Lauf, Willi, lauf!
Von Roland Schilling.
Es war noch ziemlich frisch, an diesem Frühlingsmorgen. Doch die Arbeit musste getan werden. Eine Arbeit, um die mich wahrscheinlich einige beneiden werden. Ich werde nämlich dafür bezahlt, durch den bayerischen Wald zu wandern. Natürlich ist das nicht meine einzige Aufgabe in meinem Job. Ich bin nämlich Nationalparkranger. Aber jetzt im Frühjahr ist es unsere Aufgabe, die Wanderwege zu inspizieren, damit sie für die Besucher wieder begehbar gemacht werden. Die langen, strengen Winter des bayerischen Waldes hinterlassen
erfahrungsgemäß ihre Spuren.
Gerade inspizierte ich einen ziemlich dicken Ast, der einen der Stege schwer beschädigt hatte. Ich trug die Schadensmeldung in meinen Pocket-Pc ein. Die Nationalparkbehörde würde sich dann darum kümmern, dass der Steg wieder gefahrlos für die Besucher zu begehen ist.
Als ich so am tippen war, vernahm ich hinter mir ein Schnauben und Grunzen. `Ein Wildschwein?`, dachte ich. Mit Wildschweinen war, gerade jetzt im Frühjahr nicht zu spaßen. Langsam drehte ich mich um. Ich dachte ich träume, als ich einem ausgewachsenen Bären in die Augen sah. Anscheinend waren wir beide
überrascht, uns hier zu begegnen. Der Bär wiegte seinen Kopf hin und her, unentschlossen, was er jetzt tun sollte. Kleine, weiße Dunstwölkchen kringelten sich bei jedem Grunzlaut aus seinen Nüstern in die kühle Frühlingsluft.
Ich dagegen hatte eine Idee, wie es weitergehen sollte. Ich holte vorsichtig mein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste der Nationalparkbehörde. Flüsternd nannte ich meinen Namen und das Planquadrat, in dem ich mich befand. Dann schilderte ich die Situation. „Wos? A Bär?“,lachte mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Ausgerechnet den Xafer musste ich dran haben, den Witzbold. „Ist
vielleicht einer aus dem Gehege ausgebrochen?“,flüsterte ich weiter. „Jo, wort a mol, i konn ja nochschaung. Bist sicher, dass a Bär is?“ Mir platzte der Kragen. Ich vergaß mein Gegenüber, ich vergaß, dass man sich so ruhig wie möglich verhalten musste , wenn man einem wilden Tier gegenüberstand und brüllte ins Telefon: „Ich werde doch wohl einen Bären erkennen, wenn ich ihm gegenüberstehe. Himmelherrgott...“ Weiter kam ich nicht, denn jetzt zog es der Bär vor, das Weite zu suchen. Ich konnte gerade noch ein Bild mit dem Handy von dem Flüchtigen aufnehmen.
Zurück im Hauptquartier erfuhr ich dann, dass keiner der Bären aus dem Gehege
vermisst wurde. Als Beweis, dass ich nicht verrückt bin, hatte ich ja das Foto. Wenn auch etwas verwackelt, doch man konnte eindeutig einen flüchtenden Bären erkennen. Mein Vorgesetzter hatte die Vermutung, dass das Tier aus Tschechien kommen könnte. Aber, die Distanz zu den Orten, an denen dort Bären gesichtet wurden bis ins Kerngebiet des bayerischen Waldes war schon enorm. „Erst die Wölfe und Luchse und jetzt auch noch Bären? Wir haben schon genug Schwierigkeiten mit den Landwirten. Wenn das an die Öffentlichkeit kommt. Das wird ein hartes Stück Arbeit für uns“, bemerkte er. Ich musste auch meine Bedenken los werden. „Und was ist mit
den Touristen?“, fragte ich. Mein Chef wurde kreidebleich. „Danke“,sagte er „daran habe ich ja überhaupt nicht gedacht.“ Er überlegte, während er im Besprechungsraum auf und ab ging. „Wir müssen es den Behörden melden“, entschied er schließlich.
Auf keinen Fall, so entschieden die Behörden, dürfe an die Öffentlichkeit gelangen, dass wilde Bären im bayerischen Wald unterwegs sind. So, da hatten wir es. Wir hatten einen uns nicht bekannten Bären in freier Wildbahn gesichtet, durften die Touristen nicht davon in Kenntnis setzten, waren aber für deren Sicherheit verantwortlich.
Mein Chef war fuchsteufelswild. „Wie
könne die es wagen?“, brüllte er. „Wir könne es unmöglich verantworten. Wenn was passiert, sind wir dran.“ Wieder konnte ich meine Klappe nicht halten. „Und wenn wir sie informieren, bleiben die Touristen aus.“ Sagte ich. Er nickte mir zu. „Du hast Recht“, sagte er. Er atmete einmal tief durch und entschied dann den Ministerpräsidenten zu informieren.
