Nell und ihr Zwillingsbruder Mustafa werden schlagartig aus ihrem bisher normalen Leben gerissen, als Nell von einem der fünf Juwelen im Rücken eines Buches ausgewählt wird. Auf der Knight Academy gerät sie dank ihres Nachnamens jedoch in Verdacht, zu den Rebellen zu gehören, und muss die Missgunst ihrer Mitschüler über sich ergehen lassen. Nur zwei Jungen stehen ihr bei, während ihr Bruder sich auf der anderen Seite der weißen Mauer bei den Rebellen befindet...
„Was?“, fragte ich begriffsstutzig. Dieses ‚Was‘ schloss so ziemlich alle Fragen mit ein, die mir durch den Kopf geisterten und die zu neunzig Prozent mit ‚Was‘ anfingen. Sehr schlau, ich weiß, aber gerade war ich ziemlich überrumpelt und durcheinander.
Der Unbekannte schnaubte, was mich kurzzeitig irgendwie an eines der Pferde denken ließ, die etwa zwanzig Meter von diesem Landhaus entfernt im Stall standen. So gut, wie er das Schnauben beherrschte, hätte er sich bestimmt gut mit ihnen verstanden. Bei diesem völlig unangebrachten, schwachsinnigen Gedankengang huschte kurz sogar ein Grinsen über mein Gesicht.
Allerdings sah der Junge mich prompt vernichtend an und ich starrte trotzig zurück. Bei solchen Gelegenheiten war es ziemlich praktisch, dass ich ein ziemlicher Dickschädel sein konnte und somit noch nicht mal daran dachte, bei seinem düsteren Blick den Kopf einzuziehen und kleinbeizugeben.
Zusätzlich spürte ich förmlich, wie aus dem blutroten Kristall in meiner Hand Kraft in mich strömte. Das sollte mich zwar eigentlich verwirren, doch im Augenblick half es mir einfach dabei, den Blick dieses arroganten Arsches zu erwidern, der glaubte, über mich bestimmen zu können.
„Wovon redest du?“, stellte Mustafa eine meiner Hauptfragen und fing den Blick des Jungen ab, wobei er so richtig wie einer dieser vielen Filmhelden klang, die ihre Lady vor den Fängen des bösen Wahnsinnigen beschützen wollten, „Außerdem gibt es da so etwas wie Höflichkeit und Anstand, die es einem gebieten, sich erstmal vorzustellen, bevor man irgendwelche Ansprüche stellt.“
Der Fremde schnaubte erneut – schien irgendwie eine Angewohnheit von ihm zu sein – und richtete seinen Blick auf meinen Bruder. Ich schwöre, ich konnte sehen, wie sein Blick Funken sprühte. „Halt die Klappe“, sagte er in ausgesprochen drohendem Tonfall, „Es geht dich gar nichts an, wie ich heiße. Das Mädchen wird mitkommen und du wirst mich nicht daran hindern, diesen verdammten Auftrag zuende zu bringen. Verzieh dich also zurück in dein Bett und träum von Fußball oder was weiß ich was, aber halt dich aus der Sache raus!“
„Davon träumst du aber!“, grollte mein Bruder, dessen Ton dem des Jungen in keinster Weise nachstand, „Du willst gerade meine Schwester entführen und glaubst, dass ich dich damit durchkommen lasse? Da hast du dich aber gewaltig geschnitten!“
Er holte mit der geballten Faust aus und irgendwie konnte ich aus seiner Haltung heraus erkennen, dass er sie dem Jungen so richtig schön in den Magen zimmern wollte. Nur hatte dieser mit einem Mal wieder dieses lange Messer in der Hand und war schon bereit Mustafas Hieb abzufangen, als dieser gerade erst ausgeholt hatte. Ich sah bereits, wie der Unbekannte Muus Hieb abfangen und ihm den Dolch in die Brust oder den Magen rammen würde. Ich sah es mit solch niederschmetternder Deutlichkeit vor mir, dass sich mein Verstand abschaltete und ich einfach nur schrie. Ein Schrei, wie er mir noch nie über die Lippen gekommen war. Einer, der versuchte, den Tod mit bloßer Lautstärke zu verscheuchen.
