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War das eine Ãœberraschung heute Morgen. Kommt man durch die Eingangstür, wer steht da? Der Weihnachtsmann und sein Knecht Ruprecht! Toll verkleidet. Der Weihnachtsmann in Rot und Weiß, der Knecht in Schwarz und Braun. Und wer steckte da hinter? Der Chef!! Tatsächlich der alleroberste Chef! Als Weihnachtsmann oder Nikolaus oder so. Mühe hatte er sich gegeben, sein markantes Gesicht und sein lichtes Haar unter der großen Kapuze und viel Watte zu verstecken. Doch sein windelweicher, weißbehandschuhter Händedruck zerstörte jede Illusion. Das war wirklich der Chef. Etwa unglücklich in Sack und Asche gekleidet der Ruprecht oder der Schwatte nebendran. Wahrscheinlich hatte der herzensgute Chef voll in den Auspuff seines Uraltdiesels gegriffen um bei der Maskierung seiner Sekretärin ein wenig nachzuhelfen. Also schwarz war ihr Gesicht. Nur auf den knallroten Lippenstift hatte sie nicht verzichtet. Zaghaft mit der Rute winkend wirkte sie verschüchterter als normal. Jedem Angestellten zog der Chefnikolaus/Weihnachtsmann eine Weihnachtsmannmütze über den Kopf und drückte ihm einen mittelgroßen Schokoladenaldinikolaus in die Hand mit den Worten: "Frohe Weihnachten. Und in den letzten Tagen der Vorweihnachtszeit wollen wir doch alle nur mit einem Lächeln und lieben Worten an die Arbeit gehen, nicht wahr?“ Bei einigen beugte er sich zwinkernd vor und flüsterte ihnen ins Ohr: "Sie wissen schon, corporate identity!" Wahrscheinlich hat er wieder mal etwas aufgeschnappt, was sofort und rigoros umgesetzt werden musste. Darin war er absolut kompetent. Da er sich immer zu dem etwas kleinen Sekretärinnenruprecht herunterbeugen müsste, um von ihr den Namen des jeweiligen Angestellten mehrmals zu erfragen, weil die dicke Kapuze sein sowieso nicht besonders gute Gehör behinderte, bildete sich so nach und nach eine Schlange vor dem Begrüßungskomitee, was bei einigen zu sichtbaren Entzugserscheinungen führte, da ihnen der notwendige Morgensbürokaffee vorenthalten wurde.
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Aus dem Kopierraum konnte man dann deutlich vernehmen, wie die Ermahnungen des Nikolausweihnachtsmannchefs in die verbale Tat umgesetzt wurden. "Diese blöden Saftsäcke! Jetzt stehen da schon zwei Schilder, und trotzdem packt irgendein Harry immer das Umweltschmutzpapier in die obere Kassette! Deutlicher geht’s doch wohl wirklich nicht! Umweltschutzpapier in die UNTERE Schublade. Nur Hirnis und Volltrottel in dem Laden hier!" Das war die Stimme unseres Azubis, der jetzt schon damit beschäftigt war, die Listen zu kopieren, die er nach den Feiertagen für seine betriebsinterne Weihnachtsgeschenk-Tauschbörse verteilen wollte. Mit der 10%igen Vermittlungsgebühr hatte er im letzten Jahr ein nettes Geschäft gemacht.
Aus dem klimatisierten Serverraum hörte man anfänglich nur ein freundliches Flehen. "Ach Allerliebster, Herzallerliebster, spuck doch bitte heute mal ein paar Bits und Bytes mehr aus! Tu mir den Gefallen. Sonst hängt wieder die ganze Belegschaft in meinem Zimmer und beschwert sich über die Schneckenpost im Netz. HAST DU GEHÖRT? Mach voran du Lahmarsch, sonst zieh ich dir jedes RAM-Baustein einzeln und zwar ohne Betäubung und UNTER SPANNUNG!!"
