Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Endlich scheint dem Poeten das Tor zum Dichterparadies weit geöffnet. Keine Grenzen, keine Schranken mehr, die ihn und seine Werke von seinen Lesern trennen. Endlich kann er sein Anliegen der ganzen Welt präsentieren. Und sie wird es ja wohl auch wohlwollend aufnehmen. Ja, eigentlich hat die ganze Welt ja nur auf ihn gewartet.
Ein freundlicher Mensch würde jetzt nur leise den Kopf schütteln, und den Poeten mit einem leise geflüsterten: „Eine Illusion“, von seinem hohen Ross herunterholen. Ein unfreundlicher Mensch würde ebenfalls den Kopf schütteln. Für eine Bemerkung wäre er sich zu schade.
Grundsätzlich dürften sich aber freundlich und unfreundlich gesonnene Menschen einig sein in der Einschätzung, dass das Internet Ankerpunkte für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anbietet. Ankerpunkte, die dem Poeten allerdings etwas versprechen, was sie überhaupt nicht halten können. Ankerpunkte, die bei genauer Betrachtung zu Luftblasen werden, die zerplatzen, und den hoffnungsvollen Dichter mehr oder weniger unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Sicherlich, man kommt der Idee der Freiheit des Poeten schon näher, wenn man postuliert, dass im Prinzip jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich im Internet zu verbreiten. Konkret auf den Poeten bezogen heißt das, eigentlich kann jeder das, was er an poetischen Werken bisher zu Papier gebracht oder auch schon auf seine Festplatte gebannt hat, der ganzen Welt präsentieren. Nichts steht mehr zwischen dem Autor und seinen Millionen Lesern. Kein Verlag, kein Lektor, keine Buchhandlung stehen der Publizität im Wege. Der Autor schreibt und macht seine Werke nahezu in einem Atemzug öffentlich. Und das mit äußerst geringem Aufwand. Er benötigt nur einen nahezu überall verfügbaren Internetzugang, einen einfachen Rechner und minimale Softwarekenntnisse. Der Poet stellt sein Werk innerhalb von Sekunden der ganzen Welt zur Verfügung, soweit sie die technischen Möglichkeiten besitzt, diese Werke im Internet abzurufen. Wenn er denn seine Sprache spricht. Aber es wäre kleinlich, die unterschiedlichen Sprachen heranzuziehen, um die Idee der Freiheit im Internet zu sabotieren. Es reicht doch schon aus, die Freiheit so zu verstehen, dass grundsätzlich jeder die Möglichkeit hat, sich an den Werken des Poeten zu delektieren. Die Fähigkeiten der Leser schränken seine Freiheiten ja nicht ein.
Die oben schon erwähnten Millionen Leser können nun überall auf der Welt (natürlich mit den technischen und politischen Einschränkungen) zugreifen auf die Gedichte, Gedanken, Erzählungen, Romane unseres hoffnungsvollen Poeten. Alle Schranken und Hemmnisse, die einer Veröffentlichung bisher im Wege standen, sind beseitigt. Nun gut, fast alle, denn ein lesewilliger Chinese im Reich der Mitte darf nicht alles lesen, was so angeboten wird. Aber rein theoretisch hat auch er die Möglichkeit.
Zu dieser nahezu grenzenlosen Freiheit, die unserem Poeten durch den ungemein leichten Zugang zur Welt über den digitalen Zugang beschert wird, gesellt sich anscheinend auch die Gleichheit derjenigen, die dieses Medium zur Kommunikation im weiten Sinne nutzen. Im Prinzip. Betrachtet man die Gleichheit als Chancengleichheit in der Weise, dass jeder Poet die gleichen Möglichkeiten zur Darstellung hat, so ist das vom Grundsatz her korrekt. Hat unser Poet seine Werke im Internet abgelegt, z.B. auf einer eigenen Homepage, in einem der unzähligen Foren, die ihm dazu die Gelegenheit bieten, in online-Anthologien, online-Zeitschriften, so ist er einer von vielen, die diese Chance genutzt haben, ohne dass ihm dabei Steine in den Weg gelegt wurden. Die Gleichheit der Chancen wird aber ein wenig relativiert. Wieder einmal durch die Fähigkeiten unseres Poeten, die von entscheidender Bedeutung sind. Die Präsentationen einer eigenen Homepage differieren qualitativ erheblich. Und von der Qualität hängt es zum großen Teil ab, ob unser Poet die Millionen Leser in aller Welt überhaupt erst einmal auf sich aufmerksam machen kann. Und besitzt unser Poet nicht auch noch die Fähigkeiten, Suchmaschinen im Netz auf seine Seiten aufmerksam zu machen, dann entdeckt ihn niemand. Im Vorteil sind also diejenigen Poeten, die sich ein gewisses Handwerkszeug angeeignet haben. Oder diejenigen, die sich entsprechende Handwerker einkaufen können. Nun, das kann nicht jeder.
