. Eine lilafarbene Iris hatte sich darum gebildet. "Was willst du hier?", fuhr ich sie an und wollte umdrehen. "Du bist eine Schattenschwinge, Candice. Tarmania wartet auf dich." "Du bist doch völlig...", wollte ich erwidern, doch sie unterbrach mich mit einem zischenden "Pst". "Wir müssen uns beeilen, wenn wir vor Ausbruch des Krieges da sein wollen. Du bist die Einzige, die ihn verhindern oder die gute Seite siegen lassen kann." "Ich? Krieg? Wovon redest du da? Du gehörst eindeutig in die
Klapse!" Ohne auf meine Vorwürfe einzugehen, machte Fine einen Schritt auf mich zu. Das grelle, violette Licht, welches von ihr ausging, brannte in meinen Augen. "Du wolltest dich ja nicht kooperativ zeigen, also machen wir das Ganze jetzt auf meine Weise." Sie legte mir ihre eiskalte Hand unters Kinn, die Farbe ihrer Pupillen schien sich aufzulösen. Das letzte was ich spürte, waren meine nachgebenden Beine, die auf dem Kies zusammensackten, ehe ich in tiefe, schwarze Dunkelheit versank. *** "Krkkkrrk", das Krächzen irgendwelcher Vögel riss mich aus meiner Bewusstlosigkeit. Suchend blickte ich mich um und stellte fest,
dass ich mich auf einem Boot inmitten des weiten Meeres befand. Die krächzenden Vögel hatten sich als Seemöwen entpuppt. In weiter Ferne konnte ich die Lichter einer Stadt am Rande des Ufers ausmachen. 'Wo war ich und was war verdammt noch mal mit mir passiert?!' Langsam kamen meine Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück und ich wusste jetzt auch, wer die zweite Person in dem kleinen Boot war. "Fine, wieso sind wir auf dem Wasser? Wo willst du mit mir hin?", fragte ich sie. Ich bekam Schweigen als Antwort. So leicht ließ ich mich nicht unterkriegen und versuchte auf dem glitschigen Boden vorwärts zu kommen. Irgendwie bewegt ich mich keinen
Zentimeter, egal wie viel Kraft ich aufwendete. Ein Blick nach unten zeigte mir meinen rechten Fuß, um den eine Fessel geschlungen war. Das abgenutzte Seil ließ schreckliche Bilder in mir hochkommen. 'Hatte Fine mich etwa entführt? Aber warum, meine Mutter war doch keine Millionärin.' Erst da fiel mir ein, dass Fine irgendetwas von einem Krieg gefaselt hatte, was die Sache umso verwirrender machte. Das Boot wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Mitten auf dem Wasser, was sollte hier schon sein? Das zweite Atlantis vielleicht? Das wäre sogar ein ideales Versteck, denn niemand würde auf die Idee kommen, mich hier zu suchen. Ehe ich meine Gedanken zu Ende denken
konnte, erschien ein riesiger Regenbogen vor uns. Das Leuchten war so stark, dass sich die Wellen des Meeres in dessen Farben widerspiegelten. Nach links hin bestand er nur aus zwei Farben, violett und schwarz. Auf der rechten Seite hingegen versprühte der Bogen alle nur erdenklichen Farbtöne. Fine setzte das Boot wieder in Bewegung und wir glitten, wie durch ein riesiges Tor unter der Mitte hindurch. Das Licht verschwand abrupt und dunkle, violette Wolken verhingen den Himmel. Ich schaute zurück, doch der Regenbogen war ebenso verschwunden, wie die Stadtlichter, die ich vom Boot aus gesehen hatte.
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Fine hatte ihre Stimme immer noch nicht wiedergefunden und wir näherten uns mit jedem Ruderschlag der Küste. Mit jedem Schlag vergrößerte sich auch meine Panik. 'Hoffentlich hatten Yorick und meine Mum mein Verschwinden schon bemerkt und alles in die Wege geleitet, um mich ausfindig zu machen.' Von weitem waren gewaltige Baumkronen zu erkennen, die hoch in den Himmel hinauf ragten. In der fortschreitenden Dämmerung kam ein riesiger, roter Feuerball zum Vorschein. Er schien noch viel intensiver, als die australische Sonne vom Himmel zu stechen. So etwas Derartiges hatte ich noch
nie gesehen. "Wir werden gleich anlegen. Also mach dich schon mal bereit." "Vorher könntest du mich mal bitte aufklären, warum du zu meiner Kidnapperin geworden bist. Und die Zusatzinfo, wo wir uns denn gerade befinden, hätte ich auch ganz gerne." "Früher oder später wirst du es ohnehin erfahren. Also gedulde dich gefälligst !", nach dieser kurzen Konversation herrschte wieder Stillschweigen. "Aaab...", wollte ich ansetzten, verstummte aber, nachdem Fine und ihre gefährlichen Augen mir wieder näher gekommen waren. Ich wandte mich ab, indem ich mich über die Bootskante beugte und beobachtete, wie sich die Sonne im Wasser spiegelte.