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Vor der Damentoilette hatten sich zwei untergeordnete Sekretärinnen in den lockigen Haaren, die aber voneinander abließen, als sie mich vorbeischleichen sahen. Hinter meinem Rücken ging es aber wohl wieder zur handgreiflichen Sache. "Wenn du Zimtzicke dem noch einmal schöne Augen machst, dann zieh ich dir vor versammeltem Haus den Fummel von deiner Orangenhaut, dass es nur so kracht! Lass die Augen und Finger von dem, der gehört mir. Und wenn der hundertmal sagt, ‚ach Fräulein, bringen sie mir doch eine kleine Mohnschnecke mit, wen sie in die Kantine gehen! Die bringe ICH ihm und nicht DU"
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Ein Büro weiter traute ich meinen Ohren nicht so recht. Es war weder Mitternacht noch war ich in meiner Wohnung. Die Töne kamen nicht aus der Nachbarwohnung sondern tatsächlich aus dem Büro. „Nun komm schon. Geh rein. Zier dich nicht so. Mach doch nicht immer so Probleme. Das ist doch ganz einfach. Siehst du, ein Stückchen bist du doch schon drin. Noch etwas. Das geht gaaanz leicht.“ Dann ein Wutschrei! Karl Heinz aus der Buchhaltung war es wohl. „Du blödes Miststück gehst jetzt rein, sonst steck ich dich in den Reißwolf!!“ Ich traute meinen Ohren nicht und befürchtete das Schlimmste. Aber glücklicherweise hörte ich hinter der Tür die neue Kollegin süffisant leise säuseln: „Ach, lieber Karl Heinz, da steckt doch wieder ein Büroklämmerchen dran. Dann kann das doch nicht gehen nicht gehen.“ Karl Heinz wurde wütend: „Warum stellen die uns kein Faxgerät hin, in das man auch Blätter MIT Büroklammer reinschieben kann. Ich kann doch nicht an alles denken. Die sind doch sonst so schlau. ABER DAS BRINGEN DIE NICHT!“ Ich atmete erleichtert auf. Nur das Ãœbliche. Karl Heinz und die Technik.
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Aktenordner fielen im Büro gegenüber auf den Boden. Schranktüren schlugen zu und wurden wieder aufgerissen. „Ich fass das nicht!! Das geht wochenlang so. Und ich denke, mit jedem Tag wird der Calvados milder!! Milder! Ich blöde Kuh. Nix milder! Da zieht die Tussi sich jeden Morgen ein Tässchen von dem Zeug ohne mein Wissen rein und blubbert mir kichernd was von einer ‚Apfelkur’ vor. ‚An apple a day keeps the doctor away’ muss ich mir dann immer anhören. Dabei habe ich nie einen Apfel gesehen. Jetzt weiß ich, warum die morgens immer so guter Stimmung war! Immer ein kesses Liedchen auf den Lippen.“ Ich warf einen Blick durch den Türspalt und sah die gute Seele des Hauses, die in einem halben Jahr auf einer Weltumseglung den Vorruhestand genießen wollte. Die gute Frau hatte der verdatterten Aushilfskraft den Kopf auf die Schultern gelegt. Doch da wurde sie lauter: „Und so was nennt sich KOLLEGIN!! Füllt immer Wasser nach und glaubt, ich merke das nicht!! Und die hatte auch noch wochenlang Recht damit! Ich habe das wirklich nicht gemerkt. MILDER!! Da ist ja nur noch Wasser drin in der Flache. Und ich dachte, ich hätte die so gut hinter der Ablage klein c bis groß D versteckt.“
