Begegnungen mit Menschen im Alltag, die wir als selbstverständlich nehmen
Vorwort
Wie viele Menschen sind Teil unseres Lebens, ohne dass wir uns darüber Gedanken machen. Der tägliche Rhythmus bringt uns mit diesen Menschen zusammen, unsere Leben verlaufen parallel, wir kennen uns mit Namen oder auch nur vom Sehen und doch, was wäre, wenn sich nicht mehr unsere Wege kreuzen, wenn diese Begegnungen ausbleiben würden?
Hätten wir ein Verlustgefühl, fehlte uns etwas oder gingen wir unbeeindruckt weiter in ständig neuer Begegnung mit Menschen, bei denen sich ein Nachdenken , vielleicht sogar ein richtiges Kennenlernen lohnend wäre?
Wer weiß das schon?
Die Kassiererin
Leicht gebeugt sitzt sie da, wie immer, als trüge sie die Last des häuslichen Alltags mit zu ihrer Arbeitsstelle. Wenn sie sich unbeobachtet wähnt, streicht sie sich schon mal über die Augen und seufzt oder drückt die Faust in ihren Rücken, strafft sich und runzelt die Stirn. Sie hat Sorgen, sie hat Schmerzen und doch, sobald ich zu ihr trete, meine Ware auf das Band häufe, dann lächelt sie mich an:
“Hallo, wie geht es Ihnen denn heute?“ und ich weiß, es ist keine Floskel, sie nimmt wirklich Anteil, denn wir kennen uns schon bald 20 Jahre. Damals war sie Verkäuferin in einem kleinen Tante Emma Laden bei mir um die Ecke und als die Besitzerin diesen aus Altersgründen schloss, war sie froh, gleich im nahen Supermarkt eine Stelle zu bekommen.
Wie gut wir uns doch kennen, obwohl unsere
Begegnungen immer nur einen vollen Einkaufskorb lang sind.
Sie weiß, was meine Kinder und Enkel machen, dass meine Operationen gut verlaufen sind, ich kenne ihr Asthma, die Sorgen mit der frühreifen Tochter, dem körperlich behinderten Sohn und dem Sohn, der im Ausland studiert, von dem sie, ihrer Meinung nach, viel zu selten hört.
Da ihr Mann unter schwerem Rheuma leidet, überlegen sie schon lange, ob sie nach ihrer Pensionierung in den Süden umsiedeln, da es ihm dort in allen Urlauben nur gut ging. Die Ärzte haben sich dafür ausgesprochen und auch die Kinder finden diese Idee gut, doch ein ganz klein wenig Angst haben sie vor diesem Schritt, sind sie doch beide hier geboren, alle Bekannten, Freunde und Verwandten leben hier.
Wir nennen uns beim Namen und ich werde sie vermissen, wenn sie einmal aufhört, automatisch wähle ich immer die Kasse, an der sie sitzt…
denn wir kennen uns schon so lange.
Der Tankstellenpächter
„Warten sie, ich helfe ihnen!“ Schon steht er auch nicht mehr hinter seinem Tresen, sondern nimmt mir das unhandliche Staubsaugerrohr aus der Hand.
„Sie können doch kaum laufen oder stehen, wie wollen sie denn ihr Auto aussaugen? Ich helfe ihnen.“
„Meinem Enkel ist gestern eine Tüte Streu geplatzt und das verteilt sich jetzt im Wagen, muss doch gemacht werden.“
Während ich mich auf meinen Gehstützen gerade halte, hat er auch schon den “Stein des Anstoßes“ beseitigt.
Seit 26 Jahren tanke ich bei ihm und er geht bald in Rente, doch wie oft haben wir gescherzt und gelacht, wie oft hat er erst meinen Kindern, dann den Enkeln mal einen Lolli zugesteckt.