Irgendetwas bewegte sich am Meeresgrund hin und her. Ich bückte mich noch tiefer hinunter, als mich eine Hand zurückriss. Es war Fine. "Spinnst du!?In Tarmania darfst du dich niemals so weit übers Wasser lehnen!" "Sorry, konnte ich doch nicht wissen. Und zur Übersetzung nochmal, was soll Tarmania sein? ",konterte ich und lehnte mich in die Bootsmitte zurück. "Tarmania ist die Stadt, die dich braucht. Quasi der Grund warum ich dich hierher gebracht habe", antwortete Fine. "Danke, dass du endlich zugibst, dass du mich entführt hast. Gibt es denn irgendeine Möglichkeit für mich, wieder nach Hause zu
kommen?" "Natürlich gibt es die und die wirst du auch bekommen, wenn wir dich hier nicht mehr brauchen", wurde ich angefaucht und gab es vorerst auf, weitere Informationen aus Fine zu quetschen. Das Ufer kam näher und der Wind frischte auf. Mir fiel ein, dass ich immer noch mein Nachthemd trug und hoffte, dass Fine etwas Wärmeres hatte, das ich mir anziehen konnte. Ich seufzte und erschrak. Eine bleiche Hand hatte sich an die Bootskante gekrallt. "Fffiine, was ist das?" Doch ehe meine Entführerin antworten konnte, erschien eine zweite Hand. Nach und nach kamen noch zwei Arme hinzu und schließlich blickte ich in
das Gesicht einer jungen Frau. Ihre Haare waren mit tausenden Perlen bestickt, die um die Wette glitzerten. Sie hatte die gleiche Augenfarbe wie Fine, was mich noch unruhiger machte. "Hallo, Candice", zischte sie und offenbarte eine Reihe spitzer Zähne. Das Wasser platschte und hinter ihrem Kopf kam eine riesige Schwanzflosse zum Vorschein. Doch keine gewöhnliche, wie ich feststellte. Von der Gabelung zweigten jeweils krebsartige Scheren ab. Sie ließ ihre Flosse ins Wasser fallen und die vielen Wassertropfen durchnässten mein Haar und mein dünnes Kleid. "Königin Parry heißt dich herzlich willkommen." Ein helles Lachen drang aus
ihrer Kehle und mit einer kunstvollen Umdrehung schwamm sie in den Tiefen des Meeres davon. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und begann heftig zu zittern. Was wollte dieses fremdartige Wesen von mir und wie hatte es von meiner Ankunft erfahren? Alles kam mir wie ein böser Alptraum vor. "Die da", Fine zeigte an die Stelle, wo vor wenigen Minuten noch die Nixe oder Elfe, ich konnte nicht genau sagen, was es war, gesprochen hatte. "Sind harmlos, solange du tust, was sie dir sagen." "Das beruhigt mich jetzt ungemein", entgegnete ich und erntete einen vernichtenden Blick. Womöglich gab es hier noch viel gefährlichere Kreaturen, doch das
wollte ich mir im Moment nicht ausmalen. Der dunkle Sand tauchte vor unserer Nase auf und Fine brachte das Boot gekonnt zum Stehen. Sie löste meine Fesseln und watete mit mir aus dem kalten Wasser. Ich schlang mir die Arme um den Oberkörper, denn trotz des riesigen Feuerballs war es hier nicht annähernd so warm, wie in meiner Heimat. *** Aus dem dichten Gestrüpp tauchten zwei Pferdeköpfe auf. Auf ihren gesamten Körpern befanden sich Schuppen, die mich wieder an die unangenehme Begegnung von vorhin erinnerten. Im Sattel eines der Tiere saß ein Mann. Er kam direkt auf uns zugeritten und zeigte ein übertriebenes
Grinsen. 'Gespielter geht es nicht', ging mir durch den Kopf und ich fragte mich, ob es auch nette Wesen in Tarmania gab. "Guten Morgen ihr zwei. Angenehme Reise gehabt?", fragte der Reiter und rückte seine schwarze Nerd Brille zurecht. Ein Sonnenstrahl traf auf sein Gesicht und ich konnte seine unreine Haut und eine große Knollennase erkennen. Was wollte der von uns? "Du brauchst erst gar nicht versuchen nett zu sein, Delian. Meinen Auftrag habe ich erfüllt. Sie ist hier", Fine guckte zu mir und dann wieder zu Delian. "Dann lass' uns keine Zeit verlieren. Spätestens in vier Tagen müssen wir den
Stadtrand von Deloraine erreichen. Je schneller wir den Wald von Beaumaris durchqueren, desto besser." "O.K. Ich habe jetzt lange genug meinen Mund gehalten. Was immer ihr vorhabt, lasst mich aus dem Spiel!" "Oh, da scheint ja jemand äußerst schlechte Laune zu haben", die Brillenschlange grinste mich hämisch an. "Ich will jetzt hier weg und zwar sofort! Ich werde die Sache auch ganz diskret behandeln und kein Sterbenswörtchen sagen. Vergessen wir den Vorfall. Ihr braucht nicht zu streiten und ich habe meine Ruhe", versuchte ich zu verhandeln. Ohne Erfolg, denn neben beiden Fußfesseln, wurden jetzt auch meine Handgelenke
verknotet. "Hier!", dieser Delian warf einen Lederrucksack in unsere Richtung, der sein Ziel etwas verfehlte und im feuchten Gras landete. "Hilf ihr beim Umziehen und dann reiten wir los!" Der Mann war mir irgendwie unsympathisch. Fine zerrte mich mit sich und wir verkrochen uns im Gebüsch. Umständlich stülpte sie mir eine weiße Bluse mit riesigen Trompetenärmeln über, die dank meiner Handfesseln schlaff an mir herunterhingen. "Eine kurze Zwischenfrage hätte ich noch", setzte ich an und war erstaunt, nicht unterbrochen zu werden. "Ich weiß nicht, ob das nur ein Traum war, aber ich habe gestern
eine Art Schlangentattoo auf meinem Rücken entdeckt. Gehört das zu dieser verrückten Sache dazu und hast du auch so ein Ding?" "Ja, habe ich. Aber jetzt ist Schluss! Du stellst zu viele Fragen." "Immer dieselben Ausreden", ehe ich fortfahren konnte, packte mich Fine am Arm und hielt mich so lange fest, bis mir vor Schmerz Tränen in die Augen stiegen. Ich biss die Zähne zusammen und musste mir eingestehen, dass ich nicht mehr aus ihr heraus bekommen würde. Der Griff lockerte sich. Die Fußfesseln löste sie kurz und ich bekam zusätzlich eine dunkelblaue Reiterhose und schwarze Stiefel angezogen. Ich fühlte mich wie auf einem kitschigen Kostümball.
