Drei Begegnungen, drei Mythen, drei Titanen und nur einen Ausweg die Menschheit zu retten. Sie sind die letzten Söhne einer Jägerdynastie. Manche glauben, sie seien Legende. Andere halten sie für Auserwählte, die eine Welt des Chaos ins Gleichgewicht bringen werden und Einige schreckten vor Nichts zurück, um sie zu vernichten. Wie viel Leid kann eine Seele ertragen, bevor sie zerbricht? Wie viel Schmerzen ist ein Mensch bereit, auf sich zu nehmen, bevor er aufgibt zu kämpfen? Wie oft muss Vertrauen betrogen werden, damit der Freund zum Feind wird?
Unzählige zuckende Körper wirkten im diffusen Licht wie ein gigantisches Wesen, das verzweifelt mit dem Tod zu kämpfen schien. Die Luft war heiß und hinterließ auf ihrer blanken Haut einen klebrigen Film. Nebelschleier trugen einen fruchtigen Geruch in den Raum und ihre Schatten wurden durch den flimmernden Boden verzerrt, bevor gleißende Lichter sie endgültig zerfetzten.
Jack löste seinen Blick von der Tanzfläche und starrte in das Glas, welches zwischen seinen Fingern rotierte. Er hatte sich den Abend anders vorgestellt. Sie würde nicht mehr kommen – so viel war klar. Über vier Stunden hatte er nun an dieser Bar gewartet. Enttäuscht kippte er sich den letzten Schluck des Mixgetränkes in den Mund. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Das Zeug war lauwarm kaum genießbar.
Suchend sah er hinter den Tresen und nickte dem Barkeeper zu. „Noch einmal das Gleiche?“, fragte dieser.
Jack hatte die Worte des Jungen nicht verstanden, konnte sie aber deutlich von seinen schmalen Lippen ablesen. Verschiedene Musikstile, die aus den einzelnen Dancefloors eindrangen, vermischten sich hier mit dem Stimmengewirr zahlloser Menschen zu undefinierbaren, fast rauschähnlichen Klangbildern.
Jack gab mit einem Fingerzeig dem Barmann zu verstehen, dass er zahlen wolle.
Über dessen blasses Gesicht huschte ein Lächeln. „Sie sollten nicht mehr fahren“, sagte er mit erhobenen Augenbrauen und fuhr sich mit den Fingern durch die nach oben gestylten, kurzen Haare. Er zählte die Scheine, die ihm der Gast gegeben hatte und seine Augen verrieten, dass er mit dem Trinkgeld zufrieden war.
„Ist okay“, antwortete Jack. Er griff nach seiner Jacke, die über der Lehne des Barhockers hing, steckte den Geldbeutel in die Gesäßtasche seiner Jeans und drehte sich in Richtung Ausgang. Kleine Rotznase, dachte er, ich wette du bist noch zu jung, um überhaupt ein Auto zu besitzen.
Die Jacke über seiner Schulter, kämpfte sich Jack mühsam gegen einen nicht endenden Strom von Neuankömmlingen durch den langen Korridor des Clubs nach außen. Immer wieder wurde er von entgegenkommenden Körpern angestoßen oder gegen die Wand gedrängt.
Als sich die Tür des alten Industriegebäudes endlich hinter ihm geschlossen hatte, holte er tief Luft. Die kühle Nacht tat ihm gut und hatte für den Moment seine Enttäuschung vertrieben. Jack ging eine provisorisch betonierte Straße in Richtung Parkplatz. Hinter sich vernahm er immer noch das dumpfe Grollen der Musik. Das riesige Backsteingebäude verschluckte die hohen Töne und ließ nur tiefe Bassschläge nach außen dringen.
Seine Finger suchten in der Hosentasche nach dem Schlüssel, als er vor dem Auto stand. Stirnrunzelnd blickte er auf den zierlichen Gegenstand. Du hast Recht – Kleiner, dachte er, warf den Schlüssel nach oben und fing ihn wieder auf, um ihn in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Durch den Park sind es nur 20 Minuten bis nach Hause. Den Wagen kann ich auch morgen noch abholen. Er zog sich die Jacke über und ging in die Richtung aus der ihm ein frischer, nach gemähtem Rasen, Holz und Wasser duftender Wind entgegen schlug.