Er verlor schon sehr früh seine Frau, zog seine 4 Kinder alleine groß, denn immer, wenn er sich mal wieder in eine Frau verliebt hatte und sie von der Kinderschar hörte, zog sie sich zurück.
Nun sind die Kinder, so wie meine, erwachsen und leben verstreut in Deutschland, doch gerne besuchen sie ihn mit den zahlreichen Enkeln und bei meinen Tankbesuchen tauschen wir Erfahrungen aus, hier über neueste Computerspiele, Handys, dort über Krankheiten, aber auch, wenn es leer bei ihm ist, ich mir mal die Zeit für einen Kaffee nehme, über Alltagsprobleme in der Welt, über Hobbys und Träume. Ich merke immer, dass er niemanden hat, der ihm zuhört, wenn er über sich sprechen möchte.
Heute läuft eine CD bei mir, die hat er aufgenommen, er gab sie mir, nachdem er meine Lyrik im Internet gelesen hatte:
„Ist stümperhaft, habe ja nur einen einfachen PC, aber ich glaube, sie verstehen meine Musik“, waren seine ganz bescheidenen Worte, die fast ein wenig verschämt wirkten, doch wenn ich mir dann die warmen, sehnsuchtsvollen Töne seiner Klarinette anhöre, auch mal jubilierend in froher, erwachender Lust, dann wieder schmelzend und betörend, dann ist es mir so egal, welche Qualität die Technik generell hat, hier fühlt man das Herz des Künstlers und das musste ich ihm sagen.
Was wird in drei Jahren sein, wenn er aufhört, denn er wird 70 und möchte sich dann mehr den schönen Künsten widmen, vielleicht mehr in der Nähe des einen oder anderen Kindes?
Meine Augen werden ihn immer suchen, wenn ich tanken fahre,
denn wir kennen uns schon so lange.
Die Sprechstundenhilfe
Gerade hatte sie ihre Ausbildung begonnen, als ich zum ersten Mal diesen Arzt, einen Tennisfreund aufsuchte. Schüchtern, ab und zu auch aufgeregt, aber immer sehr freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend begrüßte sie die Patienten und leitete sie weiter oder rief sie auf.
Hier half sie beim Schuhe binden, dort in den Mantel. Im Laufe der Jahre änderten sich ihre Kleidungsgewohnheiten, die Frisuren und nun der Name, doch niemals ihre Freundlichkeit, egal, wie voll die Praxis war und ist, sie weiß, wer welche Verordnungen braucht, wer ein gutes oder tröstendes Wort.
Im vergangenen Jahr erweiterte mein Arzt, wie schon mehrmals, seine Praxis, eine Zweitpraxis kam hinzu und neue Ärzte und Angestellte und ich war sehr erschrocken, als ich bei einem Besuch dort von einem neuen
Gesicht sehr schroff gefragt wurde: “Und was wollen Sie?“
Meine Antwort: “Ein freundliches Guten Morgen vielleicht erst einmal?“
Nur wenige Wochen später war mein Sonnenschein wieder da und begrüßte mich, auch am Telefon, mit der gewohnt freundlichen Stimme, dem zuvorkommenden und sehr beruhigenden Tonfall.
Ich weiß mittlerweile, dass die unfreundliche Kollegin, die mit der Praxis des alten, scheidenden Arztes übernommen worden war, von der anderen Strukturierung, dem völlig anderen, nur noch über Computer laufenden System total überfordert war, sich nun nach guter Einarbeitungszeit auch ab und zu ein Lächeln abringen kann, doch ich bin froh, dass sie schon fast so alt ist wie ich und mich in meinen späten Jahren in der Praxis nicht begleiten wird.
Ich hoffe sehr, dass meine vertraute, von innen heraus freundlich strahlende Sprechstundenhilfe dieser Praxis lange, lange erhalten bleibt,
denn wir kennen uns schon so lange.
Die Frau mit dem Hund
Ein freundliches Winken, ein kurzes Hallo, unsere Hunde beschnüffeln sich und wir gehen unsere Wege weiter, die sich immer wieder kreuzen.
