Das Moor
Kapitel 1
Ich träumte immer wieder denselben Traum. Ich befand mich in einem düsteren Wald, mit hohen unheimlichen, kahlen Bäumen. Der Wind peitschte heulend die Baumkronen und ließ die Äste und die Rinde ächzen. Es klang beinahe wie ein Stöhnen und ich schaute mich immer wieder panisch um; ich hatte das Gefühl verfolgt zu werden. Plötzlich erschien neben mir ein Moor, dunkel, von Schilfrohr überwuchert. Dichter Nebel waberte über der Wasseroberfläche und schien stellenweise seltsam zu flimmern, wie eine kaputte Glühbirne. Dann erklang ein schauerliches Heulen, meine Arme bekamen eine Gänsehaut und ein eiskalter Schauer jagte mir den Rücken herunter. Das Heulen wurde lauter, es klang als wären es hunderte von Stimmen und gleichzeitig nur eine. Mir klopfte das Herz schmerzhaft im Hals, am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, doch ich konnte mich nicht rühren. Meine Arme schienen plötzlich Zentner zu wiegen. Schreien konnte ich ebenfalls nicht, denn ich habe im Traum keine Stimme. Plötzlich schien der Nebel sich an einer Stelle zu lichten, es sah aus, als würde ein Loch in die Nebelwand gerissen. Und dann erblickte ich ihn, wie er aus dem Nebel trat, groß, schlank und mit einem eindringlichen Gesichtsausdruck. Ich wusste nicht, warum er mich so ansah, nicht was er von mir wollte oder wer er war. Doch ich spürte, dass er keine bösen Absichten hegte und trat ihm einen zögernden Schritt näher. Er blieb reglos stehen, mit diesem bittendem, ernstem Blick. Auch er trat plötzlich auf mich zu und immer kurz bevor wir uns berühren konnten, wachte ich auf…
So auch dieses Mal. Wieder schweißgebadet und mit klopfenden Herzen. Es dauerte eine Weile bis meine Benommenheit und mein Schrecken wichen, dann öffnete ich blinzelnd die Augen und sah auf den Wecker. Halb sieben. Ich versuchte mich auf die andere Seite zu drehen und weiterzuschlafen, denn ich wollte unbedingt wissen, wie der Traum weiterging. Doch wie immer, wenn ich mir wünschte, mein Traum möge wiederkehren, setzte sich der Traum nicht fort. Seufzend öffnete ich wieder die Augen, schlug die Decke zurück und stand auf. Meine dunkelblonden Haare waren zerzaust, mein Schlafanzug klebte nass an meinem Körper. Ich hatte noch eine halbe Stunde bevor ich eigentlich aufstehen müsste, doch an schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Ich machte mich fertig und überprüfte noch einmal ob ich alle Hausaufgaben gemacht hatte. Ich sah auf die Uhr. Es waren gerade einmal zehn Minuten vergangen. Ich ging zu meinem großen, schwarzen Bücherregal, das mit mehr als fünfzig Büchern bestückt war und nahm das Buch heraus, dass ich gerade las. Zwanzig Minuten waren zu wenig, aber ich würde nach der Schule noch lesen. Ich vertiefte mich vollkommen in meine Lektüre; ich merkte gar nicht wie die Zeit verging, bis Mutter mich rief. Erschrocken warf ich das Buch aufs Bett, schnappte mir meinen Rucksack und rannte runter zum Frühstück. Ich schlang mein Essen hinunter, was meine Mutter mit einem missbilligenden Blick quittierte, putzte meine Zähne, rannte in mein Zimmer, kämmte meine Haare, legte Parfum auf und schminkte mich. Ich legte Puder, grauen Lidschatten, ein wenig Rouge und Lippenbalsam auf. Dann flitzte ich wieder nach unten und verließ das Haus.