Langsam schälten sich die Umrisse knorriger Eichen aus dem Nebel. Der schwache Schein des Mondes tauchte die Umgebung in ein unwirkliches Licht und schien jedem Stein, Strauch oder Baum ein Eigenleben zu geben. Je mehr sich Jack der finsteren Silhouette des alten Parks näherte, umso deutlicher konnte er spüren, dass der Sommer noch nicht gewonnen hatte. Es gab noch kalte, immer schattige Stellen, an denen die wärmenden Strahlen der Sonne gescheitert waren. Hinter seinem Rücken verblassten die Laternen des stillgelegten Industriegebietes.
Fröstelnd zog er den Reißverschluss seiner Jacke nach oben und vergrub die Hände in den Taschen. Loser Kies knirschte unter seinen Schuhen, als er vom Schatten der Bäume verschlungen wurde und in den Wald eintauchte. Der Pfad schien kein Ende zu nehmen. Unzählige Male war ihn Jack Connor schon entlang gejoggt. Aber heute Nacht war irgendetwas anders. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als ob er damit ein ungutes Gefühl, das sich in seinen Bauch breit machte, vertreiben könnte. Gott, ich müsste doch bald durch sein. Am kleinen Fischteich vorbei – dann sind es nur noch 10 Minuten und die gute alte Zivilisation hat dich wieder, überlegte er.
Und tatsächlich konnte Jack einen Augenblick später die glitzernde Oberfläche des kleinen Sees sehen. Über dem Wasser waberten Dunstschleier. Sie schlichen ihm unaufhaltsam entgegen. Der leise Schall seiner Schritte war das einzige Geräusch, in der gespenstigen Stille.
Schmerzend verkrampfte sich sein Herz – diese Schritte waren nicht seine! Jack sah sich um. Er konnte niemanden sehen. Aber er hatte doch Schritte gehört. Du bist ein Vollidiot – das nächste Mal trinkst du etwas, das du verträgst. Der Alkohol schien ihm die Sinne zu vernebelt zu haben. Entschlossen ging er weiter.
„Jack – nimm mich mit!“, flüsterte jemand. Konzentriert beobachtete Jack ein weiteres Mal das Gelände. Im Zwielicht des Mondes verzerrten sich die rissigen Stämme mächtiger Eichen zu seltsamen Geschöpfen, die zu tanzen schienen. Entstellte Gesichter starrten auf ihn herab.
Jack Conner spürte wie sich seine Kehle langsam zuschnürte. Blankes Entsetzten hatte seinen Körper gepackt. Nichts wie weg hier, schoss ihm durch den Kopf.
Er sah in Richtung Straße, deren Geräusche schon zu hören waren und rannte los. In seinem Nacken spürte er einen eisigen Atem. Du träumst … es ist niemand da … reiß dich zusammen. Mann, wie alt bist denn du eigentlich!
Schon erschienen die erleuchteten Fenster der ersten Häuserreihen in der Ferne. Jack konnte bereits die asphaltgeschwängerte Stadtluft riechen.
„JACK!“
Der Schrei war ganz dicht an seinem Ohr als es ihm die Beine weg riss. Sterne explodierten vor seinen Augen.
Zögernd bewegte Jack Connor die Beine. Die fernen Geräusche der Stadt bahnten sich ihren Weg zurück in sein Bewusstsein. Seine Gelenke schmerzten von der Kälte, die im feuchten Boden lauerte. Was war passiert? War er gestolpert und hatte sich den Kopf angeschlagen? Mit beiden Händen stütze sich Jack ab und hatte dennoch das Gefühl, Bleiplatten in den Jackentaschen zu haben als er sich endlich erhoben hatte. Kopfschüttelnd rieb er Kieselsteinchen aus seinen Handflächen und warf einen Blick über die Schulter. „Jack, Jack, Jack“, keuchte er: „Alter, du stolperst über deine eigenen Beine!“
*** *** ***
„Jim! Jetzt beeil dich, ich habe Hunger“, fordernd sah Ron in Richtung Bad und hörte, wie das Wasser abgestellt wurde. Eine Sekunde später schob sich Jims Kopf durch die nur spaltbreit geöffnete Tür. Nasse Haarsträhnen klebten auf seiner Stirn und ließen unzählige Wassertropfen über sein Gesicht perlen. Ein Tropfen hatte sich an der Nasenspitze festgesetzt und bebte bei jedem Atemzug.
