Jetzt war es wirklich so weit. Neunundzwanzig Jahre hatte Inge im Arbeitsleben gestanden. Hatte immer ganztags gearbeitet und nun war sie arbeitslos. Sie konnte es nicht fassen. Immerhin hatte sie nach der Wende noch vier Jahre gearbeitet. Zu DDR-Zeiten war Arbeitslosigkeit undenkbar gewesen. Sie hatte nur drei Arbeitsstellen in den neunundzwanzig Jahren gehabt. Gut, drei Kinder sind selbstständig, ein Kind macht gerade die neunte Klasse und der Ehemann hat noch Arbeit. Inge war trotzdem zu keinem anderen Gedanken fähig, als das Arbeitslossein. Es kreiste in ihrem Kopf , sie war zu keiner Handlung fähig. Der
Zustand der Arbeitslosigkeit lag wie eine dunkle Wolke über ihr. Was sollte sie nur tun? Auch ihr Mann Rainer konnte ihr nicht helfen. Ihr war, als wäre sie in ein dunkles Loch gefallen, aus dem es kein Entrinnen gab. Inges große Tochter wohnte in Hamburg. Nach tagelangem Grübeln, entschloss Inge sich, ihre Tochter anzurufen. Elke meldete sich sofort und erzählte Inge, dass sie gerade eine neue Wohnung mit ihrem Freund bekommen hatte. Dann fragte sie Inge, wie es ihr so geht. Bei Inge öffneten sich natürlich sofort wieder alle Schleusen, vor Tränen konnte sie kaum sprechen. Ihre Tochter wollte sie trösten und schlug ihr vor, ein
paar Tage nach Hamburg zu kommen. Sie könnten sich doch ein paar schöne Tage machen, so als Ablenkung.
Inge packte einige Sachen in ihr Auto und los ging es nach Hamburg. Mutter und Tochter freuten sich auf ein paar schöne Tage. Am Morgen des folgenden Tages stand Inge am Fenster der alten Wohnung ihrer Tochter und sah auf die Straße runter. Gegenüber befand sich das Gebäude von Kaul-Versand. Plötzlich durchzuckte Inge ein Gedanke. Sie fragte Elke, ob sie diese Einraumwohnung schon gekündigt habe. Elke verneinte. Inge rief ihrer Tochter zu, sie komme gleich zurück und schon war sie aus der Wohnung. In dem
Verwaltungsgebäude des Versandes fragte sie sich zur Personalabteilung durch. Auf ihre Frage nach einer Arbeitsstelle, schüttelte die Mitarbeiterin den Kopf. Inge wollte nicht glauben, dass in solch einem grossen Betrieb nichts zu machen sei. Sie tat der Mitarbeiterin wohl etwas leid, denn diese fragte nach Inges Alter. Wahrheitsgemäss antwortete sie, dass sie siebenundvierzig sei. Na, das geht ja noch, antwortete die Frau. Das war das erste Mal, dass Inge mit ihrem Alter konfrontiert wurde. Es war für sie wie eine Ohrfeige. Dann meinte die Frau, eine Möglichkeit gäbe es doch, sie würden ab kommender Woche Aushilfen
einstellen und ob das nichts für sie wäre. Inge schüttelte den Kopf. Sie dachte, man würde sie nur an Tagen holen, wo im Betrieb Hilfe gebraucht wurde. Sie nahm jedoch die Unterlagen mit, die die Frau ihr reichte. Überlegen sie es sich, nächste Woche annoncieren wir und danach ist nichts mehr zu machen. Wie gehetzt verliess Inge den Betrieb. Wieder bei Elke angekommen erzählte sie der fassungslosen Tochter von dem Gedanken, den sie gehabt hatte. Die Wohnung könnte sie haben, versicherte ihr Elke. Sie las die Unterlagen und musste feststellen, dass sie einen Zeitvertrag für ein halbes Jahr bekommen könne. Also, was hatte sie zu
verlieren? Erst einmal hatte sie für sechs Monate Arbeit, danach würde man sehen. Das Einzige, was Inge Sorgen machte, war die Tatsache, dass sie noch nie im gewerblichen Bereich tätig war. Sie hatte fünfundzwanzig Jahre Schreibtischarbeit gemacht. Würde sie die Arbeit schaffen? Man wird sehen, dachte sie sich. Der perplexen Tochter eröffnete sie, dass sie sofort nach Hause fahren müsse. So kam es, dass Inge genau nach einem Tag wieder Richtung Heimat fuhr. Noch einen Gedanken, hatte sie im Kopf. Sie hatte schon vor längerer Zeit in der Zeitung gelesen, dass der Kaul-Versand in Hadensleben bauen würde. Dann könnte sie ja von
Hamburg nach Hadensleben gehen. Von Inges Heimatort Magdeburg waren es nur rund dreißig Kilometer nach Hadensleben. Das wär zu machen. Ach alles Quatsch, erst mal schauen.
Dann kam das Gespräch mit Mann und Tochter. Inges Ehemann war erst einmal arg geschockt, was sie ihm auch nicht verdenken konnte. Ihre Tochter war hellauf begeistert. Bei ihr überwogen wohl die Gedanken an die Konsummöglichkeiten bei Kaul. Na egal, Hauptsache war, sie war einverstanden. Inges Mann liess sich auch überzeugen. Er wusste, wenn Inge sich was in den Kopf gesetzt hatte, war sie nur schwer davon abzubringen. Nun
ja, Ende gut, alles gut. Am nächsten Tag fuhr Inge wieder Richtung Hamburg, wo sie am Donnerstagmorgen ihre Papiere abgab und sofort eingestellt wurde. Am Montag sollte ihr erster Arbeitstag sein. Das musste ihr erst einmal Jemand nachmachen.
