„Kalter Wind pfeift umher
Eis glitzert im Licht,
die Sterne funkeln nicht mehr,
die Bäume flüstern nicht.
Langsam schreitet sie heran,
mit weißem Haar, im weißen Kleid,
am gefrorenen See entlang,
langsam ist es Zeit.
Ihre Augen sind kalt,
ihr Mund ist rot,
schon tausend Jahre alt,
und frostig wie der Tod.
Sie überquert den See,
Wellen kräuseln das Wasser,
leise darauf fällt der Schnee,
und ihre Gestalt wird immer blasser.
Eiszapfen und Schnee bedecken das Land,
Eisflocken und Kälte beherrschen die Welt,
ewig ist sie dazu verbannt und sie kommt wieder,
die Königin aus Eis.“
Es war still, sehr still. Man konnte draußen den Wind pfeifen hören und wie er die Baumkronen schüttelte und die Kastanien auf den Boden fielen. Keiner sagte einen Ton, manche warfen sich verstohlene Blicke zu. Ich fühlte mich immer unwohler und wäre am liebsten davongerannt. Doch ich blieb stehen, die Beine fest auf dem Boden, mit erhobenem Kopf. „Bravo, Eyrin! Das war einfach wundervoll!“, rief da Femera, unsere Lehrerin und klatschte begeistert in die Hände. Sie kam zu mir, legte mir eine Hand auf die Schulter und wiederholte: „Das war wundervoll! Hast du das selbst geschrieben?“ Zum mindestens tausendsten Mal nickte ich und wünschte mir im Erdboden zu versinken. „Einen kräftigen Applaus bitte“, forderte Femera meine Klassenkameraden auf. Verhaltenes Klatschen war zu hören. Ich neigte den Kopf und huschte dann eilig auf meinen Platz, wo meine Freunde Lorena und Mefirian schon lächelnd auf mich warteten. „Das war gar nicht schlecht“, flüsterte sie mir zu und Mefirian stieß mich sanft in die Seite. Ich grinste schwach und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht zu. Warum musste Femera mich dazu auffordern, eines meiner Gedichte vor der ganzen Klasse vorzulesen? Wenigstens lachten die anderen nicht. Das wäre mein schlimmster Alptraum gewesen. Wahrscheinlich haben die anderen nur geklatscht, weil unsere Lehrerin es ihnen sozusagen befohlen hat, dachte ich grimmig und schaute missmutig nach draußen. Die Blätter fielen von den Bäumen und bildeten einen weichen, dicken, nach Moder und Alter riechenden Teppich auf dem Boden. Es war Herbst hier im Elfenland Mydia und bald stand der Winter vor der Tür. Ich vermisste den Frühling mit den vielen duftenden Blumen und den immergrünen Bäumen und Büschen und dem frischen, duftenden Gras. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht wehmütig zu seufzen. Lorena versuchte mich in ein Gespräch zu verwickeln. „Was machen wir heute nach dem Unterricht?“, fragte sie mich und warf ihre schulterlangen, blonden Haare zurück. Ich bin leicht eifersüchtig auf ihre schönen Haare und die dunkelblauen Flügel, mit silbernen Wirbeln und Kreisen. Dagegen sehen meine Mottenflügel schrecklich und langweilig aus. Lorena ist ein Jahr jünger als ich, also vierzehn, aber trotzdem verstehen wir uns sehr gut. Mefirian und ich kennen und schon ewig und ich mag ihn auch sehr gerne. Unsere Mütter waren schon befreundet, als wir noch ganz klein waren. Auf ihn kann ich mich verlassen. Jeder von uns hat eine Eigenschaft, die gut und schlecht ist, aber trotzdem kommen wir damit klar. Ich bin still, manchmal etwas zu sehr und kann auch sturköpfig sein. Aber ich bin fair und bin freundlich und großherzig (sagen meine Freunde) Lorena ist manchmal ganz schön zickig und ist leicht eingeschnappt, dafür versucht sie immer Streit zu schlichten und ist verständnisvoll. Mefirian kann manchmal ein bisschen überheblich und abenteuerlustig sein, aber er hat ein gutes Herz und ist immer für einen da. Der eine mindert die Macken des anderen. „Ich weiß noch nicht. Du?“, antwortete ich etwas zu spät. „Wollen wir vielleicht in den Wald gehen?“, schlug sie vor und sah mich und Mefirian fragend an. Er zuckte mit den Schultern und meinte: „Keine schlechte Idee.“ Ich stimmte auch zu und Lorena hielt mal für fünf Minuten den Mund, dann plapperte sie wieder los. „Also, wie findet ihr es, dass wir in dieser Woche gleich drei Prüfungen hinter uns bringen müssen?“ Ich knurrte nur ärgerlich, weil ich nichts vom Unterricht mitbekam, Mefirian lachte leise und sagte: „Lorena, halt mal den Mund.“ Gleich zog sie eine Schnute und nahm beleidigt ihre Feder in die Hand. Sage ich doch. Für den Rest der Stunde blieb sie still und dann fragte sie auf dem Gang: „Hast du das Gedicht wirklich selbst geschrieben?“ Ich warf ihr einen verärgerten und leicht verletzten Blick zu. Sie schlug die Augen nieder und murmelte: „Tut mir leid.“ Wir betraten den Klassensaal für die nächste Stunde. Zauberunterricht. Meine Lieblingsstunde. Ich mag zaubern viel lieber als den trockenen Theorieunterricht. Ganz gut bin ich im Zaubern schon, glaube ich. Heute stand Objekte bewegen auf dem Plan. Man musste sich vollkommen konzentrieren und zum Beispiel einen Stein oder ein Blatt schweben lassen. Wir setzten uns an den großen runden Tisch. Lorena links von mir, Mefirian rechts. Der Lehrer begrüßte uns, dann legte er vor jeden von uns einen Stein und forderte uns auf: „Bringt diesen Stein zum Schweben und lasst ihn hin und herpendeln.“ Voller Konzentration sah ich meinen Stein an, bündelte meine Magie und konzentrierte sie darauf, diesen Stein schweben zu lassen. Er erhob sich wackelig in die Höhe, fiel dann aber gleich wieder auf die Tischplatte zurück. Ich hörte verstohlenes Kichern und Flüstern. Das weckte nur meinen Ergeiz. Ich versuchte es noch einmal und der Stein erhob sich in die Luft. Jetzt musste ich ihn in der Luft halten und hin und her schweben lassen. Es funktionierte, der Stein flog leicht nach rechts. Jetzt nach links. Plötzlich fiel ein anderer Stein auf eine steinerne Tischplatte neben mir, wohl aus großer Höhe, denn der Aufprall war so laut, dass ich erschrocken zusammenzuckte und für einen Moment unaufmerksam war. Der Stein schoss nach links, allerdings viel zu weit und raste direkt auf Lorena zu. Sie schrie auf und duckte sich hastig. Unser Lehrer drehte sich um und stoppte den Stein. Ich zog meine Magie zurück und der Stein fiel auf den Tisch. „Eyrin! Du musst lernen dich nicht so leicht ablenken zu lassen!“, rügte er mich. Ich schämte mich in Grund und Boden. Lorena kam wieder unter dem Tisch hervor und ich murmelte: „Tut mir leid.“ Sie lächelte schwach und legte mir dann beruhigend eine Hand auf die Schulter. Mefirian klopfte mir auf die Schulter und meinte tröstend: „Das wird schon noch.