Außer diesen kurzen Momenten haben wir noch keinerlei Sätze miteinander gewechselt, doch immer wieder fallen mir Dinge auf, auf die ich sie gerne einmal ansprechen würde, doch sie wirkt so verschlossen und ein wenig ängstlich, als scheue sie sich, überhaupt mit jemandem zu sprechen.
So sind es Kleinigkeiten, die sich im Laufe der Jahre in meinem Gehirn festsetzen. Warum hatte sie ab und zu bei Regen keinen Schirm, keine Kapuze und lief in karierten Filzpuschen spazieren?
Was ist der Grund, dass ihr seit mindestens 3
Jahren an ihrer stets gleich bleibenden Jacke 3 Knöpfe fehlen?
Wieso ist sie immer so blass, obwohl sie sich doch jeden Tag an der frischen Luft bewegt?
Dann der Tag, an dem mir auffällt, dass ich sie nicht mehr treffe. Nun, jeder ist mal im Urlaub, krank oder geht einen anderen Weg…Jeder? Nein, sie nicht, nach ihr konnte man die Uhr stellen.
Ich unterhalte mich mit anderen Hundebesitzern, mit denen ich schon häufig ins Gespräch kam. Jeder hat sie die vielen Jahre gesehen, doch keiner weiß etwas über sie. Sie wird vermisst, obwohl …
Da kommt ihr Hund, ich erkenne ihn, meine Hündin erkennt ihn, doch am Ende der Leine ist ein anderer Mensch, ein anderes Gesicht und doch ähnlich, eine Frau.
Ich spreche die Frau an: „Ist die Besitzerin
krank? Wir haben sie hier schon vermisst.“
Eine traurige Antwort: “Meine Schwester ist gestorben, sie hatte Krebs, keine Kraft mehr.“
Auf meine Beileidsbekundung hin, schüttet sie ihr Herz aus, froh, hier in der fremden Stadt mit einem Menschen sprechen zu können. Viel erfahre ich auf diesem Spaziergang, den wir gemeinsam machen, so viel über ihre Schwester, die taubstumm und immer ein wenig vergesslich war, dennoch ihr Leben alleine gestaltet hatte. Betroffenheit bei mir, denn das wusste niemand von uns, die wir uns immer wieder sahen durch die Gemeinsamkeit der Spaziergänge. Die Schwester wird nun den alten Hund mitnehmen, wenn sie den Haushalt aufgelöst hat.
Ich hätte es so gerne eher gewusst, bin unzufrieden mit mir, weil ich sie nie ansprach,
denn erst jetzt kenne ich sie ein wenig.
Der Pilzsucher
Sein Kopf ruckt hoch, er hat mich gehört. Mit einem kurzen Nicken verschwindet er, seinen Korb mit Pilzen an sich drückend, im Gebüsch.
Ich muss schmunzeln, denn jahraus, jahrein treffe ich ihn und habe immer den Eindruck, dass es ihm nicht recht ist, jemanden hier zu sehen oder ob er Angst hat, dass seine besten Fundstellen bald von mir geräumt werden?
Wer mag er sein, woher kommt er? Ich sehe ihn nie bei uns im Ort, nur im Wald an den verschiedensten Stellen, denn natürlich sprechen sich die guten Plätze für Pilze herum. Mein Pluspunkt ist, dass ich ein Frühaufsteher bin und oft vor allen anderen Sammlern dort bin und er ist der einzige, den ich schon um fünf Uhr morgens dort antreffe.
Er trägt immer Hut und eine rehbraune Jacke,
fällt mir ein, auch seine dunklen, buschigen Augenbrauen sehe ich vor mir, obwohl wir ein- ander noch nie näher als 20 Meter gekommen sind. An der einen Hand hat er einen steifen Finger, das fällt auf, weil er immer, wenn er mir zunickt, mit der Hand an die Hutkrempe fasst, als wolle er ihn abnehmen und der Ringfinger bleibt steif in der Luft stehen. An diesem Ringfinger trägt er einen Siegelring, doch auf Grund der Entfernung und durch die Kürze der Begegnung kann ich mehr davon nicht erken- nen.