"Das hätten wir auch leichter haben können", sagte ich und nickte in Richtung meiner zusammengebundenen Gelenke. Natürlich bekam ich keine Antwort und wurde wieder aus dem Gestrüpp geschleift. "Du wirst zusammen mit Candice auf Philine reiten, die ist nicht so anspruchsvoll", Delian reichte Fine die Zügel und schwang sich selbst in den Sattel. *** Er legte ein strenges Tempo vor, mit dem wir alle Mühe hatten mitzukommen. Die Pfade des dunklen Waldes waren sehr uneben und immer wieder mussten Fine und Delian an steilen Erhebungen und felsigen Abhängen absteigen. Eine Möglichkeit zur Flucht ergab
sich für mich jedoch nicht. Mittlerweile suchte bestimmt eine ganze Polizeihorde vergeblich nach mir. Denn sie würden garantiert keinen Regenbogen finden, durch den sie nach Tarmania gelangen konnten. Diese Tatsache trieb mir die Tränen in die Augen. In der Satteltasche, die am Pferd befestigt war, befanden sich eine Wasserflasche und ein paar Äpfel. Wie mit einer Babyflasche wurde ich mit Wasser versorgt, das ich gierig meinen vertrockneten Rachen herunterlaufen ließ. Wir ritten den ganzen Tag durch, denn der Himmel wurde allmählich dunkler. Einige Male hatte Fine fast den Anschluss verloren, doch Philine schien zu spüren, auf welchem Weg ihr Gefährte voranritt. Keuchend und völlig
außer Atem kamen wir in der Abenddämmerung auf einer kleinen Lichtung zum Stehen. Ich konnte meine Beine kaum spüren, die von den Seilen stundenlang abgeschnürt worden waren. "Für die Nacht schlagen wir hier unser Lager auf", sagte Delian. Mit einem spitzen Messer schnitt er einige Zweige der umliegenden Bäume ab. Währenddessen wurde ich an einen dicken Baumstamm gekettet und wieder einmal hatte ich keine Chance davonzukommen. Eine Flucht wäre sowieso aussichtslos, da ich keinen Plan hatte, aus Tarmania hinauszugelangen. Fine entzündete zwischen ihren Händen ein kleines Feuer und ich bemerkte panisch, dass ihre Augen wieder leuchteten. Ein
würziger Geruch wehte vom Feuer her und erinnerte meinen Magen daran, dass er dringend eine Stärkung brauchte. Sie köchelte eine Wildkräutersuppe mit Gänseblümchen, die besser schmeckte, als sie im Kochtopf ausgesehen hatte. Delian band zwei Strohmatten von seinem schwarzen Hengst los und verteilte sie um die Kochstelle. "Ihr beiden", er deutete auf Fine und mich. "Werdet jetzt eine Schlafpause einlegen, während ich hier Wache halte. Achja Candice, du bleibst natürlich an deinem Platz." 'Toll, wie sollte ich in dieser unbequemen Lage auch nur eine Minute schlafen können?'
Nach einer gefühlten Ewigkeit, überkam mich endlich ein Hauch von Müdigkeit. Die viele frische Luft hatte daran einen nicht ganz unbedeutenden Anteil gehabt. Ich musste wirklich weggenickt sein, denn plötzlich drangen energische Stimmen zu mir. "Ich hoffe, du hast ihr nicht zu viel erzählt und dich an Parry's Anweisungen gehalten. Das Ganze hat sowieso schon viel zu lange gedauert!", Delians eisige Stimme durchschnitt die Abendluft wie die silberne Klinge seines Messers. "In der Menschenwelt muss man vorsichtig sein. Das habe ich gelernt und mich daran gehalten. Sie ist schließlich hier!", zischte Fine und wedelte heftig mit ihren bleichen
Armen. 'Delian und Fine hatten also einen Auftraggeber. Meine Situation wurde ja immer besser.' Mein Arm begann unpassender Weise wie verrückt zu kribbeln. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Körper so verrenkt, war, sodass ich mit den Fingerspitzen fast den Boden erreichen konnte. Im Schein des immer noch lodernden Feuers erkannte ich einen spitzen Stein in der Nähe des Baumes. 'Jetzt oder nie!', dachte ich euphorisch und streckte meine Glieder soweit aus, bis meine Fingerkuppen etwas raues und hartes spürten. Mit einer leichten Krümmung konnte ich den Stein zu mir heranziehen und ihn in meine Hand balancieren. Ungeschickt, wie ich
war glitt mir mein Rettungsring gleich wieder aus den Händen und krachte scheppernd gegen den Kochtopf, der unweit von mir entfernt stand. "Was wird das hier?", Delian hatte meinen Fluchtversuch bemerkt und bückte sich über mich. Dabei kam er mir so nahe, dass ich den holzigen Duft seiner Kleidung und das tiefe Schwarz seiner Augen sehen konnte. Ein Schaudern überlief mich und ich senkte den Blick. Mit einem kräftigen Ruck zog er an meiner Fessel. Ich lehnte meinen Kopf erschöpft zurück und versuchte erneut einzuschlafen. *** "Aufstehen, du Schlafmütze!", Fine rüttelte an meiner Schulter und riss mich unsanft aus
dem Schlaf. "Wir wollen aufbrechen!", rief Delian und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Wenige Minuten später waren wir wieder unterwegs. Überall erstreckte sich der erbarmungslose Wald, ein Ende kam nicht in Sicht. Wir waren schon einige Kilometer geritten, als sich Philine plötzlich aufbäumte. Ich guckte mich um, konnte zuerst jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen. "Verdammte Scheiße!", fluchte Delian und ich folgte seinem Blick nach oben. Mehrere Fußpaare schwangen sich aus den Höhen der Bäume und landeten direkt vor uns. Die Haut der Gestalten hatte eine baumrindenartige Struktur, auf denen sich Blättermuster in alle erdenklichen Richtungen
ausbreiteten. Das Unheimlichste waren ihre Augen. Ein Nichts aus Weiß. Mein erster Impuls war zu fliehen, aber das konnte ich in meiner Lage vergessen. Eine knisternde Anspannung lag in der Luft, die im nächsten Augenblick zu platzten drohte. Eines der Waldwesen offenbarte einen spitzen Dolch hinter seinem Rücken und stürzte sich auf Delian. "Wir müssen hier weg! Los, beeilt euch!", schrie letzterer uns an, wich dem Angreifer aus und stach ihm seine blanke Messerspitze ins Herz. Der Anblick des dickflüssigen Blutes, welches mich an Baumharz erinnerte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. In was waren wir da bloß hineingeraten? Eine weitere, noch beängstigendere Frage, kam in
mir auf: "Würde ich das hier überstehen?"