“ Ich schenkte ihm ein erzwungenes und missglücktes Lächeln und nahm meinen Stein vom Lehrer entgegen. Die anderen beobachteten mich verstohlen und auf manchem Gesicht sah ich einen Schadenfrohen Ausdruck. Ich hätte ihnen den Stein am liebsten an den Kopf geworfen. Zum Glück blieb ich für den restlichen Schultag von solchen Pannen verschont. Ich seufzte erleichtert, als wir das große Schuldgebäude verließen. Es ist schon sehr alt und steht mitten in einem Wald. Meine Freunde und ich sind gerade im fortgeschrittenen Unterricht. Er war so schon schwierig genug. Wenn ich es nicht einmal schaffte einen blöden Stein zum Schweben zu bringen, wie sollte ich dann erst die Abschlussprüfung in einem Jahr schaffen? Vielleicht mit harter Arbeit. Ich und meine Freunde liefen langsam durch den Wald, Äste knackten und das frische und alte Laub knisterte unter unseren Lederstiefeln. Die Sonne kam nicht richtig zu uns durch und ihr Standpunkt sagte uns, dass es schon Mittag war. Wir hätten auch fliegen können, aber wir wollten lieber laufen und die Natur genießen. Außerdem wollte ich in Zukunft meine Flügel nur im Notfall benutzen, denn ich finde es blöd zu fliegen, nur weil man zu faul zum Laufen ist. In den Baumkronen raschelte es und Eichhörnchen flitzten die Baumstämme herauf und herunter und versteckten ihre Wintervorräte schon jetzt. Die Tage wurden kürzer und langsam wurde mir bewusst, dass bald der Winter mit seiner Kälte und den kurzen, frostigen Tagen kommen würde. Ich würde meinen Eltern helfen müssen, Vorräte zu sammeln und meiner Mutter, warme Fellkleidung zu nähen. Eigentlich mag ich nähen und sticken, aber ich finde es unfair, dass meine kleine Schwester nie mithelfen muss. Aber abgesehen davon liebe ich sie sehr. Obwohl vier Jahre zwischen uns liegen, verstehen wir uns gut. Auf sie kann ich mich verlassen und Geheimnisse sind bei ihr sicher. Arlene sieht fast so aus wie ich, nur sind bei ihr die Flügel durchsichtig mit einem Blumenmuster, im Gegensatz zu meinen hässlichen Mottenflügeln. Die Augen hat sie von Vater, aber wir beide haben den Charakter unserer Mutter geerbt. Gut, vielleicht bin ich manchmal etwas sturer als sie. Wir kamen aus dem Wald heraus und überquerten ein Feld. Das Korn war schon eingebracht. Frauen sammelten Äpfel vom Boden auf und suchten im Wald nach späten Beeren. Wir beschlossen, ihnen zu helfen, schließlich gehörten sie ja auch zu unserer Gemeinschaft, die für den Winter immer Unterschlupf bei unserem Königspaar Wyran und Karla sucht und ihnen als Dank Korn, Beeren, Kastanien und Eicheln bringt. Das ist so Brauch. Wir sahen auch kleine Kinder mit winzigen Flügeln, die beim Äpfelpflücken mithalfen. Einige stibitzten sich Äpfel und bissen hinein, bevor ihre Mütter sie scholten. Ich grinste in mich hinein und pflückte Apfel für Apfel. Manche waren schon überreift, doch die konnte man noch gut zu Apfelmus oder Kompott verarbeiten. Mefirian unterhielt sich mit den Frauen, lachte und strubbelte den Kindern durchs Haar. Ich lächelte und ging dann zu ihm herüber. Er unterhielt sich gerade mit einer Erdelfe mit braunen Flügeln, schwarzen Haaren und mit einem Korb unterm Arm. „Sie hat eine neue Zofe mit der sie sehr zufrieden ist. Aber die Freundin, einer Freundin von mir, die eine der Mägde der Königin kennt, hat mir erzählt, dass die Zofe ein freches Mundwerk hat und über die anderen Zofen und Mägde spottet und ihnen das Leben schwer macht. Nur bei der Königin ist sie lieb und fügsam, hat meine Freundin mir gesagt. Außerdem soll diese Frau den anderen Mädchen und Frauen gedroht haben, wenn sie der Königin etwas Schlechtes über sie sagten, würde sie sie bei ihrer Herrin anschwärzen und für ihre Entlassung sorgen“, hörte ich die Frau gerade sagen. Mefirian und sie bemerkten mich anscheinend nicht, so sehr waren sie in ihr Gespräch vertieft. Er erwiderte: „Gerüchten soll man nicht immer glauben. Viele geben sie weiter und erfinden immer mehr falsche Dinge hinzu und am Schluss kommt eine Geschichte heraus, bei der man nicht weiß, was wahr und was falsch ist.“ Die Frau nickte, wenig überzeugt und murmelte: „Meine Freundin weiß, was sie gehört und mitbekommen hat.“ Dann verabschiedete sie sich von Mefirian und ging ihrer Wege. Erst jetzt schien mein Freund mich zu bemerken, denn er zuckte leicht zusammen, als er mich sah und fragte: „Eyrin, wie lange stehst du denn schon hier?“ Ich beschloss ihm nicht zu verraten, dass ich das Gespräch mitangehört hatte Ich dachte es würde ihn verärgern, dass ich ihn bei einem privaten Gespräch belauscht hatte. „Ich bin eben erst gekommen“, log ich und zupfte an einer hellbraunen Haarsträhne herum. Er nickte und meinte dann: „Komm, wir suchen Lorena und gehen weiter.“ Ich nickte und wir fanden unsere Freundin oben in einer spärlich belaubten Baumkorne. Sie pflückte gerade einen Apfel. Ein paar hatte sie sich in ihre Armbeuge gelegt. „Lorena wir wollen gehen!“, rief ich hinauf. Sie erschrak heftig und schwankte leicht. Dabei fielen ihr die Früchte herunter und sie regneten auf mich und Mefirian herab. Lachend wichen wir ihnen aus. Lorena kam zerknirscht zu uns. Ich sammelte die Äpfel kichernd wieder ein und reichte sie ihr lächelnd. „Tut mir leid“, murmelte sie und nahm die Äpfel entgegen. „Nicht der Rede wert.“ Wir überquerten das Feld und liefen nach Hause.
Meine Familie lebt wie alle anderen Elfen in kleinen zweistöckigen Steinhäusern mit aus Lehm geformten Ziegelsteinen. Manche hatten Holzbalkone oder es hingen bunte Blumen aus den Fenstern. Wilder Efeu und Wein wuchsen an manchen Hauswänden empor. Die Häuser standen in langen Reihen links und rechts einem Kiesweg der sich nach Norden schlängelte. Es waren ungefähr dreihundert Häuser. Nicht viel, unser Dorf hatte gerade einmal sechshundert Einwohner. Alles Elfen. Es gibt Elfen die her bei Tag aktiv werden und solche die erst in der Nacht ríchtig zum Leben erwecken. Meine Freundin Lorena gehört auch dazu. Sie läuft nachts gerne draußen herum, betrachtet den Sternenhimmel und den Mond und kommt immer erst im Morgengrauen zurück. Sie ist aber nie müde und ihre Augen funkeln dann immer so freudig und lebendig. Hier leben auch Elfen die sich gerne im Nassen aufhalten, Elfen mit blauer Haut, Erdelfen, welche die mit Tieren sprechen können oder die ganz winzig waren. Minielfen eben. Manche hier haben Flügel, manche nicht. Schon viele Generationen leben hier in diesem Dorf. Trotzdem verstehen wir uns alle gut. Lorenas Familie gehört zu den Nachtelfen und Mefirians zu den gewöhnlichen. Meine Familie ist irgendetwas zwischen Tag und Nachtelfen. Manchmal gebe ich mir den Spottnamen „Mottenelfe“ Ich hasse meine Flügel und würde alles dafür geben so schöne zu haben wie Lorena oder Mefirian. Die beiden verabschiedeten sich von mir und verschwanden in ihren Häusern. Unseren Ausflug zum See mussten wir auf morgen verschieben. Ich lief die Straße bis zu unserem Haus entlang, an dessen Seiten Brombeerranken wucherten. Eine kleine Treppe führt zur Eingangstür, auf der eine Sonne und ein Mond und unsere Namen eingeritzt sind. In jede Haustür ist ein Symbol eingeritzt, das zeigt welche Elfenart dort wohnt. Lorenas Familie trägt als Wappen einen Vollmond, Mefirians ein einfaches Blatt. Die Wasserelfen haben einen See eingeritzt, die Landelfen ein Tal und so weiter. Ich klopfte an die Tür, die von meiner Schwester geöffnet wurde. Sie trug ein einfaches braunes Kleid mit einer schmutzigen Schürze und hatte ihr leicht gewelltes hellbraunes Haar zu zwei Zöpfen geflochten. Ihre süßen Flügelchen schimmerten im schwachen Sonnenlicht, das durch das Fenster im Wohnraum fiel. „Wo warst du so lange? Mama hat sich Sorgen gemacht!“, flüsterte sie mir zu. „Tut mir leid wir haben den Frauen beim Äpfelpflücken geholfen.“ Arlene nickte kurz, dann ließ sie mich eintreten. Mama saß an der Spindel und spann Wolle für dicke Pullover oder als Füllung für Stiefel und Kleider. Ich trat in den dämmrigen Raum, der von zwei Kerzen schwach erhellt wurde. Mutter sah auf, als ich die Tür schnell hinter mir schloss, damit nicht noch mehr kalte Luft ins Zimmer kam. Die Kerzenflammen flackerten im Luftzug. „Eyrin wo warst du denn nur, ich dachte du würdest nach der Schule gleich nach Hause kommen!