Genau zu dem Zeitpunkt fuhr wieder dieses irre Kribbeln wie ein Stromstoß durch meinen Körper. Der Edelstein – das Juwel, wie der Junge ihn bezeichnet hatte – begann erneut rötlich in meiner Hand zu leuchten, die ich mir reflexartig mit der anderen vor die Brust presste. Dann spürte ich mehr, als das ich sah, wie mich der heiße Stein plötzlich kurz unter der Mulde zwischen meinen Schlüsselbeinen berührte. Es war jedoch nicht einfach nur eine Berührung, ich spürte, wie er in meiner Haut versank, die sich in dem Bereich über meiner Brust, knapp unterhalb des Halses bis zu meinen Schultern brennend heiß anfühlte. Nur obwohl mein Verstand mir sagte, dass ich Schmerzen haben sollte, da es mir bald so vorkam als würde mein Blut unter den entsprechenden Hautpartien kochen, tat es nicht weh. Es war ein seltsames Gefühl. Ich konnte spüren, wie dieses ganz leichte innere Pochen des Juwels ein wenig den Rhythmus änderte, bis er im Einklang mit dem Schlagen meines Herzens war, das gerade wie wild in meiner Brust pochte.
Jedoch war immer noch das Leben meines Bruders in Gefahr. Wie in Zeitlupe konnte ich sehen, wie das Messer auf seine Brust zu sauste, wobei sich jedoch beide Jungen zu mir umsahen, die ich immer noch hinter Mustafa an das Bücherregal gedrängt stand. Kaum dachte ich wieder an die Bedrohung, da ging plötzlich ein Pochen von mir aus. Es erinnerte mich irgendwie an eine dieser Druckwellen, die bei starken Explosionen durch die Luft gingen. Genau so eine Energiewelle schleuderte nun den Unbekannten mitsamt seinem Messer weg – und zwar so, dass er gegen die gegenüberliegende Wand krachte und bei seiner Landung gleich mehrere Bücherstapel zu Fall brachte. Aber nicht nur der Junge vor mir, sondern auch die Bücherregale hinter mir wurden von der Energiewelle erfasst. Die Bücher flogen wie vom Schlag getroffen heraus und die ersten zwei der vier Regalreihen kamen bedrohlich ins Wanken.
Die hinteren dunklen Ungetüme, die mich ohne Bücher irgendwie an Skelette erinnerten, schwankten zwar, fingen sich aber nach ein paar Schwüngen wieder und pendelten sich ein. Nur das Regal, vor dem ich stand, war so heftig erwischt worden, dass es sich erst weit nach hinten neigte und dann plötzlich mit bedrohlich viel Schwung nach vorne kam. Hätte mein Bruder mich nicht gepackt und mit sich zur Seite gerissen, wäre ich von dem Ding glatt erschlagen worden!
Es gab einen gewaltigen Rums, als es auf dem Holzboden aufschlug und die groben Dielen an den Aufschlagstellen zu splittern begannen. Eines war sicher: die bis kurz unter die Decke reichenden Regale mussten mindestens eine Tonne wiegen und ich fragte mich, wie unsere Eltern es geschafft hatten, ganze zwölf dieser Riesen hier hoch zu schleppen.
Es war nun dunkel hier oben, da die Kerze auf dem Schreibtisch vor dem Fenster offenbar umgefallen war – wenn auch Gott sei Dank ohne ein Feuer zu entzünden. Für einen Moment herrschte eine ungemütliche Stille und ich holte erstmal wieder Luft, die ich irgendwann zwischenzeitig angehalten hatte. Nebenbei fiel mir bei der Dunkelheit auf, dass auch das Licht des Juwels wieder erloschen war.
„Alles in Ordnung?“, drang die leise, besorgte Stimme meines Bruders durch die Dunkelheit dicht neben meinem Ohr. Er hielt mich noch immer in den Armen.