Wenn er verschwunden ist, bleibt immer ein etwas zitroniger Geruch zurück, wodurch mir Pitralon einfällt, ein Rasierwasser, das ein Nachbar in meiner Kindheit benutzte und das ich in so guter Erinnerung habe, weil dieser Mensch immer fröhlich und voller Schabernack war.
In der Flüchtigkeit dieser Begegnungen liegt der Reiz, mehr wissen zu wollen über den
Menschen, doch so informationslos wie immer werden sich weiter zur Pilzzeit unsere Wege kreuzen,
denn wir kennen uns eben nicht wirklich, doch wir erkennen uns wieder.
Geht weiter
Das Mädchen am Morgen
Es ist später als sonst, dass ich meine Morgenrunde beginne. Mein Hund schlägt an, kaum, dass wir das Haus verlassen haben und den Weg zum Wald gehen. Ich rufe ihn zurück und entdecke dann hinter einer Hecke große braune Kulleraugen, die angstvoll auf uns gerichtet sind. Ein kleines Mädchen mit sehr großem Tornister auf dem Rücken hockt weinend im Gras und hat, wie man riechen kann, dort ihr großes Geschäft verrichtet.
„Warum weinst du denn, ist doch nichts Schlimmes, wenn man mal muss.“
„Ganz oft, wenn ich den Weg zur Schule fast geschafft habe, muss ich so dringend, dass ich mir eine Hecke aussuche, wo ich machen kann“, flüstert sie, „aber ich habe dies mal kein Tempos dabei und kann mich nicht abwischen.“
Ich gebe ihr ein Tempo und drehe mich ein wenig weg, damit sie sich nicht beobachtet fühlt.
„Schau mal dort hinten, das rote Haus, dort wohne ich, du kommst immer daran vorbei. Wenn du also wieder musst, dann klingest du einfach und gehst bei mir auf die Toilette, einverstanden?“
Sie lächelt, nickt und läuft mit einem leisen Tschüss an mir vorbei, Richtung Schule.
In den nächsten Monaten klingelt es ungefähr zehnmal bei mir und die kleine Pia, wie sie heißt, benutzt meine Toilette. Dann sehe ich sie nicht mehr.
Im Supermarkt habe ich eben den Einkaufswagen weggestellt, da höre ich meinen Namen und schaue hoch. Ein junges Mädchen lächelt mich an und dieses Lächeln kommt mir bekannt vor, doch ich finde den Zusammenhang nicht.
„Ich bin Pia. Erinnern sie sich, ich durfte immer ihre Toilette benutzen. Ich freue mich, sie mal wieder zu sehen, denn wir sind nach Himmelsthür gezogen, deshalb kam ich nicht mehr vorbei.“
Eine fröhliche Unterhaltung begann, zu der sich dann auch Pias Freund gesellte.
Begegnungen, die ich nicht vergesse, Menschen, an die ich denke,
denn ein wenig kannte ich sie.
Die Familie mit den vielen Kindern
Da sind sie wieder, ich höre sie schon von weitem jauchzen, fragen, ab und zu singen oder pfeifen, dann und wann die Stimme der Mutter, des Vaters mit Warnungen, Ermahnungen. Dann kommt sie in Sicht, die Großfamilie oder sind es gar nicht so viel eigene Kinder, gehen deren Freunde mit spazieren?
Das Baby, das vor wenigen Wochen noch in ihrem Bauch den Spaziergang mitmachte, wird von der Mutter im Tragetuch vor der Brust getragen, der Vater hat in dem Tragegestell auf seinem Rücken ein ca 1jähriges Kind mit dunkelbraunem Wuschelkopf und vor ihnen laufen, hüpfen oder gehen noch 7 Kinder in den unterschiedlichsten Größen und den verschiedensten “Ausführ- ungen“.