“ „Ich und meine Freunde haben den Frauen geholfen Äpfel zu pflücken“, erklärte ich und ging zu Mutter, die aufgehört hatte zu spinnen und von ihrer Arbeit aufsah. Ich gab ihr schnell einen Kuss auf die Wange und ging dann zur Vorratskammer, um mir eine Scheibe Brot und Käse zu holen. Ich setzte mich an den Tisch und Arlene neben mich, obwohl sie doch schon gegessen haben musste. Doch sie wollte mir anscheinend Gesellschaft leisten. Das sind die Momente in denen ich meine Schwester am meisten liebe und sie am liebsten die ganze Zeit drücken will. Ich kaute auf dem etwas harten Brot herum und dachte an meine Panne im Zauberunterricht. Wie konnte mir so etwas passieren? Ich war doch sonst so konzentriert. Hätte mich dieser dämliche Stein nicht abgelenkt der auf den Tisch gefallen war. Ich war mir sicher, dass Camilla dahinter steckte, diese Blöde, arrogante Kuh die meinte, nur weil ihre Mutter eine Zofe der Königin war und ihr Vater Pferdezüchter, müssten ihr alle zu Füßen liegen. Mein Vater ist leider nur ein armer Heiler. Er zieht immer viel herum, trotzdem hat er immer Zeit für mich, Mama und Arlene, wenn er nach Hause kommt. Obwohl sie immer lange und oft getrennt sind, lieben Mama und Papa sich noch immer wie am ersten Tag. Lorenas Eltern hatten sich leider getrennt, Mefirians Mutter war vor drei Wintern an hohem Fieber gestorben. Sein Vater Adren und er wohnten nur fünf Häuser von uns entfernt. Mefirians Vater hatte den Tod seiner Frau noch immer nicht überwunden, aber trotzdem nimmt er irgendwoher die Kraft sich um seine vier Kinder zu kümmern. Mefirian ist der älteste von ihnen. Lorena hat leider keine Geschwister, aber wenn sie mich oder Mefirian besucht, spielt sie immer mit unseren Geschwistern und wir gönnen ihr die Freude. Ich hatte mein Abendessen gegessen und machte mich fürs Bett fertig. Morgen hatten wir Verteidigungsunterricht. Er bestand aus zwei Arten der Verteildingung: Körperlicher, bei der man auch einen schweren Flugparcours absolvieren muss und magischer. Wir, die Fortgeschrittenen, lernten nun den zweiten Teil. Allerdings war es die erste Stunde in diesem Fach, weil sich einfach kein Lehrer für diese Aufgabe finden ließ. Schließlich hatte unsere Lehrerin im Zaubertränkebrauen, Marena, sich dazu bereit erklärt unsere Klasse in diesem Fach zu unterrichten. Hoffentlich würde die erste Stunde nicht zu heftig werden. Ich schaffe dass, sagte ich mir und kämmte mein glänzendes Haar und flocht es dann zu zwei Zöpfen, damit sie beim Schlafen nicht zu sehr zerzausten, und zog mein Nachthemd an. Arlene kam ins Zimmer, wir beiden teilen das Zimmer, wie unsere Eltern auch. Sie lächelte mir zu und schlüpfte dann ins Bett. Da ich heute zu müde war, schmiss ich mein Kleid und die Stiefel einfach unordentlich in meine Kleidertruhe. Es sah aus, als hätten wilde Katzen darin herumgetobt, alles lag drunter und drüber. Morgen würde ich Ordnung schaffen. Müde tapste ich zu meinem Bett, das sozusagen in meiner Hälfte des Zimmers stand. Mein kleines Reich bestand aus drei brettern auf denen Bücher standen, meiner Kleidertruhe, meinem Bett und einem Spiegel. Er war am Rad mit Kristallen verziert. Mutter hatte ihn von ihrer Mutter geerbt und ihn dann ihrer ältesten Tochter weitergegeben: mir. In Arlenes Hälfte sah man auch Regale, nur lagen auf ihnen Stickereien, Stickrahmen und Stoffstücke. Obwohl meine Schwester erst elf ist, kann sie schon wunderbar sticken und nähen. Ihr schönstes Werk hing über ihrem Bett. Es war ein weißes Einhorn, das an einem Wasserfall trank. Ich liebe dieses Bild einfach. Leider kann ich nicht so schön nähen wie Arlene, Dinge die sie nicht kann aber ich, falle mir überhaupt nicht ein. Ich kuschelte mich in meine Decken und schlief kurz darauf ein.
Zwei
òò
Ich erinnere mich an einen Alptraum:
Plötzlich stehe ich vor einer großen Burg, die von einer starken Mauer umfasst wird. Es gibt einen Turm an der Seite. Sie steht auf einer Klippe, gegen die Wellen schlagen und die Meeresbrandung rauscht ohrenbetäubend. Niemand ist zu sehen und die Zugbrücke ist nicht hochgezogen. Ich drehe mich um, doch hinter mir ist nichts. Nur Schwärze. Also wage ich einen Schritt. Nichts. Noch einen Schritt und noch einen. Als ich an der Zugbrücke ankomme, zögere ich noch sie zu überqueren. Doch dann höre ich hinter mir Geflüster und Wispern. Ohne zu überlegen überquere ich den Burggraben und wage es nicht herunterzusehen. Nur noch ein Schritt trennt mich von der sicheren Burg. Dann stößt mich plötzlich etwas in den Rücken. Überrascht und panisch versuche ich zu schreien und mein Gleichgewicht wiederzufinden, doch es ist bereits zu spät. Mit einem lautlosen Schrei und dem Rauschen der Wellen in den Ohren, falle ich in den dunklen Burggraben...
Selbst am Morgen verfolgte mich der Traum noch. Ich versuchte mir nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen. Schließlich war es doch nur ein blöder Traum. Ich ging ganz normal, kurz nach Sonnenaufgang zur Schule. Ich holte Lorena und Mefirian ab, die schon am Ende des Dorfes auf mich warteten. Sie sahen wohl wie blass ich war, denn Lorena fragte besorgt: „Alles in Ordnung, Eyrin?“ Ich nickte und erklärte: „War nur ein Alptraum in der Nacht.“ „Was hast du denn geträumt?“, wollte Mefirian interessiert wissen. Er beschäftigt sich gerne mit Träumen und will einmal Traumdeuter werden. „Ach von so einer Burg auf einer Klippe in einem Meer. Ich bin über die heruntergelassene Zugbrücke gegangen, wurde von irgendetwas gestoßen und bin in den Burggraben gefallen“, erzählte ich und zuckte mit den Schultern. „Eine Burg auf einer Klippe, an einem Meer?“. Fragte Mefirian noch einmal nach. Ich nickte. „Das ist die Burg des Königspaares.“ Ich blieb stehen, als wäre ich gegen eine Glasmauer gelaufen und starrte meinen Freund ungläubig an. „Meinst du wirklich?“, meinte Lorena skeptisch. Mefirian nickte entschlossen. „Ich bin völlig sicher, hier gibt es keine andere Burg, die auf einer Klippe steht.“ „Woher willst du das wissen?“, fragte ich und lief langsam wieder los. „Ich weiß es einfach. Diese Frau, mit der ich gesprochen habe, hat mir die Burg genau beschrieben.“ Den Teil des Gesprächs hatte ich nicht mitbekommen. Wir kamen am Schulgebäude an, bevor ich antworten konnte. Gut, dann mal los, murmelte ich in Gedanken und betrat das Schulgebäude. Fast alle Schüler waren schon da. Unsere Schule hat etwa achthundertdreißig. Es gab nicht nur unser Dorf. Wenigstens fand die Selbstverteidigungsstunde erst am Ende des Tages statt. Ein kleiner Aufschub. Jetzt mussten wir allerdings zum Zaubertrankbrauen. Wir liefen die Treppe hoch, in einen großen Raum, mit ungefähr zwanzig Feuerstellen, über denn die schon uralten Kessel hingen. Regale, vollgestopft mit kleinen Fläschchen, Kräutern und Pflanzen und Lehrbüchern, bedeckten drei der vier Wände. Es roch nach Blumen und nach knisternder Magie. Unsere Lehrerin Marena erwartete uns schon und rauschte heran. „Willkommen beim Zaubertränkebrauen.“ „Wir kennen uns doch schon. Und das ist nicht unsere erste Stunde“, bemerkte ich vorsichtig. „Ach wirklich? Da muss ich wohl etwas verwechselt haben“, murmelte Marena zerstreut und strich sich über das Haar. „Gut, dann begebt euch hinter die Kessel und braut den Trank, den ich euch hier aufgeschrieben habe“, forderte sie uns auf und reichte uns allen ein beschriebenes Blatt. Darauf stand:
Wahrheitstrank. Eine Prise Salz, drei Minzeblätter, ein Löffel Honig, vier Blätter Semar. Zutaten nacheinander ins kochende Wasser geben, umrühren und warten, bis eine weiße Dampfwolke aufsteigt.