„Alter“, entgegnete Jim, „wenn du nicht den ganzen Morgen das Bad blockiert hättest, wäre ich auch schon fertig.“
Ron hob seine Schultern.
„Also schrei hier nicht rum, sondern pack schon mal die Sachen ein“, fuhr Jim fort und verschwand wieder hinter der Tür, um sie in der nächsten Sekunde noch einmal aufzureißen: „Und schmeiß deine stinkenden Socken nicht wieder zwischen meine frischen Hemden!“
Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür ins Schloss. Ron hörte, wie das Wasser aufgedreht wurde. Er kramte die verstreuten Kleidungsstücke auf seinem Bett zusammen und warf sie in eine Sporttasche.
Eine halbe Stunde später verließen die Jäger das heruntergekommene Motel. Als Jim die Beifahrertür des nachtschwarzen 1967ziger Ford Mustang öffnete, fragte er beiläufig: „Wo soll es eigentlich hingehen, Ron?“
„Zum nächsten Diner der unseren Weg kreuzt – ich habe einen Bärenhunger“, antwortete der ältere Bruder. Er hatte die Stirn in Falten gezogen, denn die Sonne blendete ihn.
Jim zog wortlos seinen Kopf ein und schwang sich in den verstaubten Wagen. Nachdem sich die Türen fast synchron geschlossen hatten, wippte der Ford Mustang einige Male und verlies mit quietschenden Reifen den kleinen Parkstreifen des Motels.
*** *** ***
Lustlos schleppte sich Jack, sein Gesicht hinter einer Sonnenbrille versteckt, vom nahe gelegen Parkplatz zum kleinen Drive-In Restaurant. Er hatte es über das Wochenende kaum geschafft, sein Auto zu holen. Den Rest der Zeit hatte er komplett verschlafen. Zu jedem Schritt musste er sich überwinden und wurde das Gefühl nicht los, unter dem Gewicht seines eigenen Körpers zu ersticken.
„He Jacky – wo warst du gestern? Du hattest doch Dienst!“ Lillys fröhliche Stimme stach in seinen Ohren.
„Ich war krank“, murmelte Jack. „Wo warst du denn am Freitag? Wir hatten uns doch verabredet?“ Eigentlich interessierte ihn die Antwort der jungen Frau nicht. Er war viel zu müde, um sich aufzuregen.
„Tut mir leid“, schuldbewusst suchte Lilly nach einer Antwort und neigte den Blick. Als sich Jack an ihr vorbei schob um in die Küche zu gelangen, nahm Lilly ihm unerwartet die Sonnenbrille vom Gesicht. „Oh Mann – du siehst wirklich schrecklich aus“, flüsterte sie.
„Ich muss mir was eingefangen haben“, erwiderte Jack und riss ihr die Brille aus der Hand. Das helle Neonlicht tat seinen Augen weh. „Lässt du mich jetzt durch?“
Bereitwillig machte Lilly den Weg frei. Als Jack in der Küche verschwunden war, ging sie zielstrebig zum Tisch, an dem soeben Gäste Platz genommen hatten. „Was darf es denn sein?“, Lillys fröhliche Art zauberte ein Lächeln auf das Gesicht des Mannes in der braunen Lederjacke.
„Ich hätte gern einen Cheeseburger und einmal Rührei mit Schinken.“ Verzückt musterte Ron die junge Kellnerin. Sie strich sich eine goldblonde Strähne aus ihrer Stirn. Als ein Lächeln um ihre Lippen zuckte, schienen blasse Sommersprossen auf ihrer Nase zu hüpfen. Das Räuspern von der gegenüberliegenden Seite des Tisches riss sie aus ihren Gedanken.