Nun ertönen auch schon die Rufe nach meinem Hund, denn die Größeren hatten mich neulich nach dem Namen gefragt
„Darf ich deinen Hund mal streicheln?“ Ich nicke und muss lächeln, denn es spielt sich immer so ab, das Kind, das als erstes vor mir steht, möchte den Hund streicheln und gutmütig lässt er sich so nach und nach von fast allen Kindern kraulen, bis es ihm zu viel wird und er im Dickicht verschwindet. „Bis zum nächsten Mal“, rufe ich der Familie noch zu und gehe weiter, ein wenig ärgerlich über mich selbst, weil ich wieder einmal versäumt habe, die Kinder nach ihren Namen zu fragen.
In den folgenden Jahren treffe ich sie immer wieder, die Kinder werden größer, es gesellt sich kein Baby mehr dazu, das eine oder andere Kind geht nicht mehr mit in den Wald, andere Interessen, doch nach wie vor ist diese fröhliche Familie unterwegs.
Und die Namen der Kinder, ich kenne sie jetzt.
Der alte Mann im Garten
Wie jeden Tag, wenn der Winter gegangen ist, buddelt er im Schutze seines Strohhutes in seinem Garten, schneidet Hecke, bindet Rosen hoch oder was sonst so anfällt. Heute sieht er mich zuerst.
„Guten Tag!“
„Guten Tag!“
„Na, mal wieder mit dem Hund unterwegs?“
„Ja sicher, wir brauchen beide den Auslauf.“
Er lacht, ich natürlich auch.
„Dann will ich mal weitermachen!“
„Ja, schönen Tag noch.“
Sein Garten ist ganz nah an unserem Wald und dennoch weiß ich nicht, wie er heißt, wie er lebt. Nie sah ich eine Frau in seinem Garten,
keine Besucher. Ab und zu schenkt er mir einen Apfel, eine Handvoll Nüsse oder ich frage ihn, ob ich mal die eine oder andere Blume fotografieren darf, was er mir immer gestattet.
Zu gerne würde ich mal einige Bilder von ihm machen, denn sein Gesicht fasziniert mich. Kleine, fröhliche Knitterfalten um Augen und Mund zeigen Humor und Leichtigkeit, doch auch viele tiefe Bahnen auf Wangen und Stirn zeugen von Erleben, doch die unglaublich meeresblauen Augen machen es unmöglich, sein Alter zu schätzen. Sie strahlen eine Lebendigkeit und Wärme aus, wache Anteilnahme an Leben und Natur spiegeln sich wieder.
Wir freuen uns, wenn wir uns treffen, wechseln wenige Worte und doch habe ich immer das Gefühl:
ich kenne ihn.
Die Frau am Lottostand
Ich nicke ihr zu, als ich als ich an der Poststelle stehe, denn die Lottoannahme ist direkt daneben. Meistens tippt sie, hochrot und immer wieder die Brille zurechtschiebend, doch immer fröhlich lächelnd, etwas in ihren Rechner ein, nimmt Scheine an, gibt Scheine heraus, fragt nach Mittwoch oder Samstag, Spiel 77 oder nein… Die Kunden antworten, nehmen ihr Wechselgeld in Empfang, der Nächste…
Heute lehnt sie an der Wand, ist sehr blass und trinkt ein wenig von dem Wasser, das ihr eine Kollegin eben reichte.
„Geh rüber, ich übernehme“, sagt jene, sie nickt nur und geht, etwas schwankend, sich immer wieder an der Wand entlang tastend. Hilflos wirkt sie, klein und zitterig, während sie sonst durch ihre frische, quirlige Art zum Lächeln herausfordert.