„Ok“, murmelte ich und machte mich zögernd an die Arbeit. Ich warf nacheinander die Zutaten in den Kessel und wartete dann. Ich drehte mich noch einmal um, weil ich eine Zutat vergessen hatte: Semar. Das ist eine spezielle Pflanze, die nur bei uns wächst und bewirkt, dass man die Kontrolle darüber verliert, was man sagt. Als ich mich wieder umdrehte, blubberte und brodelte mein Trank heftig. Verwirrt fragte ich mich, was ich denn falsch gemacht hatte. Hastig warf ich Semar rein und rührte um. Es zischte und mein Trank kocht über. Er trat über den Rand, schäumend und bläulich verfärbt. Ich wich hastig zurück. „Was ist denn jetzt los?“, rief ich panisch und wich noch weiter zurück. Der Inhalt des Kessels hatte sich inzwischen über den Boden ergossen und kam meinen Füßen gefährlich nahe. Es war doch nur ein Wahrheitstrank, ich wusste selbst nicht warum ich so panisch war. Marena merkte nichts, sie beschäftigte sich gerade mit Camilla die doch überhaupt gar nichts konnte außer vielleicht ihre Kleidung auswählen. Ich musste das Problem irgendwie alleine lösen. Fieberhaft überlegte ich, was ich denn tun sollte. Wenn ich doch nur wüsste warum der Trank übergelaufen ist! Hatte ich mich mit der Menge der Zutaten vertan? Selbst wenn man etwas zu viel erwischte, schäumte der Trank doch nicht dermaßen über. „Marena, sieh mal was Eyrin da anstellt“, hörte ich Camilla zuckersüß sagen. Am liebsten hätte ich ihr den Hals umgedreht. Hastig streckte ich meine Hand aus und fror den Trank ein, gerade als Marena sich zu mir umdrehte. „Eyrin! Was hast du denn gemacht?“, rief Marena und kam zu mir. „Ich hatte euch doch eine Liste gegeben. Wahrscheinlich hast du wieder nicht genau aufgepasst“, schimpfte sie ärgerlich und taute das Gemisch wieder auf. Dann machte sie es wieder rückgängig und der Trank wich in den Kessel zurück, wie ein verängstigtes Tier. Wie bitte? Ich und nicht richtig aufgepasst? Was unterstellte Marena mir denn da? Sie wusste doch selbst, dass ich immer aufpasste, besonders bei Zaubertränken. Camilla musste ihr etwas eingeredet haben. „Los, hol einen Lappen und putze das Zeug weg.“ Marena ging wieder zu Camilla die mich höhnisch angrinste. Ohne mir meine Wut anmerken zu lassen, ging ich zum Hausmeister, holte mir einen Lappen und wischte scheinbar seelenruhig die Sauerei auf. Doch innerlich kochte ich vor Wut. Was bildete diese blöde Camilla sich eigentlich ein? Das schlimmste an der ganzen Sache war ja, dass ich die Situation nicht gerade souverän gemeistert hatte. Das ärgerte mich am meisten. Ich hatte keine Lust mehr mich von dieser blöden Kuh verspotten und angrinsen zu lassen, deshalb tat ich so als hätte ich einen Schock erlitten und mir ginge es nicht gut. Lorena merkte was ich vorhatte und half mir. Dafür liebte ich sie noch mehr. „Marena, ich glaube Eyrin geht es nicht gut“, rief sie der Lehrerin zu. Plötzlich begann ich wie auf Kommando zu zittern. Selbst darüber verwundert wollte ich zur Lehrer gehen, doch ich rutschte auf einem Rest des Wahrheitstrankes aus und fiel auf den Boden. Marena drehte sich um, sah mich auf dem Boden liegen und kam zu mir. Auch Mefirian und Lorena hatten ihre Plätze verlassen und eilten zu mir. Marena half mir besorgt auf und meinte zu Lorena: „Bringe sie bitte zur Heilerin, ja?“ Meine Freundin nickte, legte mir einen Arm um die Hüfte und führte mich aus dem Raum. Draußen platzte ich wütend heraus: „Diese hinterhältige Schlange! Langsam reicht es mir mit ihr!“ „Glaubst du etwa Camilla hätte etwas damit zu tun?“, fragte Lorena mich, während wir den Gang entlang liefen. Ich schnaubte. „Hallo? Wir haben es hier mit Camilla zu tun! Beantwortet das deine Frage?“ Daraufhin schwieg sie. Wir hatten das Krankenzimmer erreicht und sagten der Heilerin bescheid. „Gut. Leg dich ein bisschen hin. Wenn etwas sein sollte, rufe mich einfach.“ Ich nickte und ließ mich auf die unbequeme Pritsche sinken. Ich schloss die Augen, doch sofort kamen mir die Bilder aus meinem Traum wieder in den Sinn. „Soll ich bei dir bleiben?“, fragte Lorena und unterbrach meine Gedanken. „Nein, das musst du nicht. Ich will nicht, dass du zu viel vom Unterricht verpasst“, erwiderte ich und drehte mich auf die Seite. „Aber zur letzten Stunde kommst du doch oder?“ Sie erhob sich. „Vielleicht.“ Ich hörte wie ihre Schritte sich entfernten. Ich versuchte wach zu bleiben und nicht einzuschlafen, doch dann siegte doch die Müdigkeit.
Noch immer falle ich und habe keine Ahnung wie lange eigentlich. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich lande im Burggraben und tauche unter Wasser. Es ist schwarz und undurchdringlich. Verzweifelt bemühe ich mich, wieder an die Wasseroberfläche zu kommen, doch es ist so als würde ich mich keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Langsam wird die Luft knapp und das Wasser scheint immer dunkler zu werden. Ich muss hier sofort raus! Plötzlich komme ich der Wasseroberfläche ein bisschen näher. Mit neuer Hoffnung schwimme ich schnell weiter nach oben. Ich habe die Wasseroberfläche fast erreicht, da zieht mich etwas mit einem Ruck wieder herunter. Panisch und enttäuscht will ich wieder nach oben, doch ich werde nur weiter runtergezogen. Immer tiefer und weiter weg von der rettenden Oberfläche. Der letzte Luftzug ist unerträglich und schmerzhaft. Ich werde sterben...
Erschrocken fuhr ich hoch und sah mich hektisch um. Aber ich sah kein Wasser und auch keine Burg. Nur das kleine Krankenzimmer mit dem kleinen Schränkchen und den drei Betten. Erleichtert strich ich mir das Haar aus der Stirn und schwang die Beine vom Bett. Dann suchte ich die Heilerin. Sie kümmerte sich gerade um ein Mädchen, dass sie beim Flugunterricht den Flügel verknackst hatte. „Ich fühle mich schon viel besser, also gehe ich jetzt“, sagte ich und wollte schon zur Tür hinaus. „Bist du dir sicher Eyrin? Du siehst ziemlich blass aus“, meinte die Heilerin zweifelnd und musterte prüfend mein Gesicht. „Ja, ich hatte nur einen kleinen Alptraum“, erwiderte ich schnell und verschwand aus dem Raum, bevor sie mir noch Fragen stellen konnte. Eilig rannte ich nach draußen und hinter das Schulgebäude. Dort befindet sich ein runder abgesteckter Trainingskreis in dem wir trainieren können. Außerdem gibt es im Wald ja noch den Flugparcours. Von weitem sah ich, dass meine Klasse sich um den Ring versammelt hatte und gespannt bei etwas zusah. Mist, der Unterricht hatte schon begonnen. Ich rannte eilig hin und dann sah ich, was die anderen so spannend fanden: Camilla und Mefirian kämpften gegeneinander. Ich stellte mich neben Lorena, die mich fragend ansah. Ich schüttelte den Kopf um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war, dann wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Kampf zu. Die beiden Gegner umkreisten sich und ließen den anderen nicht aus den Augen. Camilla startete einen Angriff. Sie lenkte ihre Magie in den Boden und ließ die Erde hochschießen. Obwohl Mefirian seine Gegnerin nicht mehr sehen konnte, wich er ihrem plötzlichen Energiestrahl aus. Camilla ließ die Erdwand wieder in sich zusammensinken und das war ein Fehler. Denn Mefirian konnte sie jetzt wieder sehen und sie war für einen Moment unachtsam. Schnell fesselte er ihre Füße an den Boden. Camilla schien vollkommen verblüfft und versuchte vergeblich sich aus den Fesseln zu winden. Dann schien ihr einzufallen, dass sie ja magische Kräfte hatte und ließ so viel Druck auf die Fesseln prasseln, bis sie zersprangen. Meinen Freund beeindruckte das nicht im Geringsten. Er gab Camilla keine Zeit sich zu erholen und erschuf aus seiner Magie ein Seil. Er schwang es in Camillas Richtung. Sie wollte das Seil in der Luft stehen bleiben lassen, doch sie war zu langsam. Das Seil schlang sich um ihren Oberkörper, nicht fest, um ihr nicht wehzutun und zog sie zu Boden. Camilla rief: „Aua! Er tut mir weh!“ Keiner glaubte ihr. Jeder wusste, dass Mefirian ein fairer Gegner war und niemandem etwas zuleide tun konnte. „Ja, ja Camilla, du kannst mit dem Theater aufhören“, erklärte Marena und Mefirian ließ das Seil wieder verschwinden. Camilla sah ihn hasserfüllt an, doch er blieb ganz ruhig. „Gut, gemacht Mefirian, du hast eine Schwachstelle gefunden und zugeschlagen und dich nicht aus der Ruhe bringen lassen“, lobte die Lehrerin. Mefirian nickte lächelnd, dann stellte er sich neben mich. „Eyrin, schön dass es dir besser geht“, meinte er und zwinkerte mir zu. Ich lächelte und zuckte dann erschrocken zusammen, als Marena plötzlich rief: „Eyrin, Lorena! Ihr seid als nächste dran!“ Wir wechselten einen entsetzten Blick. Zögernd traten wir in den Ring. Ich bemerkte, wie Mefirian uns besorgt nachsah. Ich schluckte krampfhaft und dachte immer wieder: Ich kann doch nicht gegen meine Freundin kämpfen. Unsicher stellten wir uns gegenüber. Ich versuchte Lorena aufmunternd anzulächeln, schaffte aber nur ein leichtes verziehen der Mundwinkel. „Los!“, rief Marena. Nichts. Ich rührte mich nicht und Lorena auch nicht. „Na los ihr beiden. Ihr wollt doch keine schlechten Bewertungen.“ Lorena hob hilflos die Achseln, dann griff sie mich an. Obwohl ich es gesehen hatte, wich ich nicht zurück. Der Zauber traf mich mit voller Wucht und warf mich zu Boden. Die anderen Schüler tuschelten und flüsterten miteinander. „Was für eine Zimperliese!“ „Das ist nicht fair. Wir mussten auch alle kämpfen!“ Ich biss die Zähne zusammen und erhob mich langsam. Lorena sah mich ängstlich an, um sich zu vergewissern, dass sie mir nicht wehgetan hatte. Ich schenkte ihr kein beruhigendes Lächeln, sondern konzentrierte mich auf meine Magie. Halbherzig ließ ich einen Energiestrahl auf die zusausen. Auch sie machte keine Anstalten auszuweichen. „Los, weich aus!“, schrie ich sie mit Tränen in den Augen an. Doch sie rührte sich nicht. In letzter Sekunde aber schien sie ihre Meinung doch zu ändern, denn sie wehrte den Energiestrahl ab und lenkte ihn in meine Richtung. Unsere Freundschaft war vergessen, im Moment war sie meine Gegnerin, nicht meine Freundin. Ich wich ihm aus und ließ eine Windböe den Sand aufwirbeln. Lorena hustete erstickt und versuchte sich vor dem Sand zu schützen. Meine Güte, ich kämpfe gegen meine eigene Freundin!, schoss es mir durch den Kopf. Ich ließ den Sandsturm aufhören und Lorena und ich starrten uns atemlos an. Ich wollte ihr nicht wehtun und nicht gegen sie kämpfen. Aber ich musste... Ohne zu überlegen rannte ich aus dem Ring heraus. Ich hörte Marena hinter mir rufen: „Eyrin halt! Der Unterricht ist noch nicht vorbei!“ Doch ich stellte mich taub und faltete meine Flügel auseinander. Ich flog weiter und wagte es nicht mich umzudrehen. Anscheinend folgte mir niemand. „Pah! So eine Heulsuse! Die kann ja gar nichts!“, hörte ich Camilla verächtlich rufen und mir stiegen Tränen in die Augen. Jetzt hatte ich ihr einen Grund zum sticheln gegeben. Jetzt konnte sie mich ewig damit aufziehen. Ich hörte Lorena wütend schreien: „Halt die Klappe du blöde Ziege! Sie ist besser als ihr alle zusammen!“ Dann hörte ich wie hinter mir jemand herflog. Ich drehte mich um und sah Lorena. „Komm, verschwinden wir von hier“, sagte ich und reichte ihr meine Hand. Sie nahm sie und zusammen flogen wir in unser Dorf und ließen die Rufe der anderen hinter uns.