Zum Glück kam ich ein paar Sekunden vor dem Klingeln noch in den Klassensaal und versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren, doch meine Gedanken kreisten um den seltsamen Traum, den ich immer hatte. Was hatte er zu bedeuten? War er eine Warnung? Ich wusste es nicht. Irgendwie brachte ich den Schultag hinter mich. Da kam mir die Erkenntnis: Ich kannte das Moor. Natürlich, es war das Moor im Wald, nicht weit von der Schule entfernt. Ich überquerte die Straße und betrat den Wald. Ich lief eine Weile geradeaus und bog bei einer Senke rechts ab. Nach einer kurzen Weile tauchte das Moor, verborgen durch meterhohes Schilfgras, links von mir auf. Ich konnte das Wasser in der Sonne glitzern sehen. Ein wenig mulmig wurde mir schon, als ich das Moor aus meinem Traum so betrachtete, doch andererseits, nahm das Sonnenlicht dem ganzen den Schrecken. Dennoch zuckte ich heftig zusammen, als plötzlich ein Vogel laut schimpfend in die Luft schoss. Hastig lief ich weiter und wagte es nicht das Moor auch nur anzusehen. Ich rannte beinahe durch den Wald, dann blieb ich stehen um wieder Luft zu bekommen. Als ich aus dem Wald raustrat, befand ich mich auf der Rückseite der Sporthalle. Ich lief über den Lehrerparkplatz und ging nach Hause.
Zum mindestens hundertsten Mal versuchte ich nun schon den gleichen Satz zu lesen, ohne auch nur seinen Inhalt zu begreifen. Seufzend gab ich es auf, klappte das Buch zu, legte mich auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Dass ich vom Moor geträumt hatte, ist nicht so ungewöhnlich, schließlich kenne ich es schon seit der fünften Klasse, seit wir jedes Jahr im Sport im Sommer durch den Wald laufen. Aber warum träumte ich von einem Jungen, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte? Ich war enttäuscht, dass er mir im Wald nicht begegnet ist, aber dann merke ich wie dumm dieser Wunsch war. Hallo? Was hatte ich denn erwartet? Das der Himmel sich plötzlich verdunkeln und Nebel aufsteigen würde und dass neben mir der Junge aus dem Traum wie aus dem nichts erschien? Lächerlich! Ich musste über mich selbst lächeln. Ich hatte das Moor noch nie nach Einbruch der Nacht gesehen und ich hatte nicht vor das zu ändern, aber andererseits war ich neugierig ob das Moor aus meinem Traum und das echte Moor sich glichen. Nur hatte ich angst im Dunkeln rauszugehen. Und der Wald war in der Nacht bestimmt noch unheimlicher. Doch schließlich siegte die Neugier über meine Angst und ich beschloss bei Einbruch der Nacht in den Wald zu gehen. Die Zeit bis es dunkel wurde, schien sich wie zähflüssiger Honig zu ziehen und ich sah immer wieder ungeduldig abwechselnd auf die Uhr und aus dem Fenster. Irgendwann wurde es dann doch Mitternacht und dunkel. Ich zog leise meine Schuhe an, schlich auf den Flur und schlüpfte in meine Jacke. Ich lauschte einen Moment und öffnete leise die Tür. Dann fiel mir etwas ein, ich fluchte und drehte mich zur Küchentür um. Lautlos schwang sie auf und ich schlüpfte in die Küche. Blind tastete ich nach der dritten Schublade und betete, dass Mutter nicht aufwachte. Ich stieß mit der Hand gegen einen Schrank und biss mir auf die Lippe um nicht los zu fluchen. Schließlich fand ich die Taschenlampe und verschwand eilig aus dem Haus. Draußen war es still; niemand lief um diese Zeit noch herum. Wer war schon so verrückt wie ich und ging um Mitternacht noch aus dem Haus? Plötzlich fragte ich mich, was mich geritten hatte. Ich war doch sonst nicht so sorglos und unvorsichtig. Aber ich hatte das dringende Bedürfnis mich davon zu überzeugen, dass das Moor nichts als einfach nur ein Moor war. Nachdem ich mir wieder Mut gemacht hatte, lief ich los, rannte beinahe, und betete, dass mich ja niemand sehen würde. Ich erreichte nach ungefähr zehn Minuten die Schule, die