Aber es gibt ja noch Literaturforen, in denen unser Poet mit geringem technischem Aufwand die interessierte Welt auf sich aufmerksam machen kann. Anmeldeprozeduren sind in der Regel sehr einfach, innerhalb kurzer Zeit hat unser Poet seine Werke eingebettet in eine Vielzahl anderer Werke anderer Autoren, die die Welt beglücken wollen. Prinzipiell hat jedes Mitglied eines solchen Forums die gleichen Möglichkeiten. Aber wie ist es nun mit der Erreichbarkeit der ganzen Welt bestellt? Nun, die ganze Welt wird unser Poet in einem Forum nicht erreichen können. Er erreicht die doch recht begrenzte Anzahl Menschen, die eben in diesem Forum mitwirken. Und der Wirkungskreis eines solchen Forums ist stark abhängig vom Bekanntheitsgrad des Forums und den Fähigkeiten des Betreibers, in diesem Sinne tätig zu werden. Dem begegnet der kluge Poet natürlich, indem er nicht nur in einem Forum tätig wird. Nein, wenn, dann doch gleich in mehreren. Und fleißig schickt er seine Texte mit der elektronischen Post an Herausgeber von online-Anthologien und online-Zeitschriften und hofft insgeheim, dass sich diese Herausgeber einmal dazu entschließen, gedruckte Werke herauszugeben. Und vielleicht ist unser Poet dann ja im Spiel. Da hat er eigentlich die gleichen Chancen wie all die anderen Poeten, die ähnliches wollen und hoffen.
Die erhoffte Gleichheit im Internet fällt dann aber sehr schnell auf ein mit der realen Welt vergleichbares Niveau zurück. Wenn die Kommunikation über die poetischen Werke beginnt, werden die unterschiedlichsten Voraussetzungen der Teilnehmer deutlich. Jedem Werk liegen Erfahrungen und Wissen zugrunde. Und, wie auch im realen Leben, kommunizieren nun Menschen, die sich persönlich noch nie kennen gelernt haben, auf der Basis höchst unterschiedlicher Erfahrungen und auf der Basis höchst unterschiedlichen Wissens. Und da wird die Gleichheit zum Ideal, das sich wie eine zerplatzende Seifenblase in Luft auflöst. Wie auch im realen Leben.
Und nun haben wir noch als drittes Ideal die Brüderlichkeit. Und in dieser Hinsicht ist der Poet fast gefährdeter als im realen Leben. Nicht jeder kann mit jedem. Nicht jeder will mit jedem. Und neben der fachlichen Kompetenz ist auch die soziale Kompetenz der Gesprächspartner höchst unterschiedlich. Hier birgt das Internet Gefahren und Stolpersteine, die stärker und brutaler gewichtet werden können. Allein die weitgehende Anonymität im Internet frisst am Ideal der Brüderlichkeit.
Brüderlichkeit, das klingt nach Frieden, nach gemeinsamen Handlungen, nach gemeinsamen Zielen nach verständnisvollem Umgang miteinander, nach Kompromissfähigkeit und nach dem Willen zum Kompromiss. Brüderlichkeit klingt nicht nach Streit, Aggression, Zynismus, nach Verletzungen, nach Arroganz, Überheblichkeit, Unterdrückung, Mobbing und auch nicht nach Unversöhnlichkeit. Genau diesen Facetten werden aber im Internet Tür und Tor geöffnet. Die Distanz der Kommunikationspartner ist räumlich gemessen unheimlich groß, obwohl im Netz eine große Nähe suggeriert wird. Die Anonymität ermöglicht es solchen Teilnehmern, die auf Destruktion aus sind, die egoistisch nur ihre eigenen Ziele durchsetzen wollen, nahezu alle Möglichkeiten. Gesprächssituationen, die im realen Leben sehr schnell abgebrochen werden, weil die Gesprächspartner keine gemeinsame Basis finden, sind im Internet sehr langlebig. Und sie werden immer wieder angeheizt von Zuschauern, die ihren Spaß an derartigen Streitereien haben. Die Öffentlichkeit im Netz schafft eine Arena, in der Gladiatoren aufeinander gehetzt werden. In der aber auch Gladiatoren mit völlig unterschiedlichen Waffen aufeinander eindreschen. Man sieht sich ja nicht in die Augen. Man löckt mit spontanen und bewussten Reaktionen gegen den Stachel, man provoziert lustvoll, weil es ja im realen Leben für dieses Handeln keine Konsequenzen gibt. Und da steht nun unser armer, idealistischer Poet, der ja nichts Böses will, und muss mit ansehen, wie seine gute Absicht, der Welt seine Texte zu präsentieren, zu ganz andern Zwecken missbraucht wird. Und da kann es sein, dass unser armer Poet sich überlegt, ob er nicht auch … .