Drei
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Erst in unserem Dorf wurde mir bewusst, was wir getan hatten. Wir würden mächtig Ärger bekommen und nicht nur mit unserer Lehrerin, sondern auch mit unseren Eltern. Wahrscheinlich würden wir eine Strafe erhalten, wie: Die Klassenräume zu säubern oder den Lehrern zu assistieren. Alles echt ätzend, aber wenigstens mussten wir uns nicht mehr bekämpfen. „Ich will so etwas nie wieder machen!“, schniefte Lorena und wischte sich über die Augen. „Ich auch nicht“, stimmte ich ihr zu und legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter. Ich wollte gar nicht daran denken, was meine Mutter dazu sagen würde. Sie schätzte es nicht sehr, wenn ich und meine Schwester uns danebenbenahmen. Heute war eigentlich das erste Mal, dass ich mich der Lehrerin so wiedersetzt habe. Ich war gleichzeitig stolz und wütend auf mich. Was hatte ich bloß getan? Oh weh, ich konnte froh sein, wenn Mutter mich nicht in mein Zimmer einsperrte und mich nur rausließ um in die Schule zu gehen. Andererseits: Was hatte ich denn bitte schön so schlimmes getan? Ich wollte doch nur nicht gegen meine beste Freundin kämpfen, war das gleich ein Verbrechen? Nein, aber einfach wegzulaufen und sich der Lehrerin zu wiedersetzen schon. Nicht mehr daran denken. „Warum sind wir eigentlich hierher geflogen? Hier finden uns unsere Eltern doch sofort und fragen uns, warum wir nicht in der Schule sind“, flüsterte Lorena mir zu, als würde lautes sprechen allein unsere Eltern herlocken. „Ich weiß nicht. Wollen wir lieber zur Waldhütte gehen?“, schlug ich vor. Lorena nickte. Die Waldhütte war eine kleine, verlassene Holzhütte im Wald. Lorena, Mefirian und ich kannten sie schon, seit wir klein waren. Dort hatten wir uns immer versteckt, wenn wir uns vor der Hausarbeit oder vor Ärger drücken wollten. Schnell verließen wir das Dorf wieder und wandten uns dem Wald zu, nur ein paar Meter entfernt. Wir liefen lieber, denn fliegen war hier wegen der eng aneinander stehenden Bäume schwierig. Nachdem wir ein paar verschlungene Pfade und Bäche überquert hatten, kam die Hütte in Sicht. Sie sah noch genauso aus wie in meiner Erinnerung, das letzte Mal war ich hier gewesen, als ich zwölf gewesen war. Die Hütte versank beinahe in Laub und Efeu. Sie stand ein wenig schief und es gab nur zwei Fenster. Es gab nur ein Stockwerk und einen großen Kamin. Die Tür hing schief in den Angeln und ließ die Öffnung wie einen dunklen Schlund frei. Auf einmal war ich mir gar nicht so sicher, ob ich da reingehen wollte. Lorena bemerkte nichts von meiner Unsicherheit und lief begeistert auf unser früheres Versteck zu. Da ich die Idee gehabt hatte und nicht als Angsthase dastehen wollte, riss ich mich zusammen und folgte ihr. Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen, als ich eintrat. In der Hütte war es dunkel, obwohl keine Vorhänge vor den zwei winzigen Fenstern hingen. Auf dem Boden lagen Staub, Laub, das der Wind hereingeweht hatte und Scherben. Ein zerbrochener Stuhl und ein kaputter Teller knirschten unter den Sohlen meiner Stiefel, als ich aus versehen darauf trat. Hastig sprang ich einen Schritt vor, wobei ich beinahe gegen Lorena stieß, die mich verärgert ansah. „Was ist denn los? Hast du etwa verlernt im Dunkeln zu sehen?“, flüsterte sie. Ich schämte mich sogleich und schnaubte: „Nein, ich bin nur gestolpert.“ Lorena erwiderte daraufhin nichts, sondern öffnete eine weitere Tür. „An diesen Raum kann ich mich nicht erinnern“, rief sie von drinnen zu mir. Skeptisch betrachtete ich das alte verstaubte Zimmer. Ein altes und durchgebrochenes Holzbett stand an der einen Wand, ein Schminktisch an der anderen. Auf einer morschen Holztruhe entdeckte ich alte zerrissene Kleider, die vom Deckel rutschten als Lorena ihn hochstemmte und in der Truhe herumwühlte. Staub wirbelte auf und brachte sie zum husten. „Lass das lieber“, sagte ich und trat in den Raum. Ich sah mich weiter um. Mottenzerfressene schwere Vorhänge hingen vor Fensteröffnungen. Ich hatte immer gedacht es gäbe nur zwei Fenster. Komisch, ich konnte mich auch gar nicht an dieses Zimmer erinnern. Aber vielleicht war die Tür ja die ganze Zeit über geschlossen gewesen und wir Kinder hatten sie entweder nicht öffnen können oder es nicht gewagt. Keine Ahnung. Während Lorena weiter in der Truhe herumkruschte, ging ich zum Schminktisch und setzte mich auf den wackeligen Stuhl. Zu meinem Erstaunen zerbrach er unter meinem Gewicht nicht, was ich irgendwie unheimlich fand. Ich zog eine der schmalen, mit Schnitzereien verzierten Schubladen auf. In ihr befanden sich ein paar eiserne Haarklammern und ein Kamm aus Horn. In einer anderen fand ich ein kleines Fläschchen mit Rosenwasser, Haarbänder aus zerschlissenem Stoff und ein feines, zartes Goldarmband mit einem Herzanhänger aus Rosenquarz. Verwundert nahm ich das Armband heraus und hielt es gegen das spärliche Licht. Ich konnte leider nichts erkennen. Schnell ließ ich das Kettchen in einen Beutel an meiner Hüfte verschwinden. „Ich hab was gefunden!“, rief Lorena triumphierend und zog etwas aus der Truhe heraus. Es war nicht besonders beeindruckend. Nur ein altes Stück grauen Stoffs. Unter dem Staub sah ich nicht worum es sich handelte, wahrscheinlich um eine Tischdecke oder ein Bettlacken. „Komm lass uns gehen“, drängte ich, mir war nicht ganz wohl bei der Sache. „Gut, aber heute Abend kommen wir wieder und holen es uns.“ Sie legte den Stoff wieder in die Truhe zurück. „Von mir aus. Jetzt beeil dich. Dieser Ort ist mir nicht geheuer.“ Lorena kam zu mir und ich rannte beinahe aus der Tür, stolperte über ein abgebrochenes Stuhlbein und ins Freie, während Lorena die Tür hinter sich schloss. Dann folgte sie mir. „Eyrin, was ist denn los? Warum bist du plötzlich so ängstlich?“, fragte sie verständnislos. Ehrlich gesagt wusste ich es auch nicht. Aber es kam mir so vor, als hätten wir gar nicht in diesem Zimmer sein dürfen. Eigentlich war es ja Unsinn, denn die Hütte war seit Jahren verlassen und niemand wohnte mehr darin. Oder doch? Nein, die Sachen hatten alle nicht danach ausgesehen. Wir gingen wieder ins Dorf zurück, Lorena leicht mürrisch, ich froh aus dieser einsturzgefährdeten Hütte heraus zu sein. „Wieso hast du denn vorgeschlagen dorthin zu gehen, wenn du doch solche Angst hast?