Aus den Augenwinkeln sah ich immer mehr dieser Wesen auf uns zukommen. Als ein Pfeil dicht an meinem Kopf vorbeischoss, versuchte ich auszuweichen, verlor dabei das Gleichgewicht und krachte auf den Waldboden. Aus der Froschperspektive guckte ich mich um. Delian war mittlerweile in einen grausamen Kampf verwickelt und Fine hatte nur einen Gedanken gehabt, sich selbst zu retten. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ich nicht mehr mit ihr auf dem Pferd saß. Hinter einer großen Staubwolke war sie verschwunden. Nur noch einzelne Blätter, die auf den Sandboden gefallen waren, zeugten von ihrer
Flucht. Ich spürte, wie sich die etlichen Augenpaare auf mich richteten. Delian schrie auf und rammte einer weiteren Person das Messer ins Herz. Anschließend versuchte er, einer anderen Gestalt, dessen Haupt ein großer Hut zierte, zu entkommen. Ich spürte einen Ruck hinter mir, als sich etwas in meinen Kragen krallte. Ein spitzer Schrei entfuhr meiner Kehle. Ehe dieser sich ausbreiten konnte, hatte sich eine warme Hand auf meinen Mund gelegt. Verzweifelt versuchte ich mich aus dem Griff zu befreien und zappelte wie ein Fisch, der sich unverdrossen bemühte, vom Land wieder in das Wasser zurückzugelangen. Ich wurde weggeschleift und die vielen Äste der
Bäume verhedderten sich unsanft in meinen roten Haaren. "Ich seh' bestimmt aus wie ein Strauchdieb", dachte ich bitter und mit einem letzten Anblick auf Delian, konnte ich dessen erneuten Angriff auf die Meute nur noch als Geräusch wahrnehmen. "Wir müssen leise sein", ertönte eine weiche Stimme neben mir. Meine Kidnapperin war also eine Frau, genauer genommen ein junges Mädchen, was ich auf höchstens 17 Jahre schätzte. "Wer oder was bist du?", fragte ich entsetzt. "Ein Baumwesen", wurde mir geantwortet. Jaja, ein Baumwesen. Es konnte gar nicht mehr schlimmer kommen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, biss
mir auf die Lippen, denn mein Instinkt sagte mir, dass von ihr keine Gefahr ausging. In einer schwungvollen Bewegung wollte ich mich den nächst gelegenen Abhang hinunterrollen. Das Mädchen durschaute mein Vorhaben und hielt mich zurück. Dabei flüsterte sie mir ins Ohr: "Du brauchst keine Angst haben, ich will dir nur helfen." Gleichzeitig schnitt sie meine Fesseln mit einem scharfen Messer durch. Da die Aussicht weiterhin mit Delian und Fine durch den Wald zu jagen keineswegs besser war, gab ich mich vorerst geschlagen. Widerstandslos ließ ich mich abführen und war mit jedem Schritt mehr erleichtert, mit dem wir die kämpfende Menge hinter uns gelassen hatten. So viel Brutalität und
Kaltblütigkeit war mir bisher nur in Filmen begegnet. *** Das dunkle Dickicht der Bäume lichtete sich und einige Holzhütten kamen in Sicht. Das Ganze erinnerte mich irgendwie an eines der Dörfer aus der Kolonialzeit. Damals hatten sich die Ureinwohner dem britischen Königreich unterzuordnen und lebten ebenfalls in solchen Unterkünften. Wir steuerten auf ein Haus, das sich hinter meterhohen Wiesenmargeriten versteckte, zu. Als wir das Blütenmeer passierten, kam ein Bauerngarten zum Vorschein. Meine Mutter hätte sich hier sicher wohlgefühlt. Überall grünte und blühte es. Die Luft war vollgesogen von unterschiedlichsten
Kräuterdüften wie Katzenminze, Petersilie und Salbei. Die blaue Haustür des Reetdachhauses öffnete sich und ein kleines Mädchen lächelte uns freundlich entgegen. Sie hielt ein braunes Häschen im Arm, das gierig an einer Karotte knabberte. Mir wurde warm ums Herz und ich hoffte, dass ich diesmal bei netteren Menschen gelandet war. Die Kleine ähnelte mit ihrem schwarzen, langen Haar, den dunkelbraunen Augen und den Schmetterlingswimpern meiner Begleiterin. Vielleicht handelte es sich um Schwestern. "Shanti, da bist du ja endlich, wir haben uns schon Sorgen gemacht", kam es aus dem Haus und eine mittelalte Frau erschien im Türrahmen.