Mein Herz klopfte zwar nach wie vor heftig, doch seine Nähe gab mir das Gefühl in Sicherheit zu sein und ich entspannte mich ein wenig. „Alles klar“, antwortete ich genauso leise, „Hab nur ´n Schreck.“
„Ich auch“, gab er zu – was bei ihm schon was heißen sollte! – und setzte sich mit mir im Arm auf, „Was hast du gerade gemacht?“
„Keine Ahnung“, erwiderte ich ratlos, „Das wüsste ich selber gerne.“
Das eben und schon dass dieses Juwel vorhin leuchtend vor mir geschwebt war, ließ mich beides unwillkürlich an Magie denken. Ich konnte gar nicht anders, nachdem ich doch so ein Fan von allen möglichen Fantasiebüchern war. Nur hießen diese Bücher nicht um sonst Fantasieromane – eben weil das alles einfach nur ausgedacht war und sich im höchsten Fall teilweise mit alten Legenden und so weiter abdecken ließ. Aber Magie in dem Sinne, wie auf Besen zu fliegen und Dinge schweben zu lassen, waren unumstritten nicht real – was ich in der Regel ja gerade so spannend an diesen Büchern fand. Ich war auch ein großer Harry Potter Fan, aber noch so klar im Kopf, dass ich den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit genau kannte. Bloß schien seit ein paar Minuten irgendein wahnsinnig lustiger Witzbold beschlossen zu haben, die Grenze zwischen Fantasie und Realität zu verwischen. Denn was hier gerade passiert war, ließ sich meines Erachtens nicht unbedingt wissenschaftlich erklären.
„Du hast unabsichtlich die Kräfte des Juwels aktiviert“, kam in dem Moment die Stimme unseres ungebetenen Gastes von weiter hinten und im nächsten Augenblick flackerte die Kerze wieder auf, die er nun in der Hand hielt. Er klang alles andere als begeistert, was sein missbilligender Blick noch unterstrich. „Und jetzt hast du die Bindung komplett gemacht. Herzlichen Glückwunsch, du hast dich gerade selbst in die Knight Academy eingeschrieben und bist damit der erste Trottel der Geschichte, der es geschafft hat ohne irgendwelches Hintergrundwissen ‚Ritter‘ zu werden.“
Er klang so richtig schön sarkastisch, dass ich ihm unter normalen Umständen eine reingehauen hätte. Nur leider waren die Umstände alles andere als normal. Außerdem war unter unseren Füßen gerade zu hören, wie das Haus auf den Radau hin zum Leben erwachte. Ich hörte Mutters entsetzte Stimme und Vaters undeutliche Erwiderung darauf, als beide vom Erdgeschoss aus die Treppen in den zweiten Stock hocheilten, um zu der Sprossenleiter zu gelangen, die hier auf den Dachboden hochführte.
„Tse, das gibt´s doch echt nicht“, knurrte der Junge und stellte die Kerze wieder auf dem Tisch ab, ehe er mit großen Schritten zu uns herüber kam, „Das nächste Mal kann Ed sich selbst um seine Aufträge kümmern!“
Schneller als ich gucken konnte, war er schon neben uns, hatte mich gepackt und hochgehoben. „Halt das da ja gut fest“, ermahnte er mich noch kurz und war schon wieder auf dem Weg zum Schreibtisch. Erst dabei bemerkte ich, dass ich in der linken Hand immer noch das schwarze Buch mit den silbernen Verzierungen gehalten hatte, wobei ich es nun über meinen Bauch hielt, da der Kerl mich gerade wie eine Prinzessin auf dem Arm hatte. Moment mal, wie bitte?!