mir beinahe noch unheimlicher war als das Moor und bog in den Weg zum Wald ein. Meine Schritte knirschten auf dem Kies und immer wieder sah ich mich wild um, immer in der Erwartung einen Wahnsinnigen aus dem Gebüsch springen zu sehen, der mich dann umbringen würde. Du hysterische Gans!, schalt ich mich und leuchtete mit meiner Taschenlampe auf den Weg vor mir, um nicht über einen Ast oder eine Wurzel zu stolpern. An der Wegbiegung wo nach wenigen Schritten das Moor anfing, hörte ich plötzlich Schritte. Erschrocken blieb ich stehen, fing mich wieder und hechtete in ein Gebüsch. Ich hielt den Atem an und lugte durch eine Lücke im Busch auf den Weg vor mir. Eine nächtliche Joggerin rannte leichtfüßig die Biegung herunter und blieb dann stehen, um kurz zu verschnaufen. Es war ein junges Mädchen, vielleicht zwei Jahre älter als ich, mit einem roten Pferdeschwanz, in einem schwarzen Trainingsanzug. Ich fragte mich was sie hier so spät im Wald zu suchen hatte. Joggen konnte sie auch tagsüber. Angespannt beobachtete ich sie, wie sie sich streckte und Dehnübungen machte. Als sie sich wieder aufrichtete versteifte sich ihr Körper auf einmal. Ich erschrak, weil ich dachte sie hätte mich entdeckt, doch sie sah mich gar nicht an, nicht einmal in meine Richtung. Ich folgte ihrem Blick und mein Herz begann von einer Sekunde zur Nächsten zu hämmern, als wolle es aus meiner Brust hüpfen. Ein seltsamer gelblich- weißer Rauch schien aus dem Moor zu kommen und auf den Weg zu wabern. Noch immer stand das Mädchen wie erstarrt und starrte auf das glitzernde Wasser zwischen dem meterhohen Gras. Dann erhob sich ein schauriges Heulen, das direkt aus dem Moor zu kommen schien. Plötzlich trat ein Ausdruck der Verzückung auf das Gesicht des Mädchens und es ging einen Schritt auf die hohen Gräser zu. Mit angehaltenem Atem und mir die Ohren mit den Händen zuhaltend, beobachtete ich was weiter geschah. Obwohl ich mir die Ohren zuhielt, drang das schauerliche Heulen weiterhin zu mir und es wurde lauter. Plötzlich meinte ich auch ein Zischen und Wispern zu hören. Es bereitete mir eine Gänsehaut. Wie gebannt hingen meine Augen an dem Mädchen, das dicht vor dem Schilf stehen geblieben war und sich nicht rührte. Ich wollte es anschreien, es von dort wegzerren, doch eine grauenhafte Lähmung hatte meine Glieder ergriffen und ließ mich an Ort und Stelle verharren. Das glühende Leuchten schien mit dem lauter werden des Heulens heller geworden zu sein und waberte rauchigem Dunst gleich über dem Wasser. Und eine große leuchtende Rauchwolke bewegte sich direkt auf das Mädchen zu. Ein Schrei kroch meine Kehle hoch, doch ich presste mir die Hand auf den Mund und stand vorsichtig auf. Die Wolke hatte das Mädchen mittlerweile erreicht. Es hatte noch immer diesen verzückten Ausdruck im Gesicht und hob die Hand um den leuchtenden Dunst zu berühren. Zuerst vorsichtig, dann immer schneller bewegte ich mich auf das Mädchen zu und gerade als ich nahe genug heran war und sie von dem unheimlichen rauchartigen Nebel wegreißen wollte, umfing dieser sie und brachte sie scheinbar zum Glühen. Ein seltsames Gefühl von Kälte kroch in mir hoch und ich ließ meine Hand sinken. Entsetzt sah ich zu, wie die Joggerin langsam, mit ruckartigen Bewegungen im Moor verschwand. Ich hörte das leise Plätschern als sie durchs Wasser lief. Ich sah sie bis zur Brust im Wasser verschwinden und machte einen Schritt auf das Moor zu, um sie zu retten, doch von einem Augenblick zum nächsten war sie verschwunden. Das Mädchen war verschwunden. Plötzlich schien das Heulen noch lauter zu werden, es hörte sich an wie wütendes Gebrüll. Die Welt begann sich vor meinen Augen zu drehen, eine unsichtbare Hand schien mich zurück zu stoßen. Ich stolperte, sank zu Boden und verlor das Bewusstsein.