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Sie schluchzte weiter vor sich hin, als ich endlich mein Büro erreichte. Ich öffnete die Tür. Ich erschrak. Mir stockte der Atem. Da stand er vor mir, mein geliebter Kollege, der von morgens bis abends von seinen Abnahmebemühungen faselte, der aber immer blitzschnell zugriff, wenn ich meine 300g Trauben-Nuss, eine Tüte Haribo-Colorado oder eine Schachtel Champagnertrüffel auf den Schreibtisch legte. Und dann jammerte er mir stundenlang was vor. Jetzt aber knirschte er zahnschmelz- oder gebissgefährdend mit den gebleckten Zähnen. Mit erhobenem Brieföffner stand er vor mir. „WO HAST DU DEN MÄUSESPECK VERSTECKT? RÃœCK IHN RAUS ODER ICH MACH DICH ALLE!!“ Mein letztes Stündchen schien geschlagen zu haben. Ich versuche, mein ganzes Leben schnell vor mir ablaufen zu lassen, aber irgendwie bekam ich den Film nicht in die Spule. Ich stolperte rückwärts, stieß gegen den Schrank, aus deren oberer Etage die Tüte mit dem frischen Mäusespeck fiel. Dann hatte ich einen auch mir einmal zustehenden Blackout. Ich kam erst wieder richtig zu mir, als ich mit meinem nun friedlichen Kollegen die Kantine für ein spätes Bürofrühstück betrat. Als ich dort unsere Sekretärin heulend an einem Tisch sitzen sah, mittlerweile wieder in Zivil, und ich bemerkte, wie das kleine unscheinbare Mäuschen aus dem Archiv ihr mit einem Stofftaschentuch, das sie immer wieder mit ihrer Zunge anfeuchtete, die Rußflecken aus dem Gesicht rieb, und die gute Sekretärin schluchzte: „Ich mach so was nicht mehr. Das kann er von mir nicht verlangen. Immer verlangt er so was von mir. Ich kann nicht mehr!“ , da wusste ich, dass es ein Tag wie jeder andere war. Gut, die Chefsekretärin wird wohl ihr Leben lang mit ihrem neuen Trauma zu kämpfen haben. Sie wird wohl an keinem Dieselauspuff mehr problemlos vorbeikommen. Aber es gibt ja Therapeuten.
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Die guten, besinnlichen Worte des guten Chefs hatten also nichts genutzt, und zur Corporate identity hatten auch die Weihnachtsmützen nicht viel beigetragen.
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Vorausschicken möchte ich gleich zu Beginn, dass es wahrscheinlich Ähnlichkeiten gibt mit dem einen oder anderen Chef dieser Welt, unter denen die Angestellten, Arbeiter und Sklaven ihr Bestes tun; Tag ein und tagaus. Dafür kann ich aber nichts. Und das sei bitte zur Kenntnis genommen.
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Wir stellen uns einmal eine Firma vor, angesiedelt irgendwo im Mittelständischen. Diese Firma stellt seit vielen Jahren mitten in einem historisch nicht uninteressanten innovative Gedanken her. Das hatte viele Jahre funktioniert, auch wenn der eine oder andere Gedanke so innovativ gar nicht war. Aber das merkte kaum jemand. Am Rande der Altstadt wurde diese Firma geduldet und ab und zu auch mal ein wenig gepflegt, wenn es dem Image des Standortes dienlich war.
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Seit fast einem Jahrzehnt, und das ist schon eine recht lange Zeit, hatte der Mutterkonzern, der sich vor noch längerer Zeit diese mittelständische Firma einverleibt hatte, ihr einen neuen Chef vorgesetzt. Dieser Chef war aber wohl eher nicht der richtige Mann am richtigen Platz, er war nämlich ein Kompromisskandidat. Das kommt ja nun häufiger vor und ist gar nicht so selten. Einige Bewerber besaßen überhaupt keine Qualifikation, anderen wurde von Mitarbeitern der Firma abgeraten, da sie um den Zustand der Firma wussten, wieder andere gerieten zwischen die Mühlsteine rivalisierender Gruppen des Aufsichtsrates. Nachdem an beiden Enden die Kandidaten aussortiert worden waren und die Qualifizierten abgesagt hatten, da blieb ein unscheinbares Männchen übrig. Gemütlich sah er aus, irgendwie zum Knuddeln. Zumindest auf Distanz gesehen. Er blinzelte ungläubig in die Runde und freute sich wie ein Schneekönig, nachdem er endlich begriffen hatte, dass er der Auserwählte war. Er fühlte sich fast so, wie er sich jedes Jahr Weihnachten bei der Bescherung gefüllt hat.