Am Sonntagabend fuhr Inge das erste Mal zur Arbeit nach Hamburg und das mit fast Fünfzig. Hinten im Auto hatte sie einen Campingtisch, zwei Campingstühle, zwei kleine Kochtöpfe, eine Tischdecke, Vase und noch einige Kleinligkeiten. Hamburg, Inge kommt !
Pünktlich am Montag trat Inge ihren neuen Job an. Pakete packen am Fliessband.. Die neue Chefin fragte Inge,
was sie beruflich bisher gemacht habe. Entsetzt meinte sie, dann würde Inge das nicht schaffen. Inge sah die aufgedonnerte Dame an und dachte, so eine blöde Kuh, der werde ich es zeigen. Ja und so begann für Inge ein neuer Arbeitsweg. Leicht hatte sie es nicht. Oftmals fiel sie zu Haus auf das Bett ( Matratze ) und heulte vor Schmerzen im Rücken und vor Einsamkeit. Ein Glück, dass sie nur über die Strasse musste, um zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen.An den Wochenenden fuhr sie nach Haus. Dort war auch viel zu tun, obwohl Vater und Tochter sich grosse Mühe gaben. Fix und fertig fuhr sie Sonntagabend wieder Richtung HH. Montag lachten
ihre Kolleginnen über sie,wenn sie todmüde durch den Tag taumelte. Die anderen Tage waren auszuhalten, da ja dann frühes schlafen angesagt war. Zu allem Überfluss ereilte sie noch eine Sehnenscheidenentzündung. Unter Schmerzen arbeitete Inge weiter. Die Schmerzen ware so derb, dass sie kaum das Beutelchen mit der Salbe nach Haus tragen konnte. Aber auch das verging. Nach drei Wochen schaffte Inge das erste Mal ihre Leistung. Die Kolleginnen hatten Erbarmen mit ihr und verrieten ihr einige Geheimtipps zur Steigerung der Leistung. Inge beobachtete ihre Vorgesetzten genau. Jetzt wusste sie, was sie machen musste.
Inge hatte nach einigen Wochen eine Bewerbung für Hadensleben abgegeben. Nun liess sie sich ihre Bewerbung als gewerblicher Mitarbeiter zurückgeben und bewarb sich neu als Führungskraft. Das behielt sie natürlich für sich. Ihre Chefin , mit der sie sich doch ganz gut verstand,gab ihr den Rat, eine Bewerbung für die Bandendkontrolle in Erwägung zu ziehen.Sie hatte natürlich inzwischen bemerkt, dass Inge richtig zupacken konnte. Da hätte Inge es etwas leichter, meinte sie. Das halbe Jahr verging sehr schnell und Inge bekam einen neuen Arbeitsvertrag.Sie war glücklich.
So vergingen fast zwei Jahre. Inge hatte
schon ein Vorgespräch in Hamburg gehabt und erfahren, dass sie keine schlechten Chancen habe. Wenn der Betrieb fertig sei, würde man erfahrene Kräfte brauchen. Ende des Jahres 1994 bekam sie einen Termin für ein Vorstellungsgespräch in Hadensleben. Gleich am ersten Arbeitstag des neuen Jahres. In Magdeburg verabschiedete sie sich von ihrer Familie und meinte, sie wäre bald zurück. Das Gespräch mit dem Personalchef verlief zu ihrer Zufriedenheit und ihrer Einstellung als Assistentin stand nichts im Wege. Nach Erledigung der Formalitäten wurde sie zu einem Gespräch mit dem Betriebsleiter weitergereicht, dann mit
dem Abteilungsleiter und zum Schluss wurde sie noch in ihren zukünftigen Arbeitsbereich geführt. Nun ja, im Betrieb war es noch relativ leer und man hatte Zeit für Inge. Ehe sie sich versah, war es Abend geworden.Später stellte es sich heraus, dass man dachte, sie hätte ihren ersten Arbeitstag. Ihr Mann zu Haus, hatte sich schon Sorgen gemacht, warum sie nicht kam. An diesem Abend hatten sie noch zu feiern.
Inge hatte noch zwei Tage frei bekommen, um ihre Angelegenheiten in Hamburg regeln zu können. Beim Abschied von ihrer Chefin fragte diese, ob es mit der Bandendkontrolle geklappt habe. Sie hätte für sie eine sehr gute
Beurteilung nach Hadensleben gegeben. Inge bedankte sich nett und eröffnete ihr, dass sie in Hadensleben das Gleiche machen würde, wie ihre Chefin in Hamburg. Inge liess eine total verdatterte Frau zurück. Dieser Moment war Labsal für ihre Seele. Inge war im Allgemeinen nicht nachtragend, aber die Worte der Chefin bei ihrem Arbeitsbeginn hatte sie noch gut in den Ohren. Aber sie hatte es geschafft !
Elf Jahre war Inge noch in Hadensleben tätig. Dann ging sie in den Vorruhestand. Wer nun aber denkt, sie würde sich dem Nichtstun verschrieben haben, der irrt gewaltig.Vielleicht schreibt Inge noch einmal weiter, wie es
ihr danach erging. Mal sehen.
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                                                                                                      ENDE
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