“, wollte meine Freundin verwundert von mir wissen. „Ich weiß nicht... es ist mir so eingefallen und dann habe ich es einfach mit der Angst zu tun bekommen“, stammelte ich. Ziemlich schwache Erklärung, ich weiß, aber mir fiel nichts Besseres ein. Sie sah mich einen Moment von der Seite an, dann zuckte sie die Schultern und lief schneller. Ich fiel leicht zurück und grübelte vor mich hin. Mir wurde flau im Magen, als ich daran dachte, dass ich morgen Camilla wieder sehen und mich Marena stellen musste. Diese blöde Schnepfe würde doch mit Freuden darauf herumhacken, dass ich und Lorena geflohen sind wie die Feiglinge. Sie hatte sich allerdings nicht besser angestellt und dass Mefirian ihr eine Abreibung verpasst hatte hob meine Laune ein wenig. Lorena war an ihrem Haus angekommen und drehte sich zu mir um. „Na dann, bis morgen, wenn ich es überlebe“, verabschiedete sie sich und trat ins Haus. Ich winkte ihr noch zum Abschied und lief dann langsam nach Hause. Plötzlich hörte ich jemanden hinter mir rufen: „Eyrin! Warte doch!“ Ich blieb stehen, atmete tief durch und drehte mich herum. Mefirian kam mir entgegen, sein Gesichtsausdruck war ernst. Er landete vor mir und als ich mich umdrehen und weglaufen wollte, hielt er mich fest und sagte: „Was sollte denn der Unsinn?“ Wütend machte ich mich von ihm los und fauchte: „Wäre es dir lieber gewesen ich hätte gegen Lorena gekämpft und sie womöglich noch verletzt?“ „Nein, natürlich nicht, aber wegzulaufen ist auch keine Lösung.“ Verdammt, warum musste er immer recht haben? Trotzdem wollte ich nicht nachgeben. „Es ist immer noch besser als sich zu Prügeln!“, rief ich, drehte mich um und ging. Natürlich folgte er mir und fragte: „Was willst du machen wenn ihr wieder gegeneinander kämpfen müsst? Du kannst dich nicht ewig drücken.“ Ich biss die Zähne zusammen, er hatte ja recht, vollkommen recht, doch was sollte ich tun? Ich seufzte und drehte mich müde zu ihm herum. „Mefirian, es tut mir leid. Ich weiß ja, dass du recht hast und dass ich nicht ewig weglaufen kann... es ist nur so schwer...“ „Schon gut, versuche es einfach. Du kannst Lorena gar nicht verletzen, wenn du es nicht willst“, wehrte er ab. „Oh Mefirian, wieso bist du immer so schlau?“, neckte ich ihn und stieß ihn sanft in die Seite. Er lächelte und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich bin wie ich bin.“ Inzwischen hatten wir das Ende des Dorfes erreicht und wir trennten uns voneinander. Ich hatte beschlossen ihm nichts von unserem Vorhaben, am Abend in die alte Hütte zu gehen, zu erzählen. Er würde natürlich wieder unser Gewissen spielen und versuchen uns davon abzuhalten. Aber Lorena würde natürlich wieder darauf bestehen und ich dumme Gans würde mich natürlich wieder darauf einlassen. Als ich das Haus betrat war es still. Mutter war offensichtlich nicht da, worüber ich sehr froh war. Arlene kam aus unserem Zimmer und sagte: „Mama ist nicht da.“ „Das ist mir auch schon aufgefallen Schwesterherz“, erwiderte ich und warf meine Schultasche in eine Ecke. Ich ließ mich auf einen Stuhl am Küchentisch plumpsen und aß zu Mittag. Arlene kam zu mir, einen Stickrahmen in der Hand und nähte schweigend neben mir. Ab und zu sah ich auf und beobachtete wie die Nadel schnell auf - und untertauchte und ein Bild auf den Stoff zauberte. Wieder einmal war ich erstaunt über die unglaublichen Nähkünste meiner Schwester. „Was stickst du denn?“, fragte ich interessiert und betrachtete neugierig den Stickrahmen. Arlene sah nicht von ihrer Arbeit auf, aber sie lächelte und antwortete dann: „Ich mache ein Bild von dir.“ Mir blieb vor Überraschung die Luft weg. „Was? Ein Bild von mir? Warum?“, stammelte ich ziemlich blöde. „Weil du mein Vorbild bist“, lachte sie und nahm ihre Arbeit wieder auf. „Ich bin dein Vorbild?“ Ich war geschmeichelt. Sie gab keine Antwort, sie war ganz in ihre Stickerei vertieft. Ich stand auf und ließ sie allein. In unserem Zimmer schmiss ich mich auf mein Bett und starrte an die Decke.
Vier
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„Hey Eyrin läufst du eigentlich auch vor deinem eigenen Schatten davon?“ Ich blieb stehen und biss mir auf die Unterlippe. Dann lief ich weiter, als hätte ich nichts gehört. Doch natürlich ließ Camilla nicht locker. „Das war ja heute eine tolle Vorstellung... oh ihr seid ja einfach weggelaufen.“ Ich wirbelte wütend herum, warf so würdevoll wie möglich mein Haar zurück und zischte: „Und deine Vorstellung war auch nicht schlecht... oh ich hatte ja vergessen, dass Mefirian dich fertig gemacht hat.“ Der Schlag hatte gesessen. Einen Moment war Camilla viel zu verblüfft um etwas zu erwidern, doch dann riss sie sich zusammen und spöttelte schwach: „Ja, es ist schon praktisch, wenn man einen Beschützer hat.“ Ich ließ sie einfach stehen und lief schnell zu Lorenas Haus. Meine Freundin wartete schon ungeduldig vor der Tür auf mich. „Wo warst du denn so lange?“, fragte sie ungeduldig. „Ich hatte eine nette kleine Unterhaltung mit Camilla“, grummelte ich und sagte dann etwas grob: „Wollen wir jetzt endlich dieses nutzlose Stück Stoff besorgen, oder nicht?“ „Schon gut, du hast Mefirian doch hoffentlich nichts davon erzählt?“ „Oh doch natürlich. Ich erzähle ihm doch immer alles und er ist auch überhaupt nicht unser Gewissen!“, spöttelte ich und wir machten uns auf den Weg. Es war bereits dunkel und wir hatten uns aus unseren Häusern geschlichen, damit unsere Mütter nichts merkten. Es war sehr kühl und ein unangenehmer Wind blies. Ich zog fröstelnd meinen Umhang enger um mich und fragte mich nicht zum ersten Mal, warum ich das überhaupt mitmachte. Warum hatte ich nicht einfach Nein gesagt und wäre dabei geblieben? Dann läge ich jetzt gemütlich in meinem Bett und liefe hier nicht mitten in der Nacht herum. Lorena hielt eine Laterne in der Hand, für alle Fälle, die aber noch aus war, denn wir wollten nicht, dass jemand uns sah. Lorena, die geborene Nachtelfe, war in ihrem Element. Sie liebte die Nacht und betrachtete sie als ihre Freundin. Ganz im Gegensatz zu mir, die ich die Nacht beinahe hasste. Die Nacht war düster und geheimnisvoll und in ihr konnte sich alles Mögliche verstecken. Noch einmal versuchte ich meine Freundin von ihrem Vorhaben abzubringen: „Lorena, das ist doch Wahnsinn. Lassen wir das, es lohnt sich doch nicht für einen Stofffetzen eine Menge Ärger zu riskieren. Und wenn unsere Mütter aufwachen?“ „Ach hör schon auf, du Angsthase!“, zischte sie und zündete die Kerze in der Laterne an. Dann flog sie eilig voraus, offenbar wollte sie schnell bei der Hütte sein. Ich nicht. Trotzdem folgte ich meiner Freundin schnell um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Der Wald kam mir bei Nacht noch unheimlicher und bedrohlicher vor als bei Tag. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Es gruselte mich richtig davor diese Bruchbude zu betreten, doch Lorena verschwand bereits darin und wo wir schon mal hier waren... Ich sah den Lichtschein der Laterne gerade noch in einem der Räume verschwinden. Der Raum an den wir uns nicht erinnern konnten. „Eyrin, komm her, hilf mir mal!