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Und dann fing er an, mit eisernen Besen zu kehren. Kompetenzen wurden neu geordnet, neue Möbel wurden bestellt, mit einem Wort, es wehte ein frischer Wind. Um den Betrieb für sich und andere überschaubar zu halten, strich er dann an allen Ecken und Enden und sein Ausspruch machte die Runde: Lieber klein, aber dafür fein. Die verbliebenen Mitarbeiter nahmen dieses mit Erstaunen zur Kenntnis, denn so groß war der Betrieb nun wirklich nicht, aber sie arrangierten sich. Und im Laufe der Zeit arrangierten sie sich immer besser, denn sie durchschauten den Hintergedanken dieses Leitspruches sehr bald: Nicht nur klein und fein, nein auch: lieber unwesentlich als bedeutungsvoll. Und so konnte sich jeder sein eigenes Refugium in dieser kleinen Welt schaffen, ohne großartig belästigt zu werden.
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Nun wird manch einer fragen, ob dadurch nicht die Effektivität des Betriebes gelitten habe. Nun, so effektiv war der Laden vorher auch nicht. Er fristete wie ein kleines zierliches Blümchen im Schatten eines großen Baumes sein Dasein, nahezu unbemerkt, aber eben auch nicht störend oder gar auffällig. Also eher unauffällig, vom Mutterkonzern fast vergessen und mit Nachsicht betrachtet. Unter diesen Umständen ließ sich gut leben. Wenn ab und an ein Mitarbeiter am Sinn des Ganzen zweifelte, wenn er begann, sich auffällig zu verhalten, was bedeutete, er kritisierte, bezweifelte oder drehte ein wenig durch im Anblick der dahin schleichenden Bedeutungslosigkeit, dann setzte unser guter Chef auf gruppendynamische Prozesse. Er ließ es entweder laufen oder aber er zitierte diesen armen Störenfried herbei. In sein Zimmer. Und wollte sich alle Probleme anhören. Und das war dann immer wieder ein Erlebnis für den Mitarbeiter. Er kam mit schriftlichen Konzepten und neuen Ideen munter, voller Selbstbewusstsein und Zuversicht in das Chefzimmer, wurde freundlich begrüßt, durfte reden, aber das war es dann auch. Er konnte dann feststellen, dass der gute Chef überhaupt nicht zuhörte und nach kurzer Zeit damit begann, den Mitarbeiter mit Geschichten aus seiner Jugend, seiner Ausbildungs- und Studienzeit und aus seinen ersten Berufsjahren zu fesseln. Nach zwei Stunden war der Mitarbeiter dann fertig und endgültig geprägt für das weitere Leben in diesem Betrieb. Und der Chef ging dann davon aus, dass er alle Probleme auf friedliche Art und Weise in vollkommener Harmonie gelöst hatte. Und daran glaubte er wirklich. Da irgendwann alle Mitarbeiter diese harte Schule durchlaufen hatten, herrschte oberflächlich wieder Frieden. Jeder machte was er wollte, ab und an kam jemand tatsächlich auf eine fruchtbare, innovative Idee, womit dem Sinn und Zweck des Betriebes Rechnung getragen wurde, und nur ganz selten versuchte jemand, aus diesem goldenen Käfig auszubrechen.