Was mag sein, ich will nicht fragen, denn die Leute mit den Lottoscheinen in den Händen drängeln, mein Paket ist inzwischen abgestempelt, ich bekomme meine Quittung und gehe, nehme betroffen die Erinnerung an das blasse Gesicht und die Fragen nach dem Grund ihres schlechten Befindens mit mir,
denn so kenne ich es nicht.
Der Mann mit den Käppis
„Etwas für mich dabei?“
Heute hat er ein weißes Käppi auf, das ich noch nicht kenne. Wie immer tippt er mit zwei Fingern an den Rand desselben und schüttelt den Kopf.
„Nein, heute nichts dabei“, lächelt der kleine Spanier und geht weiter, den Blick auf einige Briefe in seiner Hand gerichtet, mit denen er nun den Kindergarten ansteuert.
Wie viele Jahre bringt er schon die Citypost hier in unser kleines Dorf? Ich erinnere mich vage, dass es diesen Dienst seit Ende der 90er Jahre bei uns gibt, also schon eine ganze Weile und von Anfang an brachte er die von diesem Dienst erst seltenen Briefe. Mit flottem Schritt meisterte die hügelige Landschaft und besuchte die verstreut liegenden Empfänger.
Nicht jeden Tag war er damals unterwegs, dieser Briefdienst musste erst Fuß fassen, doch mittlerweile läuft er Tag um Tag, bergauf, bergab.
Sein Schritt ist langsamer, bedächtiger geworden und von Zeit zu Zeit bleibt er auch stehen und atmet tief durch Bei Wind und Wetter, immer das gleiche freundlich- verbindliche Gesicht, nur das Outfit passt sich der Witterung an, die Farben und Aufdrucke seiner Käppis wechseln, er hat auch keinen Rhythmus im Wechsel, so kommt es mir immer vor, als besäße er tausende davon. Manche mit Schriftzügen, mit Bildaufdrucken von Vereinen, Lebensmittelketten, Getränken, Städten. Ich brachte ihm einmal eine Kappe aus Spanien mit dem Aufdruck Granada mit, weil er mir erzählt hatte, dass er dort geboren wurde, aber schon mit den Eltern in den 60er Jahren nach Deutschland kam. Dieses Strahlen in seinen Augen, als er sie in Empfang nahm, war
mir damals Dank und Freude im Übermaß.
Ich schaue ihm nach, er gehört in meine Tage, denn ja -
ein wenig kenne ich ihn.
Die Lehrerin
Wie so oft treffen wir uns an der Supermarkt- kasse. Wir lächeln uns an. Sie fragt nach meinem Sohn, meinem älteren Enkel, dann nach dem Rest der Familie. In die Antworten knüpfe ich die Fragen nach ihren Familien. Wir nicken uns zu, gehen unseres Weges.
Meine Gedanken gleiten sinnend 25 Jahre zurück. Wir zogen hierher in den Weihnachtsferien und im neuen Jahr brachte ich meinen Sohn, damals in der 2. Klasse, zur neuen Schule, die nur ca 200 Meter oberhalb unseres Hauses, direkt am Wald liegt. Ein wunderbarer Platz für die Schule, dachte ich damals und genoss den Blick übers Land.
Der Rektor brachte uns zur Klasse und dann stand sie vor mir. Mit fröhlichem Lachen in Augen und Stimme begrüßte sie uns, setzte meinen Sohn gleich neben den ihren, denn das
Kind, das sonst diesen Platz innehatte, war in eine andere Stadt verzogen. Unsere Söhne wuchsen miteinander auf, auch die Freizeit durch Fußball und Tennis gestalteten sie oft gemeinsam und wurden erwachsen, so trafen sich natürlich auch nach der Grundschule und dem damit verbundenen Schulwechsel der Kinder die Wege der Eltern sich immer wieder.
