Kurzgeschichte
Die Rache der toten Kinder

Die Rache der toten Kinder

Miharu starrte in den kleinen Spiegel vor sich an der Wand. Die eine Hand ruhte auf ihrem flachen Bauch. Ihre Augen schienen ausdruckslos und leer. Vor 17 Jahren hatte ihre japanische Mutter ihr den Namen Miharu geschenkt, dessen Bedeutung schöner, klarer Himmel war. Doch der Himmel über der jungen Frau war mit dicken, schweren Gewitterwolken verhangen.

„Ruri…“ flüsterte sie und ein tiefer Schluchzer hob und senkte ihre schmalen Schultern. Die Hand auf dem Bauch zitterte wie Espenlaub. „Ruri.“ Hauchte sie noch einmal, bevor sie ihre Lippen zu einem schmalen Strich verschloss und die Träne musterte, die sich einen Weg über ihre fahlen Wangen bahnte. Es war die erste und einzige Träne seit 11 Jahren die sie weinte.

Ruri hätte sie ihr Baby getauft. Ruri bedeutete Smaragd. Ihr Mädchen hätte ihr das Lächeln wieder geschenkt, das sie seit ihrer frühsten Kindheit verloren hatte. Während sie mit Abscheu ihren nackten Körper anstarrte, zogen vor ihrem geistigen Auge die schrecklichen Bilder ihrer Vergangenheit vorbei. Sie sah 100erte Männer, die sie missbraucht, geschlagen, gedemütigt und aufs schlimmste gefoltert hatten.

Ein frischer Windzug wehte durch das offene Fenster und zerzauste ihr pechschwarzes Haar. Sie hörte wie draussen eine Kinderstimme ganz deutlich ihren Namen rief. Miharu verschränkte fröstelnd die Arme vor ihrer blassen Brust und spähte angestrengt in den Regen hinaus. Ein schäbiger, kleiner Hund rannte über den Hof, sonst war niemand zu sehen. Die Regentropfen prasselten schwer und laut auf das Blechdach der Hütte und tränkten den Boden des angrenzenden Bambuswald. Plötzlich spürte sie einen feinen, warmen Druck auf ihrer linken Schulter. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie an sich herunter und sah, dass sich Blut über ihre Schulter schlängelte. Purpurrot, dick und süsslich. Ihr Herz stockte, schlug unrhythmisch, ihr Gesicht wurde kreidebleich, während sie vor Angst die Fingernägel in ihre Handballen krallte. Ein jäher Schmerz durchstach ihre Brust und zuckte durch ihr krankes Herz.

„Warum hast du das getan?“ fragte die Kinderstimme vorwurfsvoll. „Warum hast du mich getötet?“ Das Kind spuckte die Worte verächtlich heraus, als müsste es sich gleich übergeben. Ein Donner grollte ohrenbetäubend und liess die Hütte erzittern. Miharu schrie auf, als der Spiegel vor ihr auf den Boden viel und in tausend Stücke zerbrach. Einige Splitter schnitten sie in die Beine, dann riss sie jemand mit voller Gewalt an den Haaren und stiess sie zu Boden.

„Neeein!“ schrie Miharu in Todesangst. Die Scherben auf die sie gefallen war bohrten sich tief in ihr Fleisch.

„Warum hast du mich getötet?“ schrie die kindliche Stimme nun heiser vor Zorn. Miharu spürte wie sie jemand mit Füssen ins Gesicht trat! Wimmernd versuchte sie sich mit ihren Händen zu schützen. Die Schmerzen wurden so qualvoll, dass sie beinahe das Bewusstsein verlor.

„Mutter, ich hasse dich! Das ist deine verdiente Rache!“ schrie das Kind erneut. Miharu wand sich am Boden wie ein verletzter Fisch an Land. Durch einen Nebelschleier hindurch probierte sie ihren Peiniger im Raum auszumachen, doch da war niemand! Draussen zuckten Blitze über den düsteren Himmel und der Donner liess die Hütte immer wieder in ihren Grundfesten erzittern. Der Wind heulte und fletschte seine Zähne, um zu verschlingen was seinen Atem traff.

„Ich habe dich geliebt, …Ruri!“ flüsterte die junge Frau unter kläglicher Anstrengung am Boden. Sie sah aus wie eine gefallene Göttin. Schneeweisse Haut, mit den Zeichen des Blutes darauf, langes Haar wie ein Fächer ausgebreitet, in den Scherben verworren, im Sterben liegend.

„Ich wollte dich nicht töten!“

Das Kind lachte schallend los. Sein Lachen liess die Gläser auf der Anrichte neben dem Bett zerspringen. Dieses schrille Lachen übertönte den Donner, den Wind, die Schreie in Miharus Herzen.

Smaragdgrüne Augen tanzten im Dunkeln. Das Kind schrie Namen in den Wind, und der Druck auf Miharus Herzen wurde immer stärker, ihre Seele immer ängstlicher. Rote Punkte flackerten vor ihren Augen. Sie sah den Fluss des Todes und ihren Onkel der hämisch lachte und ihr eine gute Reise wünschte. In den Händen hielt er all die Geldbündel, die Miharu im Bordell für ihn verdient hatte. Er winkte ihr mit dem Samurai Schwert, mit welchem er drohte, ihr die Kehle durchzuschneiden wenn sie nicht für die Abtreibung einwilligte. Niemals hätte er Miharu mit ihrem Freund Daniel ziehen lassen. Er wollte, dass sie im Bordell blieb und für ihn Geld verdiente. Der Onkel schrie ihr obszöne Worte nach, dann wurde es plötzlich Schwarz vor ihren Augen.
 

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne goldgelb am wolkenlosen Himmel. Miharu erwachte schweissgebadet im Spitalbett.
 

Anhang:

Nach japanischer Mythologie sind die Seelen der abgetriebenen oder tot geborenen Kinder nicht in der Lage, den Fluss des Todes zu überqueren. Deshalb glauben sie, nähmen diese Rache an ihnen. Mit Krankheit, Geldsorgen und anderen Kümmernissen.

-Jährlich werden in Japan nach offiziellen Angaben 290‘000 Kinder im Mutterleib getötet.