Meine Schritte gerieten ein bisschen ins Stocken, als ich die weißen Augen der Frau erkannte. "Schnell, kommt bitte in das Haus!", rief die Frau und guckte unsicher nach links und nach rechts. Wir betraten einen dunklen Flur, in dem nur eine einzige Gaslampe für Beleuchtung sorgte. Wie die Haut dieser Leute, schien auch hier drinnen alles aus Holz zu bestehen. Am Ende des Ganges war ein heller Lichtstrahl zu erkennen, auf den wir uns zu bewegten. In dem kleinen Wohnzimmer prasselte das Feuer eines Kamins. An der hinteren Wand hingen unzählige Bilder, die alle möglichen Landschaften zierten. In der
Mitte stand ein großer Wandschrank, der reich verzierte Teller beherbergte. Davor hatte es sich ein Huhn auf dem Fliesenboden gemütlich gemacht und pickte nach Brotkrümeln, die seine Besitzer während des Essen fallen gelassen hatten. Shanti geleitete mich auf einen schmalen Holzstuhl. "Entschuldigung für mein ruppiges Verhalten, aber irgendwie mussten wir dich aus den Fängen dieser Bleichgesichter befreien. Ich bin übrigens Shanti", sie reichte mir ihre zierliche Hand und ich war erstaunt, dass ich keine Rinde, sondern ganz normale Haut fühlte. "Auch wenn wir aussehen, wie Bäume, so sind wir jedoch keine", sagte sie und ich fing
an zu lachen. Die ganzen Ereignisse und merkwürdigen Dinge schienen alle auf einmal auf mich einzuprasseln. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, stellte auch ich mich vor. Unnötigerweise, denn auch hier wusste jeder meinen Namen. "Candice, du gehörst den Schattenschwingen an. Ein mächtiger Stamm, der den Urvölkern unseres Landes angehört", versuchte sie mir zu erklären. Aus dem Flur waren Schritte auf dem Holzboden zu hören und einer der Krieger aus dem Wald erschien. Meine Muskeln spannten sich an, als ich den schwarzen Hut mit der großen Krempe wiedererkannte. "Ich bin Aramis, Anführer der Beaumaris.
Shanti ist meine Schwester." Der Name schien zu passen, denn er erinnerte mich an eines der drei Musketiere mit demselben Namen. Aramis nahm den Hut ab und offenbarte spitze Elfenohren. Langsam überraschte mich hier gar nichts mehr. Er fuhr sich mit der Zunge über seinen Oberlippenbart und begann zu erzählen: "Candice Ferii. Tarmania wartet seit Jahren auf dich. Leider war Königin Parry uns allen einen Schritt voraus und hat ihre Tochter Fine geschickt, um dich zu holen." "Stopp, Stopp! Bitte nicht so schnell. Da ich bisher nie eine Antwort auf meine Fragen bekommen habe, möchte ich jetzt etwas Licht ins Dunkel
bringen." Aramis seufzte: "O.K., was möchtest du wissen?" In meinem Kopf bereitete ich einen Fragenkatalog vor, dem sich dieser Aramis wohl oder übel stellen musste. "Warum bin ich hier und aus welchem Grund hat Fine mich entführt?" "Fine arbeitet im Auftrag von Königin Parry, sie versucht seit Jahren die Herrschaft über Tarmania an sich zu reißen. Du musst wissen, in Tarmania wird bald ein Krieg ausbrechen. Bisher konnte man das Schlimmste verhindern. Jedoch wird es nicht mehr lange dauern, bis sich Königin Parry und ihr Gegner König Kamran gegenseitig den Kopf einschlagen werden."
"Was habe ich mit der ganzen Sache zu tun?", fuhr ich fort. "Als Schattenschwinge bist du eine der wenigen, die dem ein Ende setzten kann. Beide wollen dich auf ihrer Seite und Parry war mal wieder die Schnellere." "Moment, Sie reden die ganze Zeit von einer Schattenschwinge. Was soll das genau sein?" "Eine Schattenschwinge ist eine Schlangenart. Natürlich bist du keine, aber du gehörst dem Stamm an, der von einer Schattenschwinge repräsentiert wird. Legenden zu Folge eine der mächtigsten Schlangenarten in unserem Reich." Langsam begann ich einige Zusammenhänge zu sehen. "Und als Kennzeichen, dass ich so eine bin, trage ich
ein Schlangentattoo, welches einfach so aus dem Nichts auf meinem Rücken auftauchte und wäre das nicht genug, so leuchten meine Augen auch noch türkis?" Die Spur eines Lächelns erschien auf dem Gesicht meines Gegenübers, dem sich ein zustimmendes Nicken anschloss. "Es muss schwer für dich sein, all diese fremdartigen Dinge zu verstehen. In der Tat, dass Tattoo steht dafür, dass du als Schattenschwinge gezeichnet wurdest und deine Augenfarbe steht für die Schuppenfarbe dieser Schlange." "Wo liegt Tarmania überhaupt und wann kann ich wieder nach Hause?" Diese Frage hatte ich mir bis zum Schluss aufbewahrt, da ich die Antwort am meisten
fürchtete. "Was ich sagen kann ist, dass Tarmania nicht in der Menschenwelt liegt. Durch ein Portal, das als Regenbogen über dem Ozean erscheint, gelangt man in unser Reich. Wie man wieder hinauskommt, wissen nur Königin Parry und die weisen Hexen, zu denen wir dich bringen wollen. Sie werden einen Weg für dich finden." Ich hoffte inständig, dass sie sich dafür nicht zu lange Zeit ließen. Natürlich konnten mir diese Wesen genauso gut eine Lügengeschichte vorspinnen, aber ich glaubte ihnen vorerst, um mich nicht noch verrückter zu machen. Ich nickte und zupfte an der mit Blättern bestickten Tischdecke. "Die Erzählstunde ist nun zu Ende. Ihr habt
