Wie aus einem geplanten Selbstmord ein neuer Anfang des Lebens wird
Brücke – Aus Ende wird Anfang -
© by Pinball
Cover: Google
Der Regen prasselt unaufhörlich auf Gregor Schemm herunter. Er ist bereits völlig durchgeweicht, aber er nimmt es nicht wahr. Seit Stunden steht er schon hier auf der Brücke und starrt auf den dunklen Fluß herunter.
Nicht nur der Regen, auch seine Tränen laufen über sein Gesicht. Alles hat er verloren: Die Insolvenzeröffnung über sein kleines Geschäft war nur noch das Tüpfelchen auf dem i gewesen.
Schon drei Wochen vorher hatte ihn Regina, seine Frau verlassen und die Scheidung eingereicht. Schlimme Streitereien zwischen ihnen waren die Folge gewesen und die Folge davon wiederum war, daß er Clas, seinen 5-jährigen Sohn nicht mehr zu sehen bekam.
Gregor war mit seiner Kraft am Ende, er konnte und wollte auch einfach nicht mehr. Er hatte mit allem abgeschlossen
.
Er atmet tief durch und stützt sich mit den Händen auf das Geländer. Es ist nicht sehr hoch, sehr einfach, darüber zu steigen und den letzten, diesen endgültigen Schritt zu tun.
Gerade als er ein Bein heben und über das Geländer steigen will, spürt er neben sich eine leichte Bewegung, hört ein Räuspern und dann eine leise sanfte Stimme: „Willst du es wirklich tun?“
Gregor zuckt zusammen und sieht zur Seite. Neben ihm steht eine alte Frau, klein ist sie und hat langes weißes Haar. Er hat keine Ahnung, wie sie dort hin gekommen ist und wie lange sie schon dort steht, so sehr war er in sich selbst versunken.
Er sieht sie stumm an und wieder kommt von ihr die Frage: „Willst du es wirklich tun?“
Mit einem tiefen Seufzer antwortet Gregor: „Was geht sie das an? Lassen sie mich einfach in Ruhe und verschwinden sie.“
„Wenn es das ist, was du wirklich willst, dann gehe ich. Aber lass dir sagen, daß es sehr einsam ist da unten, einsam und dunkel.“
„Woher wollen sie wissen, wie das ist?“ kam ungehalten von Gregor.
„Oh, ich weiß es, ich weiß es. Ich wohne dort, ich wohne dort seit vielen vielen Jahren.“
„Wo, wo wohnen sie?“ fragte Gregor.
„Unten, unten im Fluß, wo du hinwillst, wenn es das ist, was du wirklich willst“ erhält er zur Antwort.
Gregor lachte: „Jetzt sagen sie nur noch, sie sind eine Nixe oder so.“
„Oder so, ja, das bin ich. Eine Nixe bin ich nicht, um das zu sein, muss ich meinen Frieden mit mir selbst gemacht haben und das hatte ich nicht, als ich gesprungen bin“ hauchte sie.
„Na, wenn sie tot sind“ griente Gregor, „warum kann ich sie dann sehen?“
„Weil ich es so will“ kam die Antwort.
„Und warum wollen sie es?“ hakte Gregor nach.
„Ich hab schon viele springen sehen“ nickte sie ihm zu, „da konnte ich nichts tun. Aber an diesem Abend, da kann ich etwas tun, vielleicht jedenfalls.“
Gregor sah sie an: „Und was ist so besonderes an diesem Abend?“
Leise bekam er Antwort: „An diesem Abend, um diese Zeit vor genau 10 Jahren bin ich gesprungen und es war falsch, daß ich es getan habe. Seit dem steige ich jedes Jahr an diesem Tag und um diese Zeit aus dem Fluß heraus auf die Brücke. Eine Stunde ist mir gegeben, eine Stunde, um vielleicht zu verhindern, daß wieder jemand springen wird.“
„Und genau da komme ich“ sagte Gregor langsam und er begann an seinem Verstand zu zweifeln. Stand er wirklich hier und ließ sich auf ein Gespräch ein mit einer verrückten alten Frau?
