Romane & Erzählungen
Icarus

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"Icarus"
Veröffentlicht am 12. Mai 2013, 10 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Icarus

Icarus

Icarus

Ich fliege.

Es ist so berauschend, dieses Gefühl, höher zu sein als der Rest der Welt. Ich bin höher als jedes Gebirge. Ich bin höher als je ein Mensch vor mir.

Höher, höher.

Ich schaue nach unten, doch es macht mir keine Angst, das Meer dort so tief unter mir zu sehen. Da sehe ich noch die Inseln, eine kleiner als die andere. Ich will wissen, ab welcher Höhe sie verschwinden. Was kommt nach den Wolken? Wie hoch muss ich fliegen, um die Götter zu sehen? Ich fliege höher. Komme den Wolken immer näher.

Unter mir ruft mein Vater irgendetwas. Doch ich höre nicht hin. Es ist doch sowieso mit Sicherheit wieder nur eine seiner übervorsichtigen Warnungen. Das ist etwas, was ich nie an ihm verstanden habe. Dass er immer übervorsichtig sein muss. Dass er nie Wagnisse eingeht. Dass er nie den Nervenkitzel eines Projekts spüren will, dass nicht dreißigtausendmal abgesichert wurde.

So ist es doch nicht verwunderlich, dass ich nicht auf ihn höre? Ich will ihm zeigen, dass ich gut ohne ihn und seine Warnungen klarkomme, dass ich erwachsen bin.

Und natürlich will ich sehen, was hinter den Wolken ist. Ich will wissen, wie der Sonnenwagen von Helios von Nahem aussieht. Wissen. Wissen. Wissen.

Vater hat mir beigebracht, dass ein guter Erfinder viel wissen muss. So kann mein Projekt doch nicht gegen seine Ideale verstoßen, oder?

Ich bin unsicher. Vater ist schon weit hinter mir zurückgefallen. Ich kann inzwischen nicht mehr hören, dass er mir seine Warnungen hinterherruft, doch wenn ich zurückblicke, sehe ich ihn winken. Er will, dass ich zurückkomme. Doch das ist jetzt eine einmalige Gelegenheit. Wenn wir landen werden, will er die Flügel unzugänglich machen. Dies ist die einzige Möglichkeit, zu fliegen. Außerdem ist es seit jeher mein größter Traum gewesen, einmal die Wolken von oben zu sehen. Ich wollte schon immer fliegen und habe mich schon als kleines Kind immer gefesselt gefühlt. Gefesselt und auf der Erde eingesperrt. Doch über mir ist der Himmel, die Wolken, die Sonne, die Freiheit.

Entschlossen steige ich weiter auf.

Und dann bin ich bei den Wolken angelangt. Ich tauche in sie ein und mich umgibt dichter Nebel. Ich kann nichts mehr sehen! Wo ist oben? Ich bin verloren in dem Nebel, flattere verzweifelt umher. Ich weiß nicht, wo oben und unten ist, ich bewege meine Flügel, doch ich weiß nicht, wohin ich fliege.

Und dann ist es plötzlich vorbei und ich kann wieder etwas sehen. Es ist unglaublich. Ich kann nicht mehr richtig denken, der Anblick verschlägt mir den Atem. Über mir ist der Himmel. Er ist so wolkenlos und hell wie am schönsten Sommertag auf Kreta. Weit oben strahlt die Sonne. Sie ist rund und hell und gelb. Und sie strahlt die Wolken zu meinen Füßen an. Die Wolken, die sich so unglaublich weit erstrecken, so weit wie ich sehen kann. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas Schöneres gesehen. Schon immer bin ich von den Wolken und dem Himmel fasziniert gewesen. Von den Göttern ist mir der Sonnengott Helios der liebste.

Nun endlich erfüllt sich mein Traum. Ich lasse meinen Gefühlen freien Lauf und stoße einen großen Freudenschrei aus. Ich lasse meinen Blick schweifen, versuche, die Größe und Schönheit dieses Ortes voll in mich aufzunehmen.

Irgendwo nördlich von mir sehe ich einen dunklen Wolkenturm, in dem die Blitze zucken. Dort  möchte ich nicht drin stecken. Das sieht furchtbar aufgewühlt aus und in den Winden würde ich abstürzen. Doch hier wo ich bin ist das Wetter klar und schön. Mein Blick wird zur Sonne gelenkt. Dort oben fährt Helios mit seinem Viergespann über den Himmel. Jetzt, nachdem ich die Wolkenhürde geschafft habe, kommt er mir nicht mehr so weit entfernt vor.

Dies ist meine einzige Gelegenheit, zu fliegen. Ich habe jetzt schon die Wolken von oben gesehen und das ist auch wunderschön, doch wo ich jetzt schon mal hier bin, kann ich doch auch noch höher fliegen. Mein Vater hat die Flügel aus gutem Material geschaffen, sie halten eine Menge aus. Ich werde mit Sicherheit auch noch weiter fliegen können. Also steige ich weiter auf.

Das Gold der Sonne zieht mich geradezu magisch an. Der glänzende Streitwagen von Helios fährt weiter und ich habe Angst, dass ich ihn verpasse und er schneller ist als ich. Also erhöhe ich mein Tempo nochmals, habe nur mein Ziel vor Augen. Helios ist mein großes Ziel, ich sehe, dass ich ihm näherkomme.