sicherlich einen Bärenhunger." Die Frau war zurückgekommen und trug einen kupferfarbenen Kessel auf dem Arm. Ihr gefolgt war ein Junge, der Shanti ebenfalls sehr ähnlich sah. Nur die lange Nase und die buschigen Augenbrauen unterschieden ihn von ihr. Ich genoss das leckere Essen aus Rotbarbe mit gebratenem Spargel und fühlte mich in der familiären Atmosphäre fast wie zu Hause. Am Abend wurde mir mein Zimmer gezeigt, das ich mit Shanti und ihrer kleinen Schwester, deren Name Femke war, teilte. Vor dem Zubettgehen trat ich vor einen großen Standspiegel und begutachtete noch einmal die Schattenschwinge auf meinem Rücken, die sich bisher nicht mehr bewegt
hatte. Im schwachen Licht untersuchte ich fasziniert das grelle Leuchten meiner Augen, welches direkt aus der Iris zu kommen schien. In einem bequemen Messingbett fand ich einen erholsamen Schlaf und erwachte mit neuen Kräften am darauf folgenden Morgen. *** Zusammen mit Shantis vielen Geschwistern gönnte ich mir einen süßen Reiskuchen. "Endlich mal wieder etwas Ordentliches zu essen", stellte ich fest. Ich erfuhr, dass der ganze Stamm der Waldwesen vor vielen hundert Jahren verflucht wurde. Ja verflucht, Hexerei war hier also auch noch im Spiel. Jedes Volk hatte verschiedene Eigenschaften
und Fähigkeiten. Die Beaumaris (der Name der Waldwesen), konnten sich auf Grund ihrer Haut besonders gut tarnen und waren Meister im Bogenschießen. Eine verfeindete Hexe nahm jedem, der die 20 Jahre überschritt, seine Augenfarbe. Ich bekam Mitleid mit diesen Leuten und gleichzeitig Angst, was in dieser Welt noch alles passieren konnte. "Shanti wird dich heute in die Kunst des Pfeil-und Bogenschießens einweisen", erklärte Aramis mir und fasste sich an seinen goldenen Kreuzanhänger, der an einer langen Kette um seinen Hals hing. "Bogenschießen?", wiederholte ich verwirrt, "wozu soll das gut sein?" "Zu deiner Verteidigung. Glaub mir, es ist das
Beste für deine Sicherheit, wenn du dich selbst zur Wehr setzten kannst", versicherte Aramis mir. *** Mit vollem Magen überquerten Shanti und ich anschließend eine Veranda, mit der Aussicht auf die wunderschöne Landschaft, die das kleine Dorf einschloss. Die engstehenden Bäume waren grünen Feldern gewichen und ich konnte die Bauern auf ihren Feldern arbeiten sehen. Ich kletterte hinter meiner Lehrerin über einen Eisenzaun, der von einem Blauregen umwachsen war. Der Duft der Blüten verbreitete sich in der aufgehenden Sonne wie ein Parfüm. Die Kälte von gestern war nicht mehr zu spüren. Aus einem Baumloch holte Shanti zwei Bogen,
Pfeile und einen Köcher hervor. "Dann wollen wir mal. Schließlich sollst du dich hier auch verteidigen können", sie warf mir einen hellbraunen Holzbogen zu und ich sah, wie ihr Blättermuster auf der dunklen Haut golden schimmerte. Zusammen machten wir uns wieder auf den Weg Richtung Wald. An den dicksten Bäumen waren Zielscheiben angebracht. Shanti zeigte mir, wie ich den Pfeil, den unzählige Federn schmückten, richtig auf die Auflage legte. Für meine rechte Hand bekam ich einen Leinenhandschuh. Probehalber musste ich den Bogen einige Male anspannen, ehe die Sehne stramm genug war. Bei meinen ersten Versuchen verfehlte ich das Ziel deutlich. Leicht gedemütigt
trottete ich zu den Scheiben zurück und sammelte die verschossenen Pfeile wieder ein. "Nichts klappt beim ersten Mal", ermunterte mich Shanti und nickte mir zu. Ich schoss Pfeil um Pfeil, bis ich ein Gefühl für die neue Waffe hatte. Ein paar wenige schafften es, die Zielscheibe zu durchbohren. Zum Abend hin begann mein Arm heftig zu brennen. Morgen würde ich wohl mit Muskelkater aufwachen, aber dafür war ich jetzt im Anfangsstadium zur Kriegerin. *** In der untergehenden Sonne traten wir den Heimweg an. Ich spürte den Blick der vielen Dorfbewohner auf mir, die mich mit ihren weißen Augen stumm anstarrten. Manchmal
wehte sogar ein Flüstern zu uns herüber und ich hörte wie mein Name gesprochen wurde. "Hoffe, ihr wart erfolgreich", zwinkerte mir Aramis zu. Unter seinen Augen waren, trotz seines jungen Alters tiefe Falten zu sehen. Ich hatte im Wohnzimmer Platz genommen und kämpfte in einer Partie Mühle gegen die unschlagbare Femke. Shanti und Aramis waren noch einmal ins Dorf aufgebrochen, den Grund wusste ich nicht. Shantis Zwillingsbruder Jaron half seiner Mutter in der Küche. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er der Einzige war, der meine Anwesenheit als unangenehm empfand. Ich setze gerade einen meiner Mühlensteine auf das Brett, als die Schlange, die die ganze Zeit über so gut wie ruhig geblieben war,
kräftig in meine Haut stach. Vor Schmerz krümmte sich mein Körper zusammen und Femke ließ erschrocken einen der Spielsteine auf die Fliesen fallen. Vor unserem Fenster waren aufgewühlte Stimmen zu hören und von der Ferne hallte Hufgeklapper zu uns herüber. Die Tür wurde aufgerissen und Aramis stolperte hinein. "Sie sind hier. Wir müssen sofort verschwinden!" "Wie konnten mich Fine und Delian so schnell wiederfinden?", sagte ich laut in die Stube hinein. "Nicht die beiden. Die Gefolgsleute von König Kamran sind auf dem Weg hierher." Er griff mir an den Arm und zog mich nach draußen.