„Was willst du?“ kam wieder diese Frage von ihr.
„Was ich will, ist das dass alles zu Ende ist, es bringt alles nichts mehr, alles habe ich verloren. Ich kann nicht mehr, ich will nur noch meine Ruhe und meinen Frieden haben, und zwar für immer.“
„Ruhe und Frieden suchst du also“ sagte die Alte zu ihm und sah ihn aus ihren blauen Augen durchdringend an. „Laß mich dir etwas erklären und vielleicht etwas schenken“ fuhr sie fort. Wenn du springst, dann wirst du in einem kleinen Moment, bevor das Leben dich verlassen wird, Ruhe und Frieden haben und absolute Klarheit über alles, was dich quält. Ich habe die Kraft, dir diesen Moment jetzt zu schenken, nur dieses einzige Male in deinem Leben. Willst du?“ fragte sie ihn.
Gregor lachte bitter auf: „Was hab ich schon zu verlieren, wird sowie nicht klappen, also sag schon deinen Zauberspruch oder so, springen kann ich dann immer noch.“
„Es ist nur eine einzige Bedingung daran geknüpft, aber die mußt du erfüllen“ sagte die alte Frau in einem sehr ernsthaften Ton.
„Aha, jetzt kommt der Haken, wie im richtigen Leben, was? Also raus damit, was ist deine Bedingung, willst du meine Scheckkarte haben?“ antwortete Gregor.
„Nein, nichts will ich von dir haben. Du mußt nur morgen Abend um dieselbe Zeit wieder hier sein und mir eine Frage beantworten, mehr nicht. Also, willst du diesen Moment von mir bekommen?“ wurde er von ihr gefragt.
Gregor seufzte auf: „Also gut, mach schon, ob ich heute springe oder morgen, was macht das schon.“
„Streck deine rechte Hand aus“ flüsterte die Alte.
Etwas zögernd streckte Gregor ihr seine rechte Hand entgegen. Die alte Frau beugte sich über seine Hand und Gregor sah, wie ihre langen weißen Haare über seine Handfläche glitten, es war wie ein Nebel, der plötzlich seine Hand einhüllte. Er fühlte nichts, nicht die leiseste Berührung. Aber mit einem Mal war da ein Gefühl, zunächst ein Gefühl der Kälte, dann wurde es ihm warm, eine angenehme warme weiche Welle schien seinen ganzen Körper einzuhüllen und es wurde ihm wärmer und wärmer und dann, mit einem Mal verschwand dieses warme Gefühl. Als ob ein Blitz ihn durchzucken würde, war plötzlich alles um ihn herum in gleißendes Licht getaucht, nur für einen winzigen kleinen Moment, dann wurde es wieder dunkel.
Die tausend Gedanken, die noch vor wenigen Minuten durch Gregors Kopf getobt waren, sie waren verschwunden. Da war nichts mehr in seinem Kopf und doch … da war noch etwas, etwas, das langsam wuchs und wuchs, größer, klarer und deutlicher wurde bis es alles in seinem Kopf beherrschte.
Gregor sah sich nach der alten Frau um. Sie war verschwunden. Als er sich über das Geländer der Brücke beugte, sah er einen kleinen weißen Nebel über dem Wasser schweben und aus dem Nebel heraus hörte er ihre Stimme: „Vergiss nicht, morgen, dieselbe Zeit.“
Einige Minuten stand Gregor noch still dort und sah auf den Fluß herunter. Aber jetzt sah er nicht mehr nur das dunkle unbewegliche Wasser, jetzt sah er etwas fließen, sah Bewegung und er wußte genau, was er zu tun hatte.