Da erst machte die Verblüffung über diesen Umstand meinem Verstand so weit Platz, dass es mir in den Sinn kam mit den Beinen zu strampeln und wütend zu rufen: „Hey! Lass mich runter! Lass mich runter, hab ich gesagt!“
„Schwesterchen!“, rief Mustafa bestürzt und kam etwas ungelenk wieder auf die Beine, „Bleib stehen!“
Der Fremde warf ihm einen kurzen, abfälligen Blick über die Schulter zu, dann sprang er blind auf den Schreibtisch und meine Augen weiteten sich, als mir klar wurde, was er vorhatte. Ich kreischte entgeistert und versuchte mich an der Wand abzustützen, doch mit einer kurzen Bewegung zurück verloren meine Hände den Halt und da sprang der Junge mit mir auf dem Arm auch schon aus dem Fenster. Und hatte ich nicht vorhin schon erwähnt, dass wir uns hier im dritten Stock befanden? Konnte ihm das mal vielleicht einer verklickern?!
Mein Kreischen wurde so richtig schrill und ich klammerte mich panisch an den Jungen, während mir der Fallwind in den Ohren rauschte und ich am Rande noch das Flattern seines Umhangs wahrnahm. Dann war der kurze Fall auch schon vorbei und mit erstaunlicher Leichtigkeit landete er auf den Füßen auf dem federnden Gras – nachdem er wohlbemerkt mit mir noch einen Salto gemacht hatte!
„Bist du noch ganz dicht!?“, schrie ich ihm ins Ohr, noch ganz in meinem Schrecken versunken. Mir rauschte das Blut in den Ohren und ich hatte das Gefühl, dass mein Herz zwischenzeitig ausgesetzt hatte. Himmel nochmal, das war der Schreck meines Lebens, was mich kurzzeitig sogar meine Verwirrung über diesen ganzen irgendwie nicht so wirklich normalen Kram vergessen ließ, der gerade passierte.
Mit der Linken rieb dieser Wahnsinnige sich das Ohr, während meine Kniekehlen auf seinem Oberarm lagen. „Meine Güte, warum müsst ihr Mädchen immer gleich so ausflippen?“, fragte er resigniert und verzog kurz ein wenig das Gesicht. Dann fasste er mich wieder richtig und ging flotten Schritts weiter als wäre nichts gewesen. Als wäre nichts gewesen! Hallo?! War der Typ noch normal oder irgendein Mutant?!
„Hey! Bleib stehen!“, rief Mustafa, der mit entsetztem Gesichtsausdruck am Fenster aufgetaucht war und uns hinterher starrte, „Wag es ja nicht!“
Mein Entführer aber schenkte ihm nur noch einen du-kannst-mich-mal Blick über die Schulter und ging unbeeindruckt weiter. Über seine Schulter hinweg sah ich meinen Bruder hilfesuchend an und versuchte gleichzeitig, mich aus den Armen von Mister Superman zu winden, doch der Kerl war stärker als er aussah. Es war als versuchte ich gegen einen eingerasteten Sicherheitsgurt anzukämpfen, schlicht und ergreifend aussichtslos. Wobei er eigentlich noch nicht mal besonders grob wurde, wie ich später einräumen musste.
Dann sah ich mehr zufällig erneut hoch zu dem Dachbodenfenster im dritten Stock und entdeckte mit Schrecken, dass Mustafa gerade dabei war, seine Beine über den Fenstersims zu schwingen. Mir entfuhr nur ein erschrockener Laut, als mein Bruder mit einem Satz ebenfalls aus dem Fenster sprang und die über acht Meter bis zum Boden fiel.
Mein Träger fuhr herum und ich drehte schnell den Kopf, um zu sehen, was mit Muu war. Er lag auf dem Boden und einen schrecklich langen Moment glaubte ich schon, er habe sich das Genick gebrochen, aber da setzte er sich stöhnend auf und rieb sich den Schädel. Ich seufzte vor Erleichterung auf und vergaß kurzzeitig sogar, weiter zu protestieren.
„Heiliger, der hat ja bald noch ´nen größeren Schaden als du“, murmelte mein Träger so undeutlich, dass ich ihn fast nicht verstanden hätte.
„Du hast den größten Schaden von uns allen!“, fuhr ich ihn daraufhin wütend an, „Wie kannst du einfach aus dem Fenster springen?! Dafür gibt es Türen! Schon mal was davon gehört?!“
„Bleib ja da stehen!“, rief Mustafa, der inzwischen leicht schwankend wieder auf die Beine kam und schon in unsere Richtung unterwegs war.