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Und der Chef tat alles, um seinen Mitarbeitern das Leben in diesem Käfig so angenehm wie möglich zu gestalten. Bewusst und unbewusst. Ein schöner, menschenverbundener Zug war es, bei jedem Diktat sehr nah hinter der Sekretärin zu stehen, um jeden Buchstaben auf dem Monitor sofort nach seinem Erscheinen genau zu überprüfen. Blitzschnell war sein Finger auf der Mattscheibe, wenn er einen Fehler wahrnahm. Der Monitor sah entsprechend aus. Seine letztes Weihnachtsgeschenk, einen Organizer, brachte er jeden Morgen mit in sein Büro und ließ die neuen Daten von der Sekretärin in das Netzwerk einspeisen. Wozu? Keine Ahnung. Denn nachweislich waren keine betriebsrelevanten Termine darauf vermerkt, wenn überhaupt etwas darauf vermerkt war. Denn mit der Delete-Taste hatte er so manches Problem. Was vielleicht mit seinen dicken Fingern und den kleinen Tasten zu tun hatte. Wenn es doch einmal geklappt hatte, dann wusste jeder, der Zugriff auf das Netzwerk hatte, und das waren eigentlich alle, bis auf die Putzfrauen, wann der Chef mal wieder Kartoffeln vom Markt besorgen musste. Und das wiederholte sich jede Woche. Die Einarbeitungszeit für den Organizer dauerte übrigens vom 24. Dezember bis zum 23. Februar des Folgejahres. In der Zeit war ein entspanntes Arbeiten im Betrieb möglich. Ab und an hörte man nur hinter der fest verschlossenen Tür des Chefzimmers ein Stöhnen, Toben, Schreien oder Schluchzen. Ein Azubi löste ihn dann aus seiner Vereinsamung. Einschalten, Terminbuch anwählen, Termin eintragen, Termin speichern, ausschalten, Ende Februar klappte es. Versuche, das Gerät als Notizbuch in den wenigen Besprechungen zu nutzen, scheiterten glücklicherweise sehr schnell. Technische Probleme löste der Chef, wenn er sie löste, auf seine Art und Weise: langsam und nicht zu hektisch oder gar nicht. Manchmal tat er einem aber auch schon ein wenig leid. Es fanden sich so wenig Mitmenschen, die ihn aus seinem aussichtslosen Kampf erlösten. Niemand teilte ihm im letzten Jahr mit, welches technische Problem dafür zuständig war, dass er nun schon zum dritten Mal in der - zugegebenermaßen sehr steilen - Parkhausauffahrt stehen geblieben war. Er fuhr raus, blieb oben in starker Schräglage stehen, und dann war der Motor auf einmal aus. Einfach so. Mit wehendem Mantel und verwegen auf dem Kopf sitzenden Hütchen stürmte er erbost zurück in den Betrieb, verlangte von der Sekretärin ein sofortiges Telefongespräch mit der Werkstatt. Drei Mal geschah das im letzten Jahr. Und die Werkstatt war nicht in der Lage, den technischen Fehler zu finden. Mitfühlende Mitarbeiter schoben den alten Mercedes immer aus der Ausfahrt hoch auf die Straße und ließen ihn dort stehen. Die herbeizitierten Mechaniker versuchten dann, den Wagen zu starten. Und er lief. Nach dem dritten Mal begann der Chef ganz leise, auch an sich zu zweifeln. Als rational veranlagter Mensch glaubte er jedoch nicht an Voodoo-Zauber. Dass sein Problem in der Auffahrt immer dann auftrat, wenn er den Tank fast leer gefahren hatte und durch die starke Schräglage das bisschen Benzin im Tank nicht mehr den Weg zum Motor fand, das wollten wir ihm schon sagen, aber irgendwie fand sich bisher keine passende Gelegenheit dazu. Wir haben uns vorgenommen, ihm die Erklärung in einem anonymen Brief zukommen zu lassen, demnächst. Vielleicht.
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Zum guten Arbeitsklima trug er auch in alltäglichen Lebenslagen bei. Es wurde von allen erfreut wahrgenommen, dass er jedem Mitarbeiter fusselfreie Staubtücher zukommen ließ, damit diese endlich ihre fingerabdruckübersäten Monitore reinigen konnten. Bei seinen Besuchen in den Büros des Betriebes unterließ er es eigentlich nie, die Mitarbeiter auf von ihm wahrgenommen Fehler fingerzeigend hinzuweisen. Seine Sekretärin bekam eine Zehnerpackung.