Ich spüre, dass es um mich herum wärmer wird und fasse es als gutes Zeichen auf. Je wärmer es wird, desto näher komme ich ihm.

Ich verschwende keinen Gedanken mehr an die Flügel. Ich habe Vertrauen in das Material und bin zu beschäftigt mit der Freude über mein Abenteuer, als dass ich mich noch um die Flügel kümmern könnte. Auch mein Vater und der ganze Rest der Welt verschwindet im hintersten Winkel meines Gehirns.

Mit meinem Durchbruch durch die Wolkendecke habe ich eine neue Welt betreten. Ich bin nicht mehr in der Welt der Irdischen. Ich bin im Gebiet der Götter. Und während ich fliege kommt mir der Gedanke, dass es sich so anfühlen muss, ein Gott zu sein. Wild und frei fliege ich Schleifen, lasse mich fallen, um mich wieder aufzufangen. Adrenalin jagt mir durch den Körper und ich liebe es. Ich will immer weiter so fliegen, immer höher, immer waghalsiger, nie wieder zurück auf die Erde.

Dann besinne ich mich, höre auf, zu spielen und fliege weiter der Sonne entgegen. Mein großes Ziel ist schon ganz nahe. Es wird immer heller. Ich kann nicht mehr direkt in das Licht des Sonnenwagens schauen, denn ich würde erblinden, wenn ich es doch täte. Eine Feder flattert hinter mir der Erde entgegen, dann zwei. Doch ich merke es nicht, bin nur auf mein Ziel fixiert. Weitere Federn flattern hinter mir in Richtung Wolken. Doch ich bemerke noch immer nichts, denn mein Blick ist nur nach vorne gerichtet. Was hinter mir liegt, interessiert mich nicht mehr. Ich habe nur ein Ziel. Ich will höher, koste es, was es wolle.

Höher.

Höher.

Höher.

Auf einmal bemerke ich, dass ich immer stärker mit den Flügeln schlagen muss, um noch voranzukommen. Schon bald kann ich meine Höhe kaum halten. Und da werfe ich das erste Mal seit meinem Eintritt in die Götterebene einen Blick zurück. Die Sicht ist atemberaubend gut. Ich bin so hoch, dass selbst die Wolken schwierig zu erkennen sind.

Doch dann bemerke ich die Federn, die nun reihenweise hinter mir in Richtung Erde segeln. Aber wie kann das sein? Sowohl Vater als auch ich selbst haben die Flügel mehrfach kontrolliert, bevor wir sie uns angelegt haben. Sie sind von bester Qualität und mit einzigartiger Genialität entworfen.

Da bemerke ich, dass ich mit Schweiß bedeckt bin. Ich hatte es auf die Anstrengung des Fliegens geschoben, doch nun fällt mir auf, wie heiß die Luft um mich herum ist und ich bemerke meinen großen Fehler. Die Flügel sind aus Federn und Wachs. Und Wachs schmilzt... Mir geht die Gefahr auf, in der ich schwebe und ich versuche, so schnell wie möglich tiefer zu kommen. Tiefer. Das ist jetzt meine einzige Hoffnung. Ich muss so schnell wie möglich in tiefere Luftschichten kommen, wo es kühler ist.

Doch es ist zu spät. Ich bin zu weit oben und kann mich nicht abkühlen. Ich falle. Meine Flügel lösen sich jetzt immer schneller auf und mich überfällt Panik.

Ich weiß, ich werde sterben.

Die Wolken rasen immer näher. Die Fallwinde zerren und ziehen an mir, zerstören den winzigen Rest, der von meinen Flügeln noch übrig geblieben ist.

Die Wolken umfangen mich und wieder kann ich nichts sehen. Doch diesmal ist es nur für kurze Zeit und dann bin ich wieder im Erdenreich. Der Verlust trifft mich wie eine Faust in den Magen. Ich war in meinem Element, ich bin geflogen und habe meinen größten Traum gelebt. Doch jetzt bin ich wieder zurück in dem Gefängnis, das sich Erde nennt. Es ist so ein trauriges Gefühl, dass mir die Luft wegbleibt und ich mich im Fallen vor Trauer zusammenkrümme.

Mein Vater ruft verzweifelt meinen Namen. "Icarus! Nein!", höre ich ihn.

'Es tut mir Leid.' will ich sagen.

'Es tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe.

Es tut mir leid, dass ich dir jetzt so viel Trauer bereiten werde.

Es tut mir leid, dass ich für meinen einzigen großen Traum alles aufgeben musste.

Es tut mir leid.'

Doch ich bring keinen Ton heraus.

 

 

 

Titelbild: Ivan Torrent

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Jadekralle

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Jadekralle Re: Aww :(( -
Zitat: (Original von tvdKeks am 02.06.2013 - 01:10 Uhr) Ich fand die Geschichte in Latein schon traurig ._.
Gut geschrieben (:

Schön, dass es dir gefällt! :)
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tvdKeks Aww :(( - Ich fand die Geschichte in Latein schon traurig ._.
Gut geschrieben (:
Vor langer Zeit - Antworten
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