Der Junge knurrte irgendetwas, das ich nicht verstand, machte aber Kehrt und schritt am Haus vorbei, doch mein Bruder hatte bereits die Verfolgung aufgenommen. Ich war unterdessen damit beschäftigt, diesem verfluchten Arsch, das meinte, mich einfach entführen zu können, mit den Fäusten gegen die Brust zu hämmern und nebenbei strampelte ich auch noch mit den Beinen. Blöderweise schien ihn beides nicht wirklich zu interessieren, was dazu führte, dass ich kurzerhand die vorderen Strähnen seiner dunkelroten Haare packte und kräftig dran zog.
Als Reaktion begann sein linkes Auge zu zucken, aber er ging immer noch im Stechschritt schnurgeradeaus durch die tiefe Nacht in Richtung Pferdestall, der nur gut zwanzig Meter entfernt vom Haus stand. Eigentlich war er sehr gut gepflegt und bot den sechs Pferden unserer Familie ein komfortables Zuhause mit riesigen Weideflächen, da um uns herum meilenweit nur grüne Wiesen und kleine bis größere Wälder waren, aber so im Dunkeln der Nacht mit dem von dicken Wolken verhangenen Himmel und nur den gelegentlichen, gleißenden Blitzen sah er schon ein wenig unheimlich aus.
Im Näherkommen bemerkte ich eine Bewegung fast direkt vor der Stalltür, aber bei der Dunkelheit erkannte ich erst, als wir fast direkt davor standen, die Gestalt eines Pferdes. Das Tier war pechschwarz wie die Nacht selbst und schnaubte kurz, als wir ankamen.
„Alles gut, Buster“, sagte der Idiot in beruhigendem Tonfall und nachdem er mich einfach unsanft auf den Boden hatte fallen lassen, streichelte er dem Tier sanft den Kopf, „Ruhig, es geht gleich los. Hab noch einen Augenblick Geduld, mein Guter.“
„Toll, zu Pferden ist er freundlich und zu Menschen ist er ´n Arsch“, murmelte ich säuerlich vor mich hin und rieb mir den Hintern, denn so weich Gras und Moos auch waren, die Landung war trotzdem nicht allzu angenehm.
Gerade als ich damit beschäftigt war, meinen Entführer von hinten mit Blicken aufzuspießen, hatte Mustafa aufgeholt und kam augenblicklich an meine Seite.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du sie einfach zu dieser komischen Akademie mitnehmen kannst?“, fragte mein Bruder ernst, wobei er mir auf die Beine half. Auch wenn er zeitgleich den Pferdenarr düster ansah.
Dieser hielt in seinen Streicheleinheiten inne und blickte über seine Schulter. „Genau das habe ich vor“, erwiderte er kalt und sein Blick wanderte zu mir, „Hat die Aktion von eben nicht ausgereicht, um dir zu zeigen, dass du dringend professionellen Unterricht im Umgang mit dem Juwel brauchst? Muss es erst so weit kommen, dass du versehentlich deine Eltern oder deinen geliebten Bruder hier verletzt?“
Das traf mich wie ein Hieb in den Magen und ich starrte ihn entsetzt an. Ich war so darin vertieft gewesen, ihn innerlich zu verfluchen und mich über die ganze Sache zu wundern, dass ich darüber noch kein Stück nachgedacht hatte. Über das, was passieren konnte, wenn diese seltsame Kraft sich wieder selbstständig machte und ich keine Kontrolle darüber hatte.
„Kann man das nicht einfach rückgängig machen?“, fragte Brüderchen ernst und stellte sich schräg vor mich.
„Wenn das so einfach wäre, hätte ich das schon längst getan“, knurrte unser Gegenüber und schüttelte den Kopf, „Und das Thema ist zu kompliziert, um es hier jetzt im Schnelldurchgang abzuhandeln. Die Flachheit da kommt mit mir und damit basta. Verabschiedet euch voneinander, denn ihr werdet euch für eine ganze Weile nicht mehr sehen.“
‚Flachheit‘? Hatte er mich gerade ernsthaft ‚Flachheit‘ genannt? Dieser verdammte Kerl war ja noch dreister, als ich ohnehin schon dachte!