Er griff in seine Tasche, holte sein Handy heraus und wählte die Nummer seiner Frau. Nur wenige Augenblicke später hörte er ihre genervte Stimme: „Was zum Teufel willst du, lass mich einfach in Ruhe.“
„Warte, warte“ sagte Gregor, „leg nicht auf, bitte. Hör einen Moment zu.“
Nach einem kleinen Augenblick des Schweigens am Hörer sagte seine Frau: „Na gut, einen Moment, aber wenn du wieder ausrastet, lege ich sofort auf.“
„Ich raste nicht aus, bestimmt nicht“, sagte Gregor zu ihr. Ich muss dich sehen, dich sprechen. Es wird sich alles regeln, aber es muss sofort sein, heute noch, am besten jetzt sofort.“
„Du spinnst doch wohl, ich treff mich doch nicht mit dir. Ist wieder eine deiner verrückten Ideen, glaubst du etwa immer noch, ich käme zu dir zurück“ fauchte Regina ihn an.
„Nein, keine Verrücktheiten“ sagte Gregor ruhig. Nur ein Gespräch, ein ruhiges Gespräch, sag mir wo wir uns treffen können.“
„Na gut“, entgegnete sie, „ich fahre gleich zum Spätdienst, wir können uns in der Cafeteria im Krankenhaus treffen, in einer halben Stunde, aber nur kurz.“
„In Ordnung“ antwortete Gregor, „ich werde da sein.“
Sie beendete das Gespräch und Gregor steckte sein Handy sein. Er zündete sich eine Zigarette an und machte sich auf den Weg zum Krankenhaus, in dem seine Frau als Krankenschwester arbeitet.
Dort angekommen, ging er in die Cafeteria, holte sich am Ausschank einen Kaffee und setzte sich an einen kleinen Tisch. Dann erbat er bei der Bedienung ein Stück Papier und Umschlag. Während er auf Regina wartete, schrieb er schnell einige Zeilen auf das Papier, nickte dann, schob das Papier in den Umschlag und klebte ihn zu.
Er hatte den Umschlag gerade auf den Tisch gelegt, als seine Frau die Cafeteria betrat, sich ebenfalls einen Kaffee holte und sich dann zu ihm setzte.
„Also, was willst du“ eröffnete sie übellaunig das Gespräch.
Gregor lächelte sie an und legte seine Hand auf die ihre: „Ich hab etwas begriffen“ sagte er leise zu ihr. „Du liebst mich nicht mehr, schon lange nicht, nur wegen dem Kleinen bist du nicht eher gegangen. Das ist so und das wird sich nicht ändern. Schuld daran sind wir beide, daß wir nicht genug für uns, für unsere Liebe getan haben. Und wenn man nicht genug dafür tut, dann geht sie eben eines Tages, geht dorthin, wo sie mehr wahrgenommen und gepflegt wird.“
Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr dann fort: „Ich hasse dich nicht und ich will nicht, daß du mich hassen wirst. Ich gehe gleich morgen zu einem Anwalt, der soll sich mit deinem Anwalt in Verbindung setzen und alles regeln. Sag ihm, was du brauchst, ich werde dir keine Schwierigkeiten machen. Nur eine Bitte hab ich: Ich möchte Clas sehen, so oft wie möglich, möchte Zeit mit ihm verbringen. Er soll seinen Vater nicht verlieren. Lass uns da auch eine Lösung finden. Er lebt bei dir aber lass und gemeinsam für ihn da sein. Mehr möchte ich nicht.“
Regina sah ihn stumm und staunend an und es dauerte eine Weile, bis sie ungläubig sagte: „Das ist alles, auf einmal, einfach so, kann ich kaum glauben.“
„Ist aber so“ entgegnete Gregor, „manchmal dauert es eben etwas, bis einem klar wird, was man wirklich will und was wichtig ist.“
„Gut“ nickte Regina, wenn das so ist, dann wäre das wundervoll. Versuchen wir es.“
Sie stand auf: „Ich muss jetzt zur Arbeit“. Sie reichte ihm die Hand, die Gregor nahm und leicht drückte.