Aramis brachte mich durch die Hintertür des Holzhauses. Wir huschten über einen Sandplatz. Die Umgebung um den Wald veränderte sich, wechselte von Wiesen und Bäumen zu einer Art Tundra. Das Gelände fiel leicht ab und erste Felsvorsprünge ragten aus dem Boden empor. Shanti hatte sich hinter einem großen Exemplar versteckt und winkte uns zu sich heran. Der Lärm im Dorf hatte zugenommen und die Menschen eilten hin und her, um rechtzeitig in den Schutz ihrer Häuser zu gelangen. Aramis ließ meinen Arm los und ich spürte, wie sich die zusammengezogenen Adern wieder weiteten. Ein Blick aus der kleinen
Höhle zeigte mir eine Reitertruppe von zehn Mann, denn die Bäume standen nicht dicht genug und wir hatten freie Sicht. "Willst du, dass sie dich sehen?", fuhr mich Aramis an und die Falten um seine Augen verengten sich. Shanti hatte sich auf dem Boden zusammengekauert und rupfte ein paar Blüten einer mir unbekannten Pflanze, die anscheinend so wenig Licht benötigte, dass sie hier in vollen Zügen gedieh. Die Dunkelheit hinter mir erstreckte sich in weiter Tiefe und schien endlos zu sein. Am Dorfrande, das uns zugewandt war, stieg eine mächtige Gestalt von seinem Ross. "Das ist Marold", flüsterte Aramis ehrfurchtsvoll neben mir. "Begleiter von Prinz
Chauhan." "Doch neugierig geworden?", ich versuchte die angespannte Stimmung vergeblich aufzuheitern. Dieser Marold ging auf eine der Hütten zu. Er hob seinen Säbel und das Reflektieren eines goldenen Edelsteins strahlte herüber. "Aufmachen! Befehl des Königs!", schrie er voller Inbrunst. Ich hielt den Atem an. Ein kleines Mädchen hatte die Tür geöffnet und wurde nun unsanft zur Seite gestoßen. Marold verschwand für wenige Sekunden im Haus und kam mit wütenden Schritten wieder auf den Dorfplatz marschiert. "Verlogenes Volk! Ihr wisst genau weshalb wir gekommen sind und nach welchem Mädchen
wir suchen!" ,fast außer sich, griff Marold nach einem einfachen Bauernjungen. Dabei blitzte sein Säbel gefährlich nahe am Kinn des völlig Verängstigten auf. Panik stieg in mir auf und ich musste schwer schlucken. Der Grund für ihren Besuch war ich, sie wollten mich haben! Ehe die Szene noch dramatischer wurde, schritt ein Reiter einige Meter von Marold entfernt ein."Lass' gut sein, wir verschwenden nur unsere Zeit." Leider konnte ich nicht viel erkennen, nur das Spiegeln von Glas, das vor seiner Brust baumelte. Die Gestalt trat näher heran. Der Mann hob seinen Kopf und schaute direkt zu uns herüber. In mir spannten sich sämtliche Nerven an und ich rutschte Stück für Stück an
der Felswand entlang, bis ich nicht mehr zu sehen war. Er hatte mich direkt angeguckt. Was sollten wir jetzt bloß machen? Ich biss mir auf die Lippe und schaute in das ebenso verschreckte und ratlose Gesicht von Aramis. "Aber Eure Hoheit Prinz Chauhan...", wollte Marold erwidern. "Du hast dich mir nicht zu widersetzten! Kommt Leute wir gehen!" Noch einmal waren die Geräusche der Reiter zu hören, ehe komplette Stille zu uns drang. Das Adrenalin war meinem Körper entwichen und ich saß zusammengesackt neben Shanti am Boden. Auf leisen Füßen schlichen wir wenig später wieder zum Rest der Familie zurück. Die kleine Femke schloss mich in einer engen
Umarmung ein: "Sie haben dich nicht gekriegt. Ich hatte solche Angst um dich, Candice!" Ich wuschelte ihr durch die dunklen Haare. Langsam begannen die Zweifel, die ich bisher gegenüber den Baumwesen gehegt hatte, zu schrumpfen. Diese unbekannte Welt schien gefährlich zu sein und ich war für den Moment froh, ein klein wenig Sicherheit bei diesen Leuten gefunden zu haben. Gegen Mitternacht versuchte ich dennoch verzweifelt Schlaf zu finden. Ich war hellwach und hörte die ruhigen Atemzüge meiner Zimmernachbarinnen. 'Wieso hatte uns dieser Prinz nicht verraten? Er hatte uns doch genau
gesehen.' *** Am nächsten Morgen tappte ich verschlafen die Treppe hinunter. Aus dem Wohnzimmer waren Stimmen zu hören. Ich folgte ihnen und sah eine Frau an dem Holztisch sitzen. Weiße Augen bohrten sich in meinen Blick. Ich wechselte von einem Fuß auf den anderen und konnte mir die aufkommende Nervosität nicht erklären. "Guten Morgen, Candice", sprach sie mich mit einer rauen Stimme an, die von hohem Alter zeugte. Ein weiteres Indiz dafür war das verwelkte Blattmuster auf ihrer Haut. Shanti hatte mir erklärt, je älter ein Baumwesen wurde, desto mehr trocknete die rindenartige Haut
aus. "Setz dich zu mir!", forderte die Alte mich auf und ich tat wie geheißen. Sie strich sich ihr seidenes Tuchgewand, das von einer prunkvollen Brosche zusammengehalten wurde, zurecht. "Hallo", brachte ich hervor. "Du brauchst dich nicht zu fürchten, meine Liebe", sie fing an zu lachen. Sie stellte sich als Amelia vor und wir unterhielten uns lange über die Situation in Tarmania. Amelia erzählte von einem weisen Hexenzirkel, der in den Schwarzen Bergen lebte. "Vor vielen hundert Jahren herrschte ein Hexenzirkel gemeinsam über unser Land. Dieser bestand aus zwölf Mitgliedern der