Als mein älterer Enkel eingeschult wurde, lag meine Tochter im Krankenhaus, brachte mit einem Kaiserschnitt den zweiten Sohn zur Welt. Also war ich neben Papa die Begleiterin des Schulanfängers und wie sehr berührte es mich, als mit einem strahlenden Lachen unsere Kleinen von eben dieser Lehrerin in Empfang genommen wurde.
Wie beruhigend war es, als sie mir die Hand drückte und zuraunte:“ Nun also die nächste Generation.“
Nun ist sie in Pension, schade, sie wäre auch eine tolle Lehrerin für den jüngsten Enkel geworden, sie hatte all unser Vertrauen,
denn wir kennen sie gut.
Der Mann in Schwarz
Ein Nicken, ein kurzer Gruß und schon ist er vorbei. Immer, wenn ich mit den Hunden auf dem Panoramaweg spazieren gehe, treffen wir uns; er kommt mir entgegen, immer in dem gleichen Tempo, die Arme auf dem Rücken verschränkt, durch die Brille meistens auf den Boden schauend, die Lippen bewegend, als rede er mit sich, kurz aufschauend, wenn wir fast auf einer Höhe sind. Groß und sehr schlank, ja fast mager wirkt er, das Gesicht übersät mit Narben, vielleicht von Akne?
Fast immer trägt er diesen wadenlangen, schwarzen Trenchcoat, dick und warm gefüttert im Winter- sicher ein Einknöpffutter- leichter im Frühling ohne das Futter und mitunter offen wehend, wenn es wärmer wird. Nur im Sommer, wenn es richtig heiß ist, dann sehe ich ihn ohne diesen Mantel, dann trägt er
zu der schwarzen Hose und dem ebenfalls schwarzen Polohemd ein offen flatterndes Hemd derselben Farbe.
Wie oft kreisen in meinem Kopf dann Gedanken: was macht er wohl beruflich? Ein wenig wandern meine Vermutungen immer in die gleichen Richtungen, denn vom Eindruck seines ausgreifenden Schreitens, insbesondere, wenn dann noch die langen Mantelkanten wehen, sehe ich einen Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt vor mir, dann wiederum könnte ich mir auch einen Architekt oder einen Steuerberater vorstellen. Oder ist es ein Schauspieler, der hier seine Texte noch einmal durchgeht? Nein, das wohl doch nicht, dann würde er sicher mit den Armen fuchteln, gestikulieren, also auch ein Sänger ist dann auszuschließen. Über was man sich alles so den Kopf zerbricht…ich muss lachen.
Seit einigen Jahren kommt nun auch zu dem
kurzen Nicken und dem Gruß ein freundliches Lächeln hinzu.
Er ist für mich dort oben eine feste, nein, eher eine sehr bewegliche Instanz geworden, er würde mir fehlen, ginge er dort nicht mehr spazieren, … denn ihn erkenne ich schon in der Ferne.
Der Mann mit dem Rucksack
Langsam geht er den Berg hinab, vorsichtig den Stock setzend, jeden Schritt gut über- legend. Er ist klein, nicht einmal ein Meter und sechzig groß, sehr zierlich, trägt immer Hut und auf dem Rücken einen großen olivfarbenen Rucksack. Seine Füße stecken in hohen Schnürschuhen, das erkennt man, wenn bei Wind die schlotternden Hosenbeine ein wenig hochwehen. Das linke Bein ist sehr viel kürzer als das rechte, gut erkennbar an der sicher acht bis zehn Zentimeter erhöhten Sohle des linken Schuhs.
Alt ist er, sehr alt. Jahr für Jahr werden sein Name und der seiner Frau von der Kanzel der kleinen Kirche verkündet, denn er wird nun schon 97 Jahre und seine wesentlich jüngere Frau, wie er immer betont, 85 Jahre alt. Jeder im Dorf kennt und grüßt ihn, wenn er vom Berg
oben kommt, einmal in der Woche seine Runde macht, um für den häuslichen Bedarf einzukaufen. Hilfe lehnt er ab, auch Gesprä- che.