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Eines Morgens schreckte jedoch die ganze Belegschaft kollektiv auf. Der Chef schrie. Er schrie auf dem Flur. Er schrie auf dem Flur vor den Herrentoiletten. Und er schrie lange. Er rief nach dem Verantwortlichen. Er rief nach dem Verantwortlichen für das Toilettenpapier auf der Herrentoilette. Doch der Verantwortliche hörte ihn nicht. Und das machte ihn wütend. So richtig wütend. Es war ein Glück, dass die für das Toilettenpapier in den Herrentoiletten zuständigen Putzfrauen um diese Zeit, es war zehn Uhr vormittags, nicht mehr und noch nicht im Hause waren. Sie hätten nämlich einen schönen Schreck bekommen. Denn der Chef schrie fürchterlich. Und in seiner typischen Art machte er diese wichtige Angelegenheit zur alleinigen Chefsache. So etwas sollte in seinem Betrieb nie wieder passieren. Nie wieder! Wutschnaubend bat er seine Sekretärin, in der Herrentoilette einmal nachzusehen. Nach den Toilettenpapierrollen zu sehen und ihm bestätigend zu berichtigen. Doch diese weigerte sich einfach. Eigentlich unerhört, denn bisher hatte sie das noch nicht gewagt. Die Arbeit einfach so zu verweigern. Wir wissen alle nicht, was sie dazu getrieben hatte. So ein Graus kann auch unsere Herrentoilette nicht sein. Es fand sich jedoch wieder besagter Azubi, der den Organizer des Chefs organisiert hatte. Dieser tat, worum ihn der Chef bat. Ja, er bat ihn, denn seine Hochachtung vor dem Azubi war enorm gewachsen, nachdem dieser den Organizer und den Chef so einträchtig zusammen gebracht hatte. Der Azubi betrat mutig die Herrentoilette, schaute sich gründlich um und konnte dann die wutauslösende Tatsache berichten: Ja, der Chef hat Recht. Auf der Herrentoilette, zumindest in der hinteren Kabine, und das war die vom Chef bevorzugte Kabine, in dieser Kabine befand sich keine einzige Ersatzrolle Toilettenpapier. Nicht eine. Die Rolle auf dem Halter war zwar neu und nahezu ungebraucht, aber es war in dieser Kabine keine Ersatzrolle vorhanden! Unerhört, skandalös, mussten wir dem Chef nun wirklich alle Recht geben, da wir vom Gebrüll auf dem Flur gelockt, die Bestätigung durch den Azubi aus erster Hand mitbekamen. Und da der Chef diese Angelegenheit zur Chefsache erklärt hatte, wurde von der Sekretärin mit dem Chef im Nacken eine Aktennotiz und ein harscher Brief an die Putzfrauen verfasst. Um vier Uhr, also rechtzeitig vor Arbeitsschluss, war alles fertig. Und es war gut so. Denn seit dem Tag fehlte in keiner Kabine der Herrentoilette mehr die Ersatzrolle Toilettenpapier.
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Kaum war diese Angelegenheit zur Zufriedenheit aller geregelt, wurde vom Chef bei seinen Gängen durch das Gebäude festgestellt, dass in einem kleinen Kellerraum, der als Archiv für völlig unwichtige Ablagen aus grauer Vorzeit genutzt wurde, die Farbe an den Wänden nicht mehr taufrisch war. Unerhört, fand der Chef, denn seine Meinung war, dass jeder Raum des Betriebes wie eine Visitenkarte der ganzen Firma aufzutreten habe. Was sollte denn ein unvoreingenommener Besucher denken, wenn er, nichts Böses ahnend, den sorgfältig verschlossenen Raum im hintersten Keller betreten würde. Sodom und sonstige Sündenpfühle würde ihm doch da nur einfallen. Und das ginge ja wohl nicht. Also wurde der freundliche Azubi beauftragt, die Wände des besagten Kellers zu streichen. Da dieser mittlerweile seine Bedeutung seit dem Organizerproblem erkannt hatte, stöhnte er. Er muckte auf. Mit Erfolg. Der gute Chef sagte alle Termine für die kommende Woche ab. Der gute Chef beauftragte seine Sekretärin, in einer Buchhandlung ein Buch über Papierfalten mit einer Anleitung zum Falten einer Malermütze aus Zeitungspapier zu besorgen. Und so geschah es. Alle Termine wurden abgesagt, die Sekretärin besorgte eine Papierfaltanleitungsbuch und musste dann nach dieser Anleitung aus der Sportseite der Tageszeitung einen schönen Papierhut falten. Das gelang ihr auch nach etwa einer Stunde. Am kommenden Montag musste der gute Chef dann feststellen, dass keine Farbe vorhanden war. Er tobte wieder einmal