„Entschuldigung?“
Lilly wandte sich an Jim, der nun seine Hand vom Mund nahm, sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen konnte. „Ich hätte gern Eierkuchen mit Ahornsirup und einen Kaffee Latte – Bitte!“
„Zwei Kaffee Latte – Bitte“, wiederholte Ron im charmantesten Ton den er treffen konnte. Lilly nickte und eilte zum Tresen zurück. Dabei wurde sie von Rons begeisterten Blicken verfolgt.
„Ron“, flötete Jim mit erhobenen Brauen, „du trinkst doch gar keinen Kaffee Latte!“
*** *** ***
Die Gerüche und Geräusche der Küche trieben Jack in den Wahnsinn. Er stand am Barbecue-Grill und betrachtete angewidert die brutzelnden Hackfleischscheiben. Das spärliche Frühstück, das er heute Morgen zu sich genommen hatte, drängte plötzlich aus ihm heraus. Mit der Linken winkte er den Küchenjungen zu sich und bat ihn, einen Moment auf seine Hamburger aufzupassen. Jeremy wischte sich die Hände am Vorbinder trocken. Erfreut über die willkommene Abwechslung nahm er den Platz am Grill ein, während Jack Connor eilig die Küche verließ.
Schon nach einigen Minuten kam er zurück.
Argwöhnisch betrachtete Jeremy den leichenblassen Mann.
Ein stechender Schmerz fuhr unerwartet durch Jacks Lunge. Er schmeckte salzigen Schaum und hatte das Gefühl, sein Brustkorb würde sich zu einem engen Schlauch zusammenziehen. Mit einem gurgelnden Schrei rang er nach Luft und versuchte sich abzustützen. Zischend verbrannten seine Handflächen auf den glühenden Gitterrosten des Grills.
Der laute Schrei hatte Ron und Jim von ihren Sitzen hochgerissen. Im gleichen Moment wurde die Pendeltür aufgestoßen. Mit weit aufgerissenen Augen taumelte Jeremy aus der Küche. Fassungslos klammerte er sich mit einer Hand an den Tresen und versuchte mit der anderen wild gestikulierend, Lilly etwas zu mitzuteilen. Aber Furcht und Entsetzten ließen keinen einzigen verständlichen Laut über seine Lippen kommen. Schließlich rannte er zum Ausgang, geriet ins Stolpern und taumelte mit rudernden Armen direkt auf Jim zu, der ihn in letzter Sekunde auffangen konnte. Die Wucht des Aufpralls riss den jüngeren Barker fast um. Mit irrem Blick sah ihn Jeremy an, befreite sich aus seinem Griff und entfloh durch die Tür. Überrascht blickten ihm die Brüder nach.
Lilly trat an die große Pendeltür zur Küche.
„Jack?“, rief sie nach dem Koch. „He, Jacky, ist alles in Ordnung?“ Nur widerwillig drückte sie die Tür auf und warf einen Blick in den weiß gefliesten Raum. Ihr Verstand weigerte sich augenblicklich, die Bilder vor ihren Augen zu akzeptieren. Lautlos glitt ihr der Becher aus der Hand. Die Welt verschwamm und ohnmächtig folgte ihr Körper mit einem dumpfen Schlag dem Plastikbecher, der bereits auf dem Boden kreiste. Eiswürfel klirrten über Fliesen und ein beißender Geruch wehte den Jägern aus der Küche entgegen. Doch es dauerte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde und das jahrelange, harte Training, sowie der angeborene Instinkt eines Jägers übernahmen die Kontrolle über das Handeln der Barkerbrüder. Nur ein kurzer Blick war nötig, um sich zu verständigen.
Während Jim um die Theke eilte, entschied sich Ron für den direkten Weg. Mit einem Satz schwang er sich, geschmeidig wie eine Raubkatze, über den Tresen und landete auf der anderen Seite sicher auf den Beinen.
Jim ergriff ein herumliegendes Küchenmesser und positionierte sich neben der immer noch schwingenden Tür. Der plötzliche Adrenalin-Schub stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Lunge trieb den Brustkorb sichtbar auf und ab. Sein Herz pumpte auf Hochtouren, um seinen Körper, der sich auf einen Kampf vorbereitete, mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Das Messer in der Hand sah er zu Ron hinunter. Dieser hatte sich über Lilly gebeugt, um sich zu vergewissern, dass sie unverletzt war. Durch ein Nicken signalisierte ihm Ron, dass die Frau zwar bewusstlos, aber sonst in Ordnung war.