Urfamilie Lutriwita, der mächtigste Verband dieser Zeit. Zwischen den Bewohnern bestand ein Gefühl von Einheit und Frieden. Die Macht der Zwölf reichte zwei der Geschwister, mit Namen Parry und Kamran, nicht. Sie begannen nach alleiniger Herrschaft zu streben. Beide gelangten in den Besitz der Unsterblichkeit, wie genau haben sie nie verraten. Doch auch zwischen den beiden entstand eine tiefe Feindschaft und Parry sorgte mit einem dunklen Zauber für die Spaltung der Geschwister, des Reiches und des Volkes. Inzwischen gibt es in Tarmania zwölf verschiedene Gruppierungen, dem jeweils eine weise Hexe oder ein Hexer vorsteht. Gleichzeitig wurde jeder Gemeinschaft zur Unterscheidung eine
Schlange und verschiedene Gaben zugeordnet. Parrys Intrigen haben dazu geführt, dass Tarmania kurz vor dem Ausbruch eines Krieges steht." Gebannt war ich ihrer Erzählung gefolgt, die mir immer noch so unwirklich erschien, als wäre sie einem Märchenbuch entsprungen. Den Zusammenhang zu mir konnte ich mir aber immer noch nicht erklären. "Warum bin ausgerechnet ich als Schattenschwinge gezeichnet worden und wieso kann nur diese Art den Krieg verhindern?" Die alte Frau faltete ihre schmalen Hände übereinander, ehe sie antwortete: "Ich vermute, dass irgendwo in deinem Stammbaum eine Verbindung zu dem
Hexenzirkel besteht. Diese muss sich über Generationen weitervererbt haben und ist durch die äußerste Not unseres Landes in Kraft getreten." "Hätte also vor 20 Jahren ein Kriegsausbruch bevor gestanden, so wäre ein Elternteil von mir an meiner Stelle hier gelandet. Habe ich das richtig verstanden", hakte ich nach. Amelia nickte müde. "Die Schattenschwingen verfügen über eine ungemeine Kraft und nur sie sind in der Lage, den Zauberspruch für die Unsterblichkeit von Königin Parry und König Kamran aufzuheben. Der Hexenzirkel muss seine Vollständigkeit erlangen und einen Part davon wirst du einnehmen." "Aber wie lange wird das dauern? Irgendwann möchte ich wieder nach Hause
und woher wissen diese Hexen überhaupt, dass ich in der Lage bin, ihnen zu helfen?" "Natürlich werden sie einrichten, dich wieder Heim zu schicken. Und um auf den zweiten Punkt deiner Frage zu kommen, kann ich nur sagen, dass es die Bestimmung einer Schattenschwinge ist, den Fluch zu brechen." Bevor Amelia ging, gab sie mir noch Folgendes mit auf den Weg: "Die Urhexen werden all deine weiteren Fragen beantworten. Ich wünsche dir viel Erfolg." Ich war mit zur Tür gekommen und starrte noch einmal auf die glänzende Brosche. "Was ist das für ein Stein?", ich deutete auf den großen Diamanten, der in der Mitte befestigt war. Amelia gab ein tiefes Seufzen von sich: "Das
ist ein Amazonit, der Edelstein unserer Schlange. Siehst du den weißen Strich in der Mitte?", sie fuhr mit ihrem Fingernagel über eine kleine Einkerbung. "Ursprünglich war er von reinem Grün. Doch Königin Parrys Fluch hat sowohl in unseren Augen, als auch auf unserem Stein seine Handschrift hinterlassen." Ich nickte und rief mir das weiße Porzellan ins Gedächtnis, mit dem mich die meisten Waldwesen anstarrten. *** "Ihr werdet in die Schwarzen Berge aufbrechen", Aramis hatte eine Versammlung im Wohnzimmer einberufen. Die gesamte Familie hatte sich auf dem handgeknüpften Teppich, den edle Ornamente zierten,
niedergelassen. Mich eingeschlossen. "Candice, ich hoffe dir ist der Ernst der Lage bewusst. Du musst die alten Hexen schnellstmöglich aufsuchen." "Ich weiß." Mir graute es davor, wieder den dunklen Wald zu betreten, aber Shantis zuverlässiges Gesicht nahm mir einen Teil der Angst. "Natürlich werde ich dich begleiten", wisperte sie mir zu und grinste. Ich lächelte zurück und Erleichterung überkam mich. Wenigstens musste ich das Abenteuer nicht alleine antreten. "Als drittes wird Jaron mitkommen." Der Junge neben mir erstarrte und schaute mich eindringlich an. Dabei stützte er sein Kinn mit der linken Hand ab.
"Vergisst es!", brüllte er, sprang auf und knallte die Tür hinter sich zu. 'Was hatte ich ihm nur getan?' *** Aber am nächsten Morgen warteten beide zusammen auf mich. Drei bepackte Pferde standen bereit. "Es tut mir nochmals aufrichtig leid, dass ich euch nicht begleiten kann. Aber die Pflicht als Stammesanführer lässt dies nicht zu", verabschiedete sich Aramis von uns. "Das kann ich verstehen", schwermütig schaute ich ein letztes Mal in die Gesichter der Familie, die mich hier in dieser fremden Welt so freundlich aufgenommen hatte. Ich zog die Zügel stramm und zu dritt
galoppierten wir in Richtung der Schwarzen Berge davon.
EwSchrecklich Kann Eagle nur zustimmen, aber zum Glück ist es schon mehr ;) Die Geschichte hat mir gefallen. lg |
Julietta Danke für deinen Kommentar. Es freut mich, dass die Geschichte dir gefällt. Durch zahlreiche Verbesserungsvorschläge habe ich sie jetzt noch einmal komplett überarbeitet und versuche in der nächsten Zeit weitere Kapitel hochzuladen. P.S. Frohes neues Jahr und Lg Julietta ;)) |
EagleWriter Richtig gut ausgearbeitet, irgendwie sind 60 Seiten da viel zu wenig :-) lg E:W |
Julietta Re: Immer wieder schön.... - Zitat: (Original von Rainabas am 28.03.2013 - 18:29 Uhr) Wie ich sehe hast du dein Buch neu reingestellt und noch weitere Kapitel hinzugefügt.Die Welt die du geschaffen hast haut mich jedes mal um.Tolle Charaktere,eine bildlich Welt und Spannung. Bin schon auf das Ende gespannt lg vielen Dank für deinen zweiten Kommentar ;)) Freut mich,dass es dir gefällt. Lg Julietta |