ein wenig herum, weil ihn keiner darauf aufmerksam gemacht hatte, beruhigte sich aber, als der Azubi sich anbot, Farbe zu besorgen. Den Azubi sah von uns keiner mehr an diesem Montag. Aber am Dienstag konnte es los gehen. Azubi, Farbeimer und Farbroller, Chef mit altem Kittel und feschem Papiermalerhut machten sich gemeinsam auf den Weg in den Keller. Keiner ließ sich diesen Anblick entgehen. Alle hatten zufällig gleichzeitig auf dem Flur zu tun. Es heiterte die Stimmung ungemein auf. Das Arbeitsklima an diesem Tag stimmte. Es stimmte die ganze Woche, denn diese Miniprozession war jeden Morgen um acht Uhr zu beobachten. Allerdings ging am Mittwoch der Chef voran. Dass er am Dienstag dem Azubi gefolgt war, das war wohl ein Versehen, das er schnell korrigiert hatte. Wir stellten uns in der Woche schon die Frage, wieso man für einen Kellerraum von zwölf Quadratmetern und völlig frei zugänglichen Wänden vier Tage zum Streichen der Wände benötigt. Allerdings waren wir uns dann auch einig, dass man nicht immer und bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Kompetenz eines Chefs anzweifeln muss. Das taten wir dann vorerst auch nicht mehr. Die Sekretärin des guten Chefs wurde dann auch noch reichlich eingespannt; morgens um neun musste sie einen kleinen Frühstücksimbiss in den Keller bringen, um zwölf eine Kleinigkeit zum Mittagessen und um drei dann ein wenig Kaffee mit Gebäck. Und zum Feierabend dann sogar zwei Flaschen Bier. Da war der Chef schon großzügig. Am Freitag waren sie dann fertig. Wie viel Farbe auf die Wände gekommen war, wissen wir nicht. Wie viel Farbe auf dem Kittel und auf dem Malerhütchen war, das konnten wir nur schätzen. Der Azubi war allerdings sauber. Wir hatten uns zuvor schon gewundert, warum er keinerlei Schutzkleidung angezogen hatte. Anscheinend brauchte er sie nicht. Denn er war völlig sauber. Entweder konnte er professionell Wände streichen, oder aber der Chef hatte ihm vier Tage lang in seiner Funktion als oberster Ausbilder gezeigt, wie man das macht. Die Belegschaft war im Verhältnis 18 zu 1 geteilter Meinung. Da wir geheim abgestimmt hatten, war nicht klar, wer der eine war. Eine Woche später verfügte dann die Mutterfirma, dass von den 6 Kellerräumen 3 für jede Art von Schmutz-Müll genutzt werden sollten. Der gestrichene Raum gehörte dazu. Die Weitsicht unseres Chefs hatte sich also ausgezahlt. Die Müllentsorger hatten eine wirklich vorzeigbare Visitenkarte unseres Betriebes vor Augen.
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Und so setzte es sich fort. Der Chef wusste immer genauer Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Und er wurde darin immer konsequenter. Er machte sogar ab und an ein kleines Späßchen, weil er ab dem Kellerstreichen von Besuchern immer öfter für den Hausmeister gehalten wurde. Nach dieser unbedingt notwendigen praktischen Arbeit im jetzigen Müllkeller suchte er eifrig nach neuen Aufgaben, die seine Verbindung zur richtig arbeitenden Klasse festigten. Und man muss sagen, dass unser Betrieb seit dem einen wirklich guten, sauberen, gepflegten Eindruck auf Kunden und Besucher macht. Einige sind allerdings schon ein wenig irritiert, wenn sie in der Eingangshalle an dem zigarettenkippen- und papieraufsammelnden Hausmeister vorübergehen und diesen dann wenig später im Chefzimmer hinter dem mit Blümchen hübsch dekorierten Schreibtisch vorfanden. Aber das legte sich. Nur neue Kunden und Besucher reagieren noch so. Alte Besucher und Kunden haben damit kein Problem mehr.
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Ach ja, fast hätten wir die Ausgangsfrage vergessen. Es ist halt manchmal wirklich schwer, da es das eigentlich nicht gibt, was man einem Chef so gerne wünschen oder schenken würde.
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Nachtrag: Der Funke an Wahrheitsgehalt in dieser Geschichte wird dadurch ein wenig bekräftigt, dass der Chef heute wieder einmal mit einem Sack Kartoffeln in der linken und einem Bund Porree in der rechten Hand vom Pförtner gesehen wurde.
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