Wieder übernahm Ron das Kommando. Mit einem explosiven Tritt bahnte er sich einen Weg durch die Tür, um die Küche zu stürmen. Unter der Wucht rissen die Scharniere aus den Angeln und beide Türhälften stürzten zu Boden.
Beißender Qualm machte jeden Atemzug zur Tortur. Die Arme schützend vor ihre Gesichter gelegt, setzten die Jäger vorsichtig erste Schritte in den Raum. Dichte Rauchschwaden verwehrten ihnen die Sicht.
Ron eilte mit wenigen Schritten zu einem kleinen Fenster. Mit dem rechten Ellenbogen schlug er die Scheibe ein. Schon nach wenigen Minuten wurde die Luft erträglicher und die Sicht klar. Rons Blick wanderte über Regale, übereinander gestapelte Töpfe, Pfannen und Plastikdosen. Schließlich richteten sich seine Augen auf den Grill. Ein kurzes Stöhnen entwich seinen Lippen. Angeekelt wandte er sich ab.
„Was ist Ron? – Bist du okay?“ Jim konnte das Szenario nicht sehen.
„Wie Schrecklich …!“ Diese mühsam hervorgepressten Worte veranlassten Jim sich zu drehen. Ein kurzer Blick über seine Schulter – und auch Jim schob bestürzt den Handrücken vor seine Lippen. Er schloss die Augen und schnaufte leise.
Ein verdorrter Körper lag auf dem Grill. Die rechte Gesichtshälfte brutzelte auf den kleinen blauen Flammen und verursachte einen beißenden, nach angebranntem Fleisch stinkenden Qualm. Die Beine des Toten waren weggeknickt. Verkrampft umschlossen seine Hände die Gitterstäbe des Rostes. Feuer hatte bereits das Fleisch abgesengt und legte blanke Knochen frei. Die ehemals weiße Jacke war verrußt und teilweise verbrannt. An mehreren Stellen entblößte sie einen bräunlich verfärbten Körper, der mit violetten Flecken übersät war.
„Himmel …“, flüsterte Jim. Er wagte einen zaghaften Schritt in Richtung des Tatortes. Immer wieder musste er würgen.
„Hast du so was schon mal gesehen?“, wollte Ron wissen.
Jim schüttelte den Kopf. „Vielleicht ein Arbeitsunfall“, keuchte er hinter vorgehaltener Hand.
„Sieht nicht danach aus“, stellte Ron fest. Er trat ebenfalls einen Schritt näher und betrachtete den Toten. Rons Brauen hoben sich. „Kann ein Körper so schnell verbrennen, dass er nach wenigen Minuten wie ein Stück Dörrfleisch aussieht?“, fragte er zweifelnd.
Jim stieß mit dem Messer gegen die Leiche. Lautlos, wie eine Feder glitt sie zu Boden. „Als wäre er schon Jahre tot.“ Er sah Ron erstaunt an. Dieser hob ratlos seine Schultern.
Nach wenigen Sekunden entspannten sich die Gesichter der Jäger, denn die Erfahrung lehrte sie, dass sie zu spät kamen. Wer oder was auch hier gewütet hatte, es war weg.
„Wir können hier nichts mehr tun. Lass uns wenigstens dem Mädchen helfen“, sagte Ron und warf einen besorgten Blick auf Lilly, die immer noch bewusstlos am Boden lag. Er ging zu ihr zurück, sank auf seine Knie und hob vorsichtig ihren Kopf an. Lillys Gesicht war völlig entspannt. Behutsam strich er die widerspenstige Haarsträhne aus ihrer Stirn. Ich kenn nicht mal deinen Namen, dachte er und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Vorsichtig, als hätte er Angst, das Mädchen zu zerbrechen, nahm er sie in die Arme.
„Was hast du denn vor?“, wollte Jim wissen. Neugierig beobachtete er seinen Bruder.
„Ich werde sie auf die Bank legen“, antwortete Ron und war mit einem Ruck auf den Beinen. „Auf dem Steinboden holt sie sich noch den Tod!“
Jim nickte verwirrt. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Notrufes.