Kapitel 2
Es war still als ich erwachte. Sehr still. Und kalt. Ich lag auf dem Boden, hinter einem Gebüsch und es war stockdunkel. Zitternd stand ich auf, klopfte mir den Schmutz von der Kleidung und machte ein paar staksige Schritte. Ich holte tief Luft, zog meine Jacke enger um mich und lief mit eiligen Schritten den Weg entlang. Meine Gedanken wirbelten im Kreis. Warum war ich im Wald aufgewacht? Warum verspürte ich dieses dumpfe Gefühl von Angst? Ich schüttelte heftig den Kopf um diese Gedanken zu vertreiben und lief schneller um endlich diesen Wald hinter mir zu lassen. Erst nachdem ich etliche Male gestolpert war und mich gestoßen hatte, fiel mir die Taschenlampe in meiner Jackentasche wieder ein und ich ging nach hause.
Zum Glück hatte meine Mutter nichts bemerkt und schlief noch, als ich mich in mein Zimmer schlich. Dort schmiss ich die Jacke auf meinen Stuhl und ließ mich aufs Bett fallen. Ich hatte das Gefühl nur fünf Minuten geschlafen zu haben, als mich das Klingeln meines Handys weckte. Stöhnend wühlte ich mich aus den Bettlaken, schnappte mir das nervige Ding und drückte auf die Annahmetaste. „Amira, du wirst es nicht glauben, aber in unserem Kaff ist mal etwas passiert!“, zwitscherte die Stimme meiner Freundin Mia und plötzlich war ich hellwach. Ich wollte etwas sagen, doch Mia plapperte einfach weiter. „Seit gestern wird ein Mädchen vermisst. Sie ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Ist das nicht aufregend?“ Ich fand das alles andere als aufregend. „Was?“, fragte ich nur dümmlich, während ich auf meine Armbanduhr schaute, die ich noch immer ums Handgelenk trug. Es war schon nach Zwölf. Zum Glück war heute Samstag. „Sie wird vermisst! Es steht sogar in der Zeitung!“ Ich schluckte, weil ich plötzlich ein ungutes Gefühl hatte, ohne zu wissen warum. „Vermisst?“, wiederholte ich dümmlich. „Ja, ist alles in Ordnung? Du hörst dich so seltsam an.“ „Ja… alles in Ordnung ich bin nur müde“, versicherte ich ihr. „Müde? Es ist schon nach zwölf, du Schlafmütze!“, erwiderte Mia fröhlich. Trotzdem hörte ich den leicht besorgtem Unterton in ihren Worten. „Und nur deshalb hast du angerufen und mich geweckt?“, fragte ich um das Thema zu wechseln. „Nein“, erwiderte Mia und der schadenfrohe Ton ihrer Stimme ließ mich böses ahnen. „Wir wollten doch heute in den Wald joggen gehen! Erinnerst du dich?“ Ich stöhnte innerlich auf. Natürlich erinnerte ich mich! Besonders daran wie sehr mir Mia damit in den Ohren gelegen hatte mit ihr joggen zu gehen, weil es ihr alleine keinen Spaß machte. Als ob es ihr mit einem Sportmuffel wie mir mehr Spaß machen würde! Als ich ihr nicht schnell genug antwortete und nicht in begeisterte Rufe ausbrach, schmollte sie: „Du hast es versprochen!“ Ich sagte lieber nicht, dass ich das ganz und gar nicht hatte, sondern nur gesagt hatte, ich würde es mir überlegen. Aber da ich sie nicht verletzen wollte, stimmte ich zu, mich mit ihr um halb eins zu treffen. Hastig sprang ich aus dem Bett, zog eine Grimasse als ich mein blasses Gesicht und die dunklen Augenringe sah, zog mir meine Jogginghose und ein T-Shirt an und schminkte mich schnell. Die Wimperntusche und das Rouge ließ ich weg und schmierte mir noch hastig ein paar Brote, die ich dann mit einer Wasserflasche, meinem Handy und dem MP3- Player in eine Tasche schmiss. Beinahe hätte ich den Hausschlüssel vergessen, schnappte ihn noch schnell aus meiner Jackentasche und verließ das Haus. Meiner Mutter hatte ich einen Zettel dagelassen, da sie einkaufen war und sich gleich Sorgen machen würde. Es war ein sonniger aber nicht sonderlich heißer Tag und ich genoss es, an der frischen Luft zu sein. Vielleicht war das mit dem joggen doch