„Ich komme hier nicht zum Quatschen her, sondern um einzukaufen.“ ist sein nicht sehr freundlicher Kommentar, wenn Jemand mal das Wort an ihn richtet und nach dem Wohlergehen fragt.
„Was fragen sie so dumm, sie sehen doch, dass ich trotz meines Alters noch laufen und denken kann.“
Doch dann, auf dem letzten Stück seines Heimweges, dort, wo die Straße sehr steil und eng wird, dort verändert sich das kantige, verschlossene Gesicht. Ein Lächeln spielt um seine Mundwinkel und er beginnt zu singen zuerst leise, doch immer mehr sich steigernd, zum Schluss weithallend, dann ist er zu Hause und die Menschen, die ihn singen hören,
wischen sich beschämt die Tränen aus den Augen, wagen kaum, sich zu rühren, um ihn ja nicht zu erschrecken, um nicht das Lied frühzeitig dadurch enden zu lassen.
Er singt den Bajazzo mit einem Wahnsinns- Bariton, den man in diesem kleinen Körper niemals vermutet hätte. Warm, schmelzend, herzzerreißend…
Wir werden ihn vermissen, seine Unfreund- lichkeit, seine Geradlinigkeit und vor Allem das Erlebnis seiner Stimme,
denn dadurch erkennen wir ihn und sein Inneres.
flovonbistram Begegnungen, die irgendwo immer wieder stattfinden. Senden wir doch mehr Signale aus, um die Anderen besser kennenzulernen. Liebe Grüße Flo |
flovonbistram Wir sehen so viele Menschen immer wieder, sie sind Bestandteil unseres Lebens und doch, wir wissen so wenig von ihnen LG Flo |
flovonbistram Re: Siehst du ... - Zitat: (Original von Gunda am 24.03.2013 - 17:17 Uhr) ... Flo, das sind die Begegnungen, die ich mit "Interferenzmuster" meinte: Man trifft sich/sieht sich und geht ein Stück Weges gemeinsam. Und durch diese kurzen, vllt sich auch wiederholenden Begegnungen beeinflusst man auf irgendeine Art und Weise das Leben eines Anderen ... Schöne Beobachtungen. Lieben Gruß Gunda Das geht mir jetzt aber sehr durch den Kopf. Schauen wir erst mal auf die sich treffenden Wellen...gut, gesehen, wenig Wellen gegeben... und doch...sie müssen ja schon prägnanter gewesen sein, vielleicht auf der Gegenseite auch...dass Ich habe mir jetzt gerade mal bildlich vorgestellt, wie viele Schlagabtausche es so wohl gegeben haben mag... Danke Dir LG Flo |
Gunda Siehst du ... - ... Flo, das sind die Begegnungen, die ich mit "Interferenzmuster" meinte: Man trifft sich/sieht sich und geht ein Stück Weges gemeinsam. Und durch diese kurzen, vllt sich auch wiederholenden Begegnungen beeinflusst man auf irgendeine Art und Weise das Leben eines Anderen ... Schöne Beobachtungen. Lieben Gruß Gunda |
flovonbistram Re: Staunend - Zitat: (Original von Gast am 21.03.2013 - 00:37 Uhr) welche Gedanken sich manche machen. Ich glaub ich bin da oberflächlicher. Muß ich noch nachdenken. lg Armin Hallo Gast Armin. Danke für die Auseinandersetzung mit den Begegnungen. Flo |
flovonbistram Re: - Zitat: (Original von pyrmonter am 20.03.2013 - 14:53 Uhr) Eine interessante Begnung und auch gleich so viele. Der Altag aus einem Blickwinkel, der sich lohnt etwas dabei zu verweilen. Mir jedenfalls hat es gefallen. VG p. Der Alltag rauscht so schnell an uns vorbei, Verweilen ist immer gut. Danke sagt Flo |