*** *** ***
Jeremy rannte wie ein gehetztes Tier. Die Menschen auf der Straße sausten als Schatten an ihm vorbei. Einige von ihnen hatte er während seiner panischen Flucht angerempelt. Aber der Küchenjunge nahm dies nicht wahr. Sämtliches Leben in den Straßen wurde zu einen Gemisch aus pulsierenden Klecksen und unwirklichen Lauten. Jeremy konnte nicht schnell genug laufen, um den schrecklichen Bildern in seinem Kopf zu entkommen. Irgendwann sackte er in einer unbelebten Gasse zusammen. Sein Herz raste und stechende Schmerzen in der Brust quälten ihn. Sein Hals brannte von der staubigen Stadtluft. Mit aufgerissen Augen strich er sich verzweifelt durch die Haare, um diese Angst zu vertreiben. Das Rufen erdrückte seinen Verstand. Mit einem gequälten Schrei versuchte sich sein Körper zu befreien, bevor der junge Mann, apathisch hin und her pendelnd, den Zugang zur Realität verlor.
*** *** ***
Angezogen durch die blitzenden Lichter des Krankenwagens und einem massiven Polizeiaufgebot hatten sich zahlreiche Schaulustige hinter dem gelben Signalband um das Drive-In Restaurant eingefunden.
Die Barkerbrüder standen abseits des Treibens und beantworteten Fragen: „Nein – leider haben wir nicht gesehen, wie es passiert ist“, berichtete Jim. Seine Stirn zog sich in Falten als er den Polizisten ansah. „Wir haben nur den Schrei gehört und dann kam dieser Junge aus der Küche gestürmt“, fügte er hinzu.
„Welcher Junge?“, fragte der Beamte interessiert.
„Wir kennen ihn nicht. Aber er war sehr jung und zierlich“, übernahm Ron das Gespräch. „Er kam aus der Küche und hat meinen kleinen Bruder fast über den Haufen gerannt.“ Die Ironie in seinen Worten war unüberhörbar. Ron sah spöttisch zu Jim hinauf. Dieser biss sich auf die Unterlippe und seufzte leise.
Der Polizist konnte sich angesichts von Jims Größe ein Lächeln ebenfalls nicht verkneifen. „Nun meine Herren, bitte bleiben Sie in der Stadt und wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich an.“ Er schob Ron seine Visitenkarte zu, bevor er zum Tatort ging.
„Machen wir“, rief der Ältere und musterte das Kärtchen in seiner Hand: „Inspektor Miller.“
Kaum hatte sich der Beamte entfernt, verpasste Ron seinem Bruder einen Seitenhieb. „Bist ein bisschen aus der Form was?“, kicherte er und sah zu Boden.
„Alter“, Jim holte tief Luft. Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen. „Der Typ war schwerer als er aussah und als er stolperte, hat er nochmal ordentlich einen Zahn zugelegt!“ Vorwurfsvoll hoben sich seine schmalen Augenbrauen.
Sanitäter kreuzten ihren Weg. Sie brachten Lilly auf einer Trage zum Krankenwagen. Ihr Gesicht schimmerte blass in der Sonne.
Ron trat einen Schritt näher „Wie geht es ihr?“, fragte er.
„Sie steht leicht unter Schock, ist aber in Ordnung. Wir werden sie eine Nacht zur Beobachtung in der Klinik behalten.“
Ron nickte. Er beugte sich etwas hinunter zu Lilly: „Ist wirklich alles okay?“ Sie lächelte und Ron konnte auf ihren Lippen das Wort Danke ablesen. Als Lilly in den Wagen gehoben wurde, hob er seine Hand und winkte zum Abschied.
Jim blieb im Hintergrund, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, beobachtete er seinen älteren Bruder. Ein verklärtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie heißt übrigens Lilly“, rief er Ron zu.
„Ich glaube wir sollten das checken – könnte was sein“, murmelte Ron als er auf seinen Bruder zuging.
Jims schmale Finger fuhren durch die langen Haare auf seiner Stirn. „Wenn es dir hier wirklich um den Fall geht.“
Die Jäger schritten auf ihren Wagen zu. Am Ford Mustang angelangt, konnte Ron die bohrenden Blicke seines Bruders nicht mehr ertragen.