„Kommt nicht in Frage!“, fuhr Mustafa auf und streckte einen Arm vor mir aus, sodass er eine symbolische Blockade zwischen mir und dem Jungen errichtete, „Schön, sie muss in diese Akademie. Aber erstens sollten wir wenigstens unseren Eltern bescheid sagen-“
„Das würde ich an eurer Stelle nicht tun“, unterbrach der immer noch Namenlose ihn nüchtern, „Glaubt ihr, eure Eltern verkraften den ganzen Kram mit dem übernatürlichen Zeug, das sich hier gerade abspielt, so einfach? Seid nicht naiv. Entweder sie halten euch nur für bescheuert – und damit seid ihr noch gut dran – oder sie beschimpfen euch als Hexen, Monster oder sonst was. Erwartet kein Verständnis von ihnen, so toll ist die Welt leider nicht.“
„Was weißt du denn schon?!“, fauchte ich nun aufgebracht und bombardierte ihn mit sauren Blicken, „Unsere Eltern haben immer zu uns gehalten! Ich bin mir sicher, sie würden auch das verstehen! Tu nicht so-“
„Das alles dachte ich von meinen Eltern auch“, konterte der Junge tonlos und mit eisigem Ausdruck in den Augen, „Aber ich habe mich gründlich getäuscht. Wenn ihr die gleiche Erfahrung machen wollt, bitte, aber sagt hinterher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.“
Ich starrte ihn einen Moment lang einfach nur ungläubig an. Was hatte er für Erfahrungen gemacht, dass er so gefühllos klang, wenn er von seinen eigenen Eltern sprach? Unsicher blickte ich zu Muu, der ebenfalls unschlüssig wirkte. Er schien abzuwägen, wie weit er den Worten dieses Jungen trauen konnte, der in unser Landhaus eingebrochen war, versucht hatte dieses Buch zu stehlen und mich zuletzt sogar praktisch entführen wollte. Der, der zugleich geistesabwesend den Hals des Rappen streichelte, der ihn mit der Nase am Rücken anstupste. Daraufhin schlich sich ein kaum merkliches, trauriges Lächeln auf seine Lippen und er streichelte dem Pferd die Nüstern.
„Vater hat immer gesagt, wenn die Pferde einen Menschen mögen, kann man ihm vertrauen“, flüsterte ich kaum hörbar und schielte zu meinem Bruder. Dieser fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und blickte immer wieder zum Haus.
„Wenn ihr euch nicht bald mal entscheidet, werden sie aus dem Haus kommen“, stellte der Junge fest, „Und da man hier draußen bei so viel Grün wohl am ehesten mit Pferden weiterkommt, werden sie bestimmt nicht zu Letzt hier auflaufen.“
„Verdammt“, zischte Mustafa und nahm ihn wieder ins Visier, „Aber ich werde mit ihr kommen! Und davon wirst du mich nicht abhalten können, ganz egal, welches Argument du dafür findest!“
„Und ich gehe nicht ohne ihn!“, schloss ich mich ihm an, „Da kannst du machen, was du willst! Ich bin doch nicht so blöd, alleine mit dir sonst wo hin zu reiten! Nur über meine Leiche!“
Ich konnte sehen, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten und er uns wütend anfunkelte, doch sowohl mein Bruder als auch ich erwiderten stur seinen Blick. Darin hatten wir beide Übung und wenn wir uns einig waren, konnte uns niemand mehr umstimmen.
„Himmel nochmal!“, rief der fremde Junge und riss die Hände in die Höhe, nur um sie gleich darauf wieder fallen zu lassen und zu stöhnen, als würde Welt gleich über ihm zusammenbrechen, „Idiotische Sturköpfe! Alle beide! Na schön, du Möchtegernheld! Auf deine eigene Verantwortung. Du hast drei Minuten, dir ein Pferd zu satteln – nicht eine Sekunde länger!“