“, rief Lorena und ich ging zu ihr. Sie hatte sich über die Truhe gebeugt und hielt mir auffordernd die Laterne hin. „Halte mal. Ich bin gleich soweit und dann können wir verschwinden.“ Ich nahm ihr die Laterne ab und sah mich um. Alles sah genauso wie heute Mittag aus. Der Wind pfiff, heulte und blies und wirbelte Staub und Laub auf. Ich verließ das Zimmer, meine Freundin würde sowieso noch lange nach dem Stoff suchen müssen. Ich entdeckte eine Treppe, die nach oben führte. Komisch, ich hätte schwören können, dass das Haus nur ein Stockwerk hatte und dass es keine Treppe gegeben hatte. Anscheinend ließen meine Sehkräfte und mein Gedächtnis nach. Die Treppe sah noch stabil aus, so stabil wie sie den Umständen entsprechend sein konnte. Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf die Erste Treppenstufe. Nichts. Behutsam trat ich mit meinem ganzen Gewicht auf. Kein Mucks und sie brach auch nicht zusammen. Ermutigt wagte ich es noch zwei Stufen zu erklimmen, dann drehte ich mich um und rief zu Lorena: „Hey, ich habe eine Treppe gefunden! Ich kann mich gar nicht daran erinnern, aber ich glaube sie führt in ein weiteres Stockwerk!“ Anscheinend hörte sie mich nicht, denn Lorena antwortete nicht. Egal. Ich lief weiter, den Blick immer auf die oberste Treppenstufe gerichtet. Plötzlich hörte ich ein Knarren und Knacken. Erschrocken stellte ich fest, dass es von der Treppe kam. Ich wollte gerade in die Luft abheben, als die Treppe mit einem lauten Bersten einstürzte. Ich schrie und versuchte mich in die Luft zu erheben, doch mein Fuß verhedderte sich irgendwo oder so was, auf jeden Fall konnte ich nicht weg und stürzte in die Tiefe. Ich hörte noch wie Lorena schrie: „Eyrin!“
Wo war ich? Verwirrt stellte ich fest, dass ich in einem Keller lag. Das Haus hat doch keinen Keller, dachte ich und sah mich um. Die Laterne lag zerbrochen neben mir, ein paar Splitter hatten sich in meinen Arm gebohrt, doch das war nichts verglichen mit meinen grässlichen Kopfschmerzen. Vorsichtig setzte ich mich auf. Von meiner Kleidung und meinem Oberkörper rieselten Staub, Dreck und Holzstücke. Ich hustete, weil ich Staub in den Hals bekam und merkte, dass Blut mir die Stirn hinabrann. Ich fluchte und stand zaghaft auf. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich mir nicht alle Knochen im Leib gebrochen hatte, sah ich mir das große Loch über mir an der Decke an. War ich wirklich zusammen mit der Treppe durch den Boden des oberen Stockwerks gestürzt? Es klang einfach zu verrückt. „Lorena?“, rief ich erstickt nach oben. Wenn ich so leise rief, konnte sie mich auch gar nicht hören! Etwas lauter rief ich noch einmal ihren Namen. Nichts. Warum antwortete sie denn nicht? Vielleicht war ihr etwas zugestoßen? Mir kam ein ganz schrecklicher Gedanke. Was war, wenn sie mich einfach so allein gelassen hatte? Wenn sie sich einfach den Stoff geschnappt und das Weite gesucht hatte? Unsinn, meine Freundin ist nicht so ein Feigling, dachte ich und fühlte mich ein wenig besser, aber nicht viel. Ich sah noch einmal das Loch an, dann wollte ich mit den Flügeln schlagen und nach oben fliegen. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie und ich wusste: Meine Flügel waren vollkommen nutzlos. Ich musste sie mir beim Sturz verletzt haben. Oh, was soll ich denn jetzt nur machen?, fragte ich mich panisch und drehte mich einmal um die eigene Achse. Natürlich sah es immer noch so aus wie vorher, was hatte ich eigentlich erwartet? Dass eine gute Fee zu mir herunterschweben und mich retten würde? Lächerlich. Was blieb mir noch? Mir eine Lösung zu überlegen, oder hier zu warten. Ich seufzte und beschloss mich umzusehen. Viel zu entdecken gab es nicht, nur Schutt und Bruchstücke und noch mehr Schutt... wenigstens konnte ich im Dunkeln sehen. Vielleicht würde mir etwas aus dem Unterricht helfen hier herauszukommen, nur was? Ich kannte einen Spruch wie man sich unsichtbar machen konnte, wusste wie man jemanden dazu zwang die Wahrheit zu sagen... aber helfen würde mir das alles nicht. Irgendetwas nützliches?... Leider hatten wir noch nicht gelernt, wie man eigentlich schwebte. Das wollte ich schon immer mal lernen, doch erst jetzt würden wir es im Unterricht durchnehmen und bis dahin könnte ich schon tot sein. Nein, nicht ans Sterben denken, bleib ganz ruhig. Ich konnte mich zwar nicht zum Schweben bringen, dafür aber Gegenstände. Gab es hier irgendetwas was mir von Nutzen sein konnte? Nicht wirklich. Nur alte Möbel und Kleidungsstücke und Marmeladengläser... Musste es hier nicht irgendwo ein Seil geben? Ich bahnte mir einen Weg durch den Schutt und suchte fieberhaft nach einem Seil oder ähnlichem. Ich fand keines. Langsam wurde mir angst und bange. Na ja, ein paar zusammengeknotete Kleidungsstücke werden wohl auch gehen. Ich knotete einige Hemden und Kleider zusammen und sah skeptisch auf mein improvisatorisches Seil hinab. Irgendwie würde es schon funktionieren. Ich konzentrierte meinen Blick auf das Seil und stellte mir vor, wie meine Magie es dazu brachte nach oben zu schweben und oben am Boden festzukleben. Die zusammengebundenen Kleidungsstücke schwebten wie eine hypnotisierte Schlange durch das Loch und schlängelten sich ein Stück über den Boden, bis die Spitze aus meinem Blickfeld verschwand. So weit so gut. Jetzt nur noch das Seil an den Boden drücken und dafür sorgen, dass es auch da blieb. Ich zog kräftig an dem Seil um mich zu vergewissern, dass es auch wirklich fest saß und ergriff es mit beiden Händen. Jetzt würde es sehr schwer werden. Ich musste das Seil hochklettern, aber ohne meine Konzentration zu unterbrechen, sonst würde ich hinunterstürzen. Ich schluckte, gab mir einen Ruck und kletterte unbeholfen das Seil hoch. Meter um Meter vorwärts... Ich zwang mich an nichts zu denken und nur das Seil anzusehen. Die Hälfte war geschafft, nur noch ein bisschen, dann war ich frei. Ich wagte es nach unten zu sehen und das war ein großer Fehler. Mir wurde sofort schwindelig, ich hatte nicht gedacht, dass der Keller so tief unten lag, und war für eine Sekunde vor Schreck wie gelähmt. Mein Gehirn setzte aus. Da geschah es. Weil ich auf den Boden starrte und meine Magie nicht mehr in das Seil fließen ließ, löste es sich vom Boden und mein Gewicht ließ es wieder in das Loch zurückschnellen. Ich wollte noch eilig versuchen es wieder nach oben zu befördern, doch erstens war ich viel zu erschrocken und zweitens ließ mein Gewicht das nicht zu. Mit einem lauten Schrei fiel ich wieder in die Tiefe zurück und alles wurde schwarz.