Oder aber, er schaut sich das eine Weile an, und überlegt, was sich da weshalb hinter und vor den Kulissen abspielt. Und dann sieht er folgendes:
Das Gefühl, durch eine mehr oder weniger aggressive, arrogante, süffisante, beleidigende (u. a. m.) Antwort und Kommentaren zu literarischen Texten für eine gewisse Zeit die alleinige Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten, scheint oftmals Anreiz zu sein für aus dem Stand vorgetragene Attacken, die in natürlichen Dialogen (Auge in Auge, oder face-to-face) nur äußerst selten sind. Kontrollmomente, die sofort greifen könnten, fehlen. Man kann sich an den Hals gehen, ohne unmittelbare Reaktionen befürchten zu müssen.
Der Faktor Zeit spielt diesen Protagonisten in die Hände. Auch die Selbstkontrolle, die durch Rezeption der unmittelbaren verbalen, mimischen und gestischen Reaktionen, wird außer Kraft gesetzt. Die teilweise vorhandene Anonymität wird als Schutz wahrgenommen und genutzt, der durch die Austauschmöglichkeiten von Nicks ständig verschoben und erneuert werden kann.
Eingriffe, die als Regulativ in natürlichen Dialogen prinzipiell umgehend erfolgen oder erfolgen können, sind in der Regel – wenn überhaupt – nur zeitverzögert zu beobachten. Am heimischen Computer wird dadurch den aggressionsbereiten Teilnehmern des virtuellen Dialogs die Möglichkeit gegeben, Angriffe und Abwehr vorzubereiten. Die Qualität des Dialogs wird eine andere.
Spontaneität der Antwort kommt nur dann zum Ausdruck, wenn ein durch verbale Attacken verletzter Teilnehmer unmittelbar zur Tastatur greift, wobei auch hier schon die Antwort nicht allein vom Wort, sondern über den Umweg der Tat – des minimal zeitverzögernden Tippens – erfolgt.
Durch diese Mittelbarkeit wird Distanz zerstört. Die Distanz der Gegner/Partner durch Raum und Zeit ist tatsächlich nicht vorhanden. Deshalb fällt es so leicht, ohne weitere Überlegungen zu den Konsequenzen zuzuschlagen, an den Hals zu gehen, zuzutreten.
Die oft beobachtete Rücknahme von Angriffen und Formulierungen durch das manchmal zulässige Editieren des eigenen Textes führt zu einem Ohnmachtverhalten des Gegenübers. Was im direkten Gespräch häufig akzeptiert wird – z.B. ein sofort nachgeschobenen „So war das nicht gemeint, ich korrigiere mich“ u. a. m. – wird in der Internetforenkommunikation durch Kopieren, Archivieren und Zitieren unterlaufen. Man hält dem Gegenüber dauerhaft vor, was er einmal getippt hat.
Die Eskalation ist vorgezeichnet.
Und an diesem Punkt kann unser Poet ganz allein für sich entscheiden, ob sich dieses Theater lohnt. Ob seine Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Internet erfüllt wird. Und wahrscheinlich wird unser Poet ein wenig desillusioniert sein. Aber er wird sich dennoch sagen: Das alles nehme ich auf mich. Weil ich der Welt etwas zu sagen habe. Oder aber auch nicht.
flovonbistram Ein punktuierter Einblick - in die Drängelei um das goldene Kalb. Sehr gerne gelesen Flo |
rolandreaders Mit großem Interesse... - ... habe ich dein Buch gelesen. In manchen Teilen habe ich mich wieder erkannt. Ohne Internett war es wesentlich schwieriger etwas an den Leser zu bringen. Kein Weg führte an irgendwelchen Verlagen vorbei. Die Verantwortlichen dort waren gottgleich. Sie entschieden zwischen Gut und Schlecht. Zwischen Veröffentlichungswert und für die Tonne. Jetz erreicht man wenigstens ein paar Leser. Obs für Ruhm und Ehre reicht, ist eine andere Geschichte. Es ist wie bei jeder anderen Kunst auch. Nicht jeder, der eine Castingshow gewinnt, wird als Superstar von der breiten Masse akzeptiert. |