keine so schlechte Idee. Nach einem viertelstündigen Fußmarsch kam ich im Wald neben der Schule an und wartete auf Mia. Sie kam etwas zu spät und grinsend wie ein Honigkuchenpferd. „Hallo Faulpelz. Wärmen wir uns erst mal auf“, begrüßte sie mich. Ich nahm ihr den Faulpelz nicht übel, denn ich blieb wirklich lieber zu hause und hatte nicht immer Lust etwas zu machen. Dafür war Mia der totale Chaot. Mich wunderte dass, sie sich an unsere Verabredung erinnerte, denn normalerweise war ich diejenige, die sich Termine und Verabredungen am besten merken konnte und nicht dauernd ihre Sachen verlegte. Es geschahen noch Zeichen und Wunder. Wir wärmten uns auf, schalteten unsere MP3- Player ein und liefen langsam los. Schon nach kurzer Zeit merkte ich, wie ich außer Atem kam und verfluchte wieder einmal meine Faulheit. „Los komm! Du machst doch jetzt nicht schlapp!“, hörte ich Mia rufen. Sie war mir schon längst davongelaufen und lief jetzt, das Gesicht zu mir gewandt, rückwärts vor mir her. Ich verdrehte die Augen, stöhnte auf und verdoppelte meine Bemühungen. Mia hatte ihr Tempo verlangsamt und lächelte mir aufmunternd zu. „Nur noch bis zu der Holzbank, dann hast du es für heute geschafft!“, rief sie mir zu. Ich wusste nicht, ob mich das aufheitern sollte. Meine Lunge brannte jetzt schon und die Bank war noch mindestens dreißig Meter entfernt. Das konnte ich bestimmt nicht aushalten. Trotzdem biss ich die Zähne zusammen und machte weiter. Doch schon kurz vor dem Moor bekam ich Seitenstechen und musste langsam laufen. Meine Lunge brannte, das Herz hämmerte mir in der Brust und mir war warm. Ich wusste nicht wieso, aber ich hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als ich an dem Moor vorbeilief. Zögernd wandte ich den Kopf und starrte das Meterhohe Schilfohr an, zwischen dem das Wasser glitzerte. Ich wusste nicht warum, aber plötzlich kamen mir Mias Worte in den Sinn: „Seit gestern wird ein Mädchen vermisst. Sie ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.“ Plötzlich war mir eiskalt und ein Gefühl der Angst beschlich mich. Ich starrte weiter das Moor an; das dunkle Wasser funkelte im Sonnenlicht. Leiter Nebel schien über ihm zu schweben. Nebel… „Komm schon Amira, nur noch… Meine Güte, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, ertönte plötzlich Mias Stimme. Je länger ich das Moor ansah, desto größer wurde meine Angst. Ich hatte das Gefühl, dass etwas in diesem Wasser lauerte…. War der Nebel dichter geworden? „Hallo? Amira? Geht es dir nicht gut?“, drang Mias Stimme erneut zu mir. Sie klang besorgt. Mühsam riss ich meinen Blick von dem Moor los. Auf einmal waren meine Knie weich wie Butter. „Setz dich lieber. Es ist nicht mehr weit.“ Mia legte mir einen Arm um die Schultern, um mich zu stützen. Langsam, im Schneckentempo ließen wir das Moor hinter uns und erreichten die Bank nach einer halben Ewigkeit, so schien es mir. Ich ließ mich darauf fallen und versuchte das Moor aus meinen Gedanken zu verbannen. „Was ist los? Du bist blass wie ein Gespenst.“ Ich zwang mich Mia anzusehen und brachte ein Lächeln zustande, von dem ich hoffte dass es sie beruhigte. „Nichts, ich bin einfach nicht in Form, war wohl ein wenig zu viel auf einmal.“ Mia blickte zerknirscht drein, dann wühlte sie in meiner Tasche und drückte mir eines meiner Brote in die Hand. „Iss. Dann geht es dir bestimmt besser.