„Eyrin! Eyrin?“ Wer rief denn da? Diese Stimme kannte ich doch, oder nicht? Die Dunkelheit hielt mich noch wie in Watte gepackt fest und wollte nicht verschwinden. Genauso wie der erwachende Kopfschmerz der mich schier wahnsinnig machte. Ich schlug die Augen auf, doch es war noch immer dunkel. Oh nein, ich bin blind, oder tot, dachte ich erschrocken, doch dann hörte ich die Stimme wieder rufen. „Eyrin! Dem Himmel sei Dank, du lebst!“ Mefirian. Was suchte er denn hier? „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“, schluchzte Lorena und kniete sich neben mich. Ich hob den Blick und sah, dass Mefirian gerade durch das Loch nach unten zu uns flog. Ich wollte mich aufrichten, doch der Schmerz in meinem Kopf ließ mich wieder auf den harten Boden zurückplumpsen. „Was macht ihr denn hier?“, krächzte ich heiser. „Ich habe Mefirian geholt als die Treppe eingestürzt ist“, erklärte Lorena und schob mir etwas unter den Kopf. „Aua!“, jaulte ich und krallte meine Finger in ihren Arm. „Warum hat es denn so lange gedauert?“ „Zuerst wollte ich versuchen dich alleine da rauszuholen, doch ich wusste nicht wie. Mit dir nach oben fliegen konnte ich nicht, du wärst zu schwer gewesen. Dann habe ich Mefirian geholt, aber ich musste aufpassen, dass ich seine Familie nicht wecke und natürlich hat er mir einen Vortrag gehalten...“ Ich unterbrach sie und sagte: „Würdet ihr mich freundlicherweise endlich hier herausholen?“ Mefirian kniete sich ebenfalls neben mich und erwiderte: „Selbst wenn du verletzt bist kannst du noch unfreundlich sein.“ Ich konnte nicht lachen, dazu fühlte ich mich einfach zu grässlich. Mein Freund schob seine Hände unter meinen Körper und hob mich vorsichtig hoch, trotzdem wurde mir so schwindelig, dass ich meinte mich jeden Moment übergeben zu müssen. „Pass auf, ihre Flügel sind verletzt“, warnte Lorena ihn und flog voraus. Mefirian folgte ihr. Endlich waren wir wieder oben und dort, wo vorhin noch die Treppe gewesen war, befand sich jetzt ein großes, tiefes schwarzes Loch. Ich schauderte und erkundigte mich: „Hast du wenigstens diesen blöden Stofffetzen?“ Lorena sah beleidigt aus, aber schließlich war es doch ihre Schuld gewesen. „Ja, ich habe den „Stofffetzen“ bei Mefirian versteckt.“ Ich nickte und schloss die Augen. „Warum bist du überhaupt die Treppe hochgegangen?“, wollte Mefirian von mir wissen. „Ich weiß nicht... ich war einfach neugierig. Klasse Ausrede, wirklich ein toller Grund um den Tod in Kauf zu nehmen! „Zu viel Neugier ist ungesund“, versuchte Mefirian zu scherzen, doch er lachte selbst nicht. Während dem Nachhauseweg überlegte ich fieberhaft wie ich das alles meiner Mutter erklären sollte. Sie würde außer sich sein vor Wut und mir bestimmt Hausarrest geben. Das wäre ja noch eine milde Strafe... ich wollte einfach nur noch ins Bett und schlafen. An nichts mehr denken und nicht mehr reden oder etwas tun müssen, nur schlafen... „So Eyrin. Wir sind bei dir zu Hause angekommen. Sollen wir noch bei dir bleiben?“, sagte Lorena plötzlich und schreckte mich auf. Ich war kurz davor gewesen einzuschlafen. Ich nickte und Lorena klopfte an die Tür. Wie immer öffnete Arlene. Sie starrte uns drei mit großen Augen an und sah schnell ins Haus zurück. „Kommt schnell und seid leise! Mutter darf nicht aufwachen!“, flüsterte sie und winkte uns hastig herein. Wir schlichen uns wie die Diebe in unser Zimmer und Mefirian legte mich behutsam aufs Bett. Arlene deckte mich zu. Schmutzig und müde wie ich war, schlief ich sofort ein. Ich hörte noch wie die Tür geöffnet wurde und Mama rief: „Eyrin! Was ist denn passiert?“
Fünf
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Ich musste wohl nur kurz geschlafen haben, denn als ich aufwachte war es noch immer dunkel. Ich fühlte mich aber schon viel besser. Außer, dass meine Kopfschmerzen wieder erwachten, sobald ich mich bewegte. Himmel, morgen musste ich ja wieder in die Schule! Und ich hatte doch noch Hausaufgaben auf... Ich erhob mich und merkte erst jetzt, dass Arlene am Tisch saß und nähte. Verwundert blickte sie auf, als ich aus dem Bett kletterte und benommen durch den Raum taumelte. „Eyrin! Was machst du denn da?“, rief sie erschrocken, schmiss ihre Näharbeit hin und kam zu mir. Besorgt legte sie mir einen Arm um die Hüfte. „Du sollst liegen bleiben.“ „Aber ich habe doch morgen Schule und muss noch...“, fing ich an, wurde aber von ihr unterbrochen. „Nein, du hast heute keine Schule. Heute ist Samstag“, erklärte sie und bugsierte mich wieder ins Bett. „Was? Aber Mefirian hat mich doch heute erst hier her gebracht“, stammelte ich. Arlene sah mich verständnislos an. „Es ist Samstag. Du hast zwei ganze Tage geschlafen.“ Was, ich hatte zwei Schultage verpasst? Und wie sollte ich den ganzen Stoff nachholen? Ich stöhnte und setzte mich auf die Bettkante. „Glaube mir Arlene, mir geht es gut, ich muss nicht mehr ins Bett“, versicherte ich und stand zum Beweis noch einmal auf. Dieses Mal konnte ich stehen, wenn auch wackelig. Meine Schwester sah mich zweifelnd an, murmelte: „Gut, wenn du meinst.“ Und nähte weiter. „War Mama sehr böse?“, wollte ich wissen, während ich mir mit einem Kamm durch die Haare fuhr. „Ja, und wie, aber deine Freunde und ich haben sie beruhigt.“ Ich biss mir auf die Lippe und brachte schließlich mühsam die Frage heraus: „Welche Strafe habe ich bekommen?“ „Keine, sie meinte deine Verletzungen wären Strafe genug“, antwortete meine Schwester grinsend. Ich konnte es kaum glauben, meine Mutter hatte mich wirklich nicht bestraft? Sollte das ein Scherz sein? „Bist du sicher, dass sie es ernst gemeint hat?“ Arlene ließ ihr Nähzeug sinken und sah mich entrüstet an. „Meinst du ich kenne meine eigene Mutter nicht?“, fragte sie empört, grinste dabei aber. Ich grinste zurück, legte den Kamm weg und merkte, dass ich noch immer mein verstaubtes und zerrissenes Kleid trug. „Habt ihr vergessen mir das Kleid auszuziehen?“, fragte ich, während ich in meiner Truhe herumwühlte. „Nein, wir wollten dich nicht wecken. Obwohl, du hast wie eine Tote geschlafen.“ Schließlich zog ich aus dem ganzen Kleider-, Tuch-, Strumpf-, und Schleier- Bündel mein Lieblingskleid heraus. Es war dunkelblau, hatte ellebogenlange Ärmel und der Ausschnitt war mit silbernen Stickereien verziert, die meine liebe Schwester gemacht hat. Zu dem Kleid gehörte auch ein, schwarzer Ledergürtel. Hastig streifte ich mir das Kleid über, zog meine Schuhe an und verabschiedete mich von Arlene. „Sage Mutter dass ich nicht lange wegbleibe und dass ich ihr dankbar bin, weil sie mir keine Strafe gegeben hat.“ Meine Schwester sah mir verwundert nach, als ich zur Tür stolzierte, wohl eher taumelte, zuckte mit den Schultern und sagte: „Ja sicher Eyrin. Viel Spaß.“
„Ah Eyrin, das ist aber eine Überraschung“, begrüßte Lorenas Mutter mich freundlich und ich war mir ziemlich sicher, dass sie Witze machte. Ich besuchte Lorena fast jede Woche und sie mich auch sehr oft. „Ist sie da?“, wollte ich wissen. „Ja, komm ruhig rein. Das muss aber schlimm gewesen sein.“ Ich wusste sofort wovon sie redete. Es hatte sich also schon im ganzen Dorf herumgesprochen, da gab es keinen Zweifel. Innerlich entfuhr mir ein Seufzer. Lorena hatte natürlich wieder geplappert, aber der Ärger den sie bekommen hatte, machte das wieder wett. Lorenas Mutter war nicht streng, doch wenn ihre Tochter sich danebenbenahm, dann konnte sie auch hart sein. Ihrer Tochter machte das nichts aus. Sie betonte immer, sie wisse, dass ihre Mutter sie liebte und nur schützen wollte. Fenja ließ mich eintreten und ich lief zielsicher in Lorenas Zimmer, das am anderen Ende des Raumes lag. Das Haus war etwas kleiner als unseres, aber es lebten ohnehin nur zwei Personen darin. Ich fand meine Freundin auf ihrem Bett, mit einem Buch in der Hand. Das war ungewöhnlich, normalerweise las Lorena nie freiwillig. „Hallo Lorena“, grüßte ich und setzte mich auf die Bettkante. „Eyrin? Was machst du denn hier, ich dachte du wärst im Bett?“, meinte sie verwundert und legte ihr Buch beiseite. „Ich weiß, aber mir geht es schon viel besser“, log ich, da ich nicht wollte, dass sie sich Sorgen machte.
„Wir haben schon gedacht du wärst tot... tut mir leid.“ „Ach, das macht nichts.“
„Na ja, du sahst ziemlich erschöpft aus und deine Mutter war beinahe wahnsinnig vor Sorge.“
„Was hast du für eine Strafe bekommen?“, fragte sie mich interessiert. Ich lächelte und sagte feixend: „Keine! Meine Mutter meinte meine Verletzungen wären Strafe genug.“ „Hast du ein Glück! Ich habe zwei Wochen Hausarrest! Ich darf nur zur Schule nach draußen gehen!“, schmollte Lorena und schob trotzig die Unterlippe vor. Doch ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie es gar nicht so schlimm fand, wie sie tat. „Übrigens kommt Mefirian auch.“ „Wie?“, fragte ich verwirrt. „Ja, er hat sich Sorgen um dich gemacht. Ich konnte dich leider nicht besuchen kommen, aber er war beide Tage da und hat mir erzählt wie es dir geht.“ „Woher weißt du, dass er kommt?“ Sie meinte lächelnd: „Meine hellseherischen Fähigkeiten!“ dann lachte sie und wurde wieder ernst. „Nein, ich weiß es einfach. Das passt zu Mefirian.“ Müde fuhr ich mir durch die Haare und erkundigte mich: „Habe ich viel im Unterricht ve