Der Ministerpräsident ließ uns wissen, dass er sich nicht um solche Lapalien kümmern konnte wozu gäbe es schließlich das Innenministerium. Der Innenminister endlich, gab den Bären dann zum Abschuss frei. Natürlich sollte zuerst versucht werden, den Bären zu betäuben
und eventuell ins Bärengehege des Nationalparks zu integrieren. Das stand tatsächlich so in der Mail, „Integrieren.“
Mein Vorgesetzter schüttelte den Kopf. „Die haben doch keine Ahnung. Was denken die sich eigentlich. Bären sind doch keine Katzen, die man zusammen mit anderen im Tierheim in einen Käfig stecken kann. Niemand kann wissen, ob unsere Bären einen Fremden akzeptieren würden.“
Aber irgendetwas musste mit Willi geschehen. Willi, so hatte ich ihn inzwischen genannt. Denn erstens war ich es, der ihn als Erster gesehen hatte und zweitens erinnerte er mich an meinen Onkel.
Inzwischen hatten aber auch schon andere Bekanntschaft mit dem Bären gemacht. Bei einem Landwirt verwechselte Willi den Hühnerstall mit einem Selbstbedienungsimbiss und hat sich schließlich eine kleine Nachspeise am Bienenstock gegönnt. Bei einem Schäfer soll er unschuldige Schafe fast zu Tode erschreckt haben. Nur das beherzte Eingreifen des Hirtenhundes hätte schlimmeres verhindert.
Wir stellten also einen Trupp aus Jägern und Nationalpark Rangern zusammen. Bewaffnet mit Betäubungsgewehren und Großwild Büchsen, falls das mit dem Betäuben nicht klappen sollte.
Tagelang pirschten wir durch den
bayerischen Wald und kehrten abends in unser Hauptquartier zurück. Dort hatten wir eine Karte an der Wand, wo alle Sichtungsorte mit kleinen Zettelchen, auf denen Datum und Uhrzeit standen, mittels Stecknadeln markiert wurden. Wie ernst man diese Mitteilungen aus der Bevölkerung nehmen konnte, soll folgendes Beispiel zeigen. Zwei der Orte lagen 40 Kilometer Luftlinie auseinander. Laut der Notizen hat Willi die Strecke in 20 Minuten geschafft. An alle Schüler unter euch, also ich kriege da eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 120 Kmh raus. Wenn ihr was anderes habt, könnt ihr mir gerne eine PN schicken. Aber, zurück zur Geschichte.
Diesmal hielt ich meine Klappe und informierte den Chef nicht von der Ungereimtheit auf der Karte. Es ist nicht immer gut, wenn man etwas mehr weiß als der Chef, besonders wenn dieser bis zum Zerbersten gereizt ist. Die Bevölkerung war beunruhigt, die Touristen blieben aus, weil die ganze Sache natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien war und wer war schuld?
Wir natürlich. Wozu waren Nationalpark Ranger denn gut, wenn nicht dafür, für Ordnung zu sorgen? Ein frei laufender Bär, mitten in der freien Natur? Das geht doch nicht.
Am fünften Tag schließlich, hatten wir ihn gestellt. Ein Polizeihelikopter gab uns den
entscheidenden Hinweis. Er labte sich am kühlen Nass des kleinen Arbersee`s. Wir gingen in Deckung. Wir wagten kaum zu atmen. Der Wind stand günstig, so dass er keine Witterung aufnehmen konnte. Der Jäger mit dem Betäubungsgewehr lud seine Waffe und zielte. Da hörte ich ein Klicken neben mir. Der Jäger, der neben mir in der Deckung lag, hatte ein Großwildgewehr. Das Klicken kam daher, dass er den Hahn spannte. Auch Willi hörte anscheinend dieses Geräusch, denn er richtete sich auf seine Hinterbeine auf. Wie ein König des Waldes blickte er über sein Reich. Es war jetzt sein Revier, denn es gab keinen anderen Bären hier. Und er wollte wissen, wer es gewagt hatte, in sein
Reich einzudringen. Es war ein majestätischer Anblick, den ich nie mehr vergessen werde. Natürlich machen Bären auch in Tiergarten „Männchen“ , doch nicht aus diesem Grund. Es ist verrückt, aber ich wusste, was Willi fühlte. Er wollte uns sagen: „Verschwindet, dies ist mein Reich. Ihr habt hier nichts zu suchen.“
Als ich dieses Klicken hörte, klickte auch in meinem Kopf etwas. Sie durften Willi nichts tun. Sie durften dieses majestätische, stolze Tier nicht töten. Ich weiß nicht, wer oder was mich geritten hatte, aber ich sprang auf. Ich stellte mich auf meine Hinterbeine, wie Willi, der verdutzt in meine Richtung starrte. Ich
breitete die Arme aus und lief laut brüllend los. Die anderen waren anscheinend so schockiert, dass sie handlungsunfähig waren. Wild mit den Armen rudernd und laut schreiend, dass jeder Indianer erblasst wäre, rannte ich weiter auf Willi zu, der mich seelenruhig beobachtete. `Nicht mehr lang und ich renn dich um Kumpel`, dachte ich, als sich Willi endlich entschloss, das Weite zu suchen. Mit einem atemberaubendem Tempo, das man einem so großem, schwerem Tier gar nicht zutraute, entfernte er sich von mir, während ich immer noch hinter ihm her rannte. Wäre es umgekehrt gewesen, hätte ich schlechte Karten gehabt.
Erschöpft ließ ich mich auf meine Knie fallen. Ich lachte, als ob ich durchgedreht wäre, vielleicht war ich es auch. „Lauf, Willi!“, rief ich ihm hinterher. „Lauf, Willi, lauf!“