“ Ich hatte keinen Hunger, zwang mich aber ein paar Bissen zu essen und nachdem Mia mich auch noch gedrängt hatte, meine halbe Wasserflasche auszutrinken, machten wir uns auf den Weg nach Hause. Mia fragte mich immer wieder ob alles in Ordnung sei und entschuldigte sich mindestens tausendmal dafür mir meine Unsportlichkeit austreiben zu wollen. Ich versicherte ihr immer wieder, es sei alles okay, hörte ihrem sonstigen Geplapper aber nicht zu. Die ganze Zeit gingen mir Mias Worte nicht mehr aus dem Kopf. Ein Mädchen war verschwunden… Mein Gefühl sagte mir, dass es etwas mit dem Moor zu tun hatte. Natürlich war das absurd, warum sollte ein junges Mädchen in der Nähe eines Moores verschwinden? Wenn sie nicht gerade unglücklich gestürzt und ertrunken war… Schluss mit diesen düsteren Gedanken! Ich hatte nichts damit zu tun, das Mädchen würde schon wieder auftauchen und ich brauchte keine solche Schuldgefühle zu haben. Ich hatte sie ja schließlich nicht geschuppst… Ich schüttelte den Kopf und klinkte mich wieder in Mias Geplapper ein. „Wir könnten ein Eis essen gehen, als Wiedergutmachung. Was sagst du dazu?“ Ich warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Erst schleppst du mich zum Joggen in den Wald und jetzt zum Eis essen? Willst du die ganze harte Arbeit zunichte machen, die ich in dieses zwanzigminütige Jogging gesteckt habe?“ Mia verdrehte ob meines sarkastischen Tonfalls die Augen. „Jetzt hör aber auf! An deiner Figur ist doch nichts auszusetzen!“ Jetzt verdrehte ich die Augen. Mia hatte leicht reden, sie war wunderbar schlank und konnte essen was sie wollte, ohne zuzunehmen. Was auf mich nicht zutraf. Gut, in letzter Zeit nahm ich auch nicht zu, aber würde ich mehr essen als nur drei Hauptmahlzeiten und eine Zwischenmahlzeit, sähe es ganz anders aus. Ich hatte kein Übergewicht, aber meine Beine waren trotz allem etwas stämmig; ich war nicht sonderlich groß, nur ein Meter vierundsechzig. Mein Körper hatte die Form einer Birne; breiter Oberkörper, schlanke Taille, kräftige Hüfte. Und dazu hatte ich noch für meinen Geschmack viel zu breite Schultern. Was würde ich nicht dafür geben so eine Figur wie Mia zu haben, mit langen, schlanken Beinen, schmalen Hüften und schlankem Oberkörper. Ich beneidete sie ebenfalls um ihr süßes Herzförmiges Gesicht und den schmalen Hals. Dafür jammerte Mia mir immer wieder die Ohren damit voll, dass sie gerne vollere Brüste hätte und so kurvige Hüften wie ich. Und sie beneidete mich um mein dickes, dichtes, dunkelblondes Haar. Was ich nicht verstehen konnte, denn für mich war die Farbe eher schmutziges Blond. Mias schwarze Haare glänzten wie Seide und umschmeichelten ihr Gesicht. Ihre grünen Augen strahlten. Aber es nützte ja nichts herumzumäkeln. Ich würde so bleiben wie ich war, außer ich würde mich einer Schönheits- OP unterziehen, was ich ganz und gar nicht vorhatte. Mia hatte schon seit der siebten Klasse immer wieder mal einen Freund gehabt, ich dagegen noch nie. Und das würde sich auch wohl nicht ändern… Ich überlegte ob ich auf Mias Vorschlag eingehen sollte. Eigentlich ging es mir gar nicht um meine Figur, ich hatte nur keine Lust extra in die Stadt zu fahren um ein Eis zu essen und ich wollte mich lieber in mein Bett verkriechen. Dieses unbestimmte Gefühl von Gefahr und die Schuldgefühle wühlten noch immer in mir. Ich war nicht in der Stimmung für einen Tag unter Freundinnen. Mia schien mir das übel zu nehmen und versuchte mich zum Eis essen zu überreden. Schließlich gab ich nach, weil ich wusste, dass sie mindestens drei Tage beleidigt sein würde, wenn ich ablehnte. Also verabredeten wir uns, uns in einer Stunde an der Bushaltestelle zu treffen. Langsam marschierte ich nach Hause.
Kapitel 3
Zwei Stunden später saßen Mia und ich in einer Eisdiele und schleckten unser Eis. Mia hielt natürlich Ausschau nach Jungs mit denen sie flirten konnte. Ich sah mich auch unauffällig um, hatte aber wie immer keine großen Hoffnungen, einen süßen Jungen zu finden der sich für mich interessierte.