„Sobald das zwischen unseren Anwälten geregelt ist, rufe ich dich an, dann kriegen wir das mit dem Kleinen auch hin, du fehlst ihm“ sagte sie lächelnd, bevor sie sich umdrehte und die Cafeteria verließ.
„Moment“ rief Gregor ihr nach, „ich hab noch was für dich“.
Regina drehte sich um und kam ihm ein paar Schritte entgegen, sah ihn mißtrauisch an.
Gregor reichte ihr den Umschlag vom Tisch. „Frag jetzt bitte nichts, steck ihn einfach ein und verwahr ihn sicher. Und versprich mir, daß du ihn nur öffnest, wenn du in großer Not bist und keinen Ausweg mehr weißt.“
Achselzuckend nahm Regina den Umschlag entgegen und schob ihn in ihre Handtasche. „Keine Ahnung, was das jetzt wieder soll, aber gut, ich werde ihn verwahren.“
Als sie die Cafeteria verließ, sah Gregor ihr nach. Dann ging auch er. Draußen zündete er sich eine Zigarette an und machte sich auf den Weg in sein kleines Zimmer, das er in einer billigen Pension bezogen hatte. Er betrachtete dieses Zimmer plötzlich nicht mehr als Endstation, sondern als Durchgangsstation. Grimmig nickte er sich selbst zu, er würde es schaffen.
Am nächsten Tag rief Gregor einen Bekannten an, einen Rechtsanwalt. Er nannte ihm den Namen des Anwalt, der für Regina bei der Scheidung tätig war. Gregor wies seinen Bekannten an, sich als sein Anwalt zu melden. Er gab ihm auch genaue Instruktionen, daß alles so schnell wie möglich und vor allem einvernehmlich zu regeln sei. Alles solle sofort in die Wege geleitet werden. Am nächsten Tag wollte Gregor sich wieder bei ihm melden.
Als nächstes besuchte Gregor seinen Insolvenzverwalter und sicherte diesem jegliche Hilfe zu, damit das Verfahren reibungslos und zügig ablaufen konnte.
So manche andere Dinge regelte Gregor an diesem Tag noch, nichts wichtiges, alles Dinge, die ihm selbst ein gutes Gefühl vermittelten.
Am frühen Abend machte er sich dann auf den Weg zur Brücke. Er war schon etwas früher dort als gestern und lehnte entspannt am Geländer und rauchte, als plötzlich ein leichter weißer Nebel vom Fluß aufstieg. Der Dunst schien Gregor einzuhüllen und von überall her schien die Stimme der alten Frau zu klingen: „Nun, da bist du.“
„Ja, da bin ich“ antwortete Gregor in den Nebel hinein und jetzt stell deine Frage.“
„Ja, die Frage, sie lautet: Hast du bekommen, was du willst, bist du glücklich?“
Gregor dachte einen Moment nach, dann kam etwas zögernd, aber dann immer sicherer werdend seine Antwort: „Ich weiß nicht, ob ich jemals bekomme, was ich will, aber ich denke, ich habe einen Schritt in die richtige Richtung getan, ich habe etwas richtiges getan. Ob ich glücklich bin? Jedenfalls glücklicher als gestern. Und ich weiß, daß ich vielleicht glücklich werden kann. Sag mir, geht mehr?“
„Es ist viel, sehr viel, was du getan hast und ob du glücklich wirst, wer weiß. Es ist ein Abenteuer, aber du kannst es nur erleben, wenn du LEBST, also lebe. Und noch eines: Was war in dem Umschlag, was hast du aufgeschrieben?“ flüsterte die Stimme in seinen Kopf.
„Wenn sie keinen Ausweg weiß, dann soll sie an diesem Tag um diese Zeit hier auf diese Brücke gehen, damit ihre Gedanken klar werden.“
Ein warmer weicher Hauch hüllte Gregor ein, er hatte das Gefühl, als erhielte er einen unglaublich zarten Kuss auf die Wange, dann zog der Nebel in einer Spirale von der Brücke auf den Fluß herab und verschwand darin.