„Was ist?“ Er schlug mit den Händen auf das Wagendach.
„Das frage ich dich!“ Jim hatte ebenfalls die Hände auf das Dach gelegt und musterte Ron. Als er keine Antwort erhielt, griff er nach der Klinke und setzte sich in das Auto. Nachdem sich die Türen des Ford Mustang geschlossen hatten, konnte Jim einfach nicht mehr schweigen. „Du magst sie“, platzte es aus ihm heraus. Sein Rücken presste sich gegen den Ledersitz während er Ron herausfordernd ansah.
Dieser kramte im Handschuhfach nach einer Kassette und murmelte vor sich hin. Er spürte, wie eine leichte Hitze in ihm aufstieg. „Wen?“, fragte er knapp.
„Lilly …! – Komm schon Ron. Ich habe doch bemerkt, wie du sie angesehen hast.“ Jims Augen blitzten.
Ron suchte nach Worten. Hüstelnd schob er die Kassette in den Schlitz des Radios und drehte den Zündschlüssel. Im Auto dröhnte AC/DC, als er den Rückwärtsgang einlegte, das Lenkrad scharf einschlug und das Gaspedal durchtrat. „Ich kann dich leider nicht verstehen, Jimmy die Musik ist zu laut“, schrie er seinem Bruder zu. Mit quietschenden Reifen schoss der Ford Mustang aus der Parklücke, blies ein paar blaugraue Wölkchen in die Luft und bog in die nächstgelegene Straße ein.
*** *** ***
Die Luft im Zimmer war stickig heiß. Obwohl die Klimaanlage seit Stunden laut schepperte, gelang es ihr nicht, die Temperatur auf erträgliche Werte zu senken. Einige zerschlissene Vorhänge ließen kaum Licht in den Raum und die vergilbte Blumentapete kräuselte sich von den Wänden. Sie hinterließ kahle Stellen. Man hatte versucht, diese mit zusammen gewürfelten Möbelstücken zu kaschieren.
Jim saß in leicht gekrümmter Haltung an einem Tisch. Seine Finger flogen über die Tastatur seines Laptops und erzeugten ein leises Klicken. Es war das einzige Geräusch neben dem nervenden Klappern der Klimaanlage. Hitze hatte sein Shirt zu einer feuchten Kompresse werden lassen. Die Konturen seiner Muskeln zeichneten sich unter dem blaugrauen Stoff deutlich ab. Jim kniff die Augen zusammen und legte den Kopf in seine Hände. Das unbequeme Sitzen hatte seine Rückenmuskulatur verkrampft.
Als er sich wieder aufrichtete, strich er sich braune Haarsträhnen aus der Stirn. Die widerspenstigen Fransen weigerten sich allerdings gegen jeden Versuch, gebändigt zu werden und fielen augenblicklich in ihr geordnetes Chaos zurück.
Entmutigt und müde schlug Jim das Cover des Laptops zu. Er hatte jedes Archiv durchforstet, war jedem noch so vagen Hinweis nachgegangen. Alles ohne Erfolg. Es gab Nichts, das mit dem, was sie heute Morgen erlebt hatten, vergleichbar war. Kein einziger, ähnlich verwirrender Arbeitsunfall hatte sich bisher in dieser Stadt ereignet. Ein Anruf bei Bill hatte auch nichts gebracht, außer der freudigen Gewissheit, dass es ihrem alten Freund gut ging. Jim hoffte darauf, er würde bei seinen Recherchen vielleicht etwas herausfinden und erhob sich. Seine Silhouette zeichnete sich im schwachen Licht der Fenster ab. Gegen die kleinen Möbel wirkte Jim wie ein Riese. Ein kühles Bier wäre jetzt eine gute Idee, dachte er und ging zum Kühlschrank. Nachdem er eine Pappschachtel mit seltsam anmutendem Inhalt beiseitegeschoben hatte, griff er nach einer der Flaschen im ansonsten leeren Eisschrank.
Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen und wurde von der Kuhle die sich in der Matratze bildete, aus seiner Balance gerissen. Mit rudernden Armen fing er sein Gewicht wieder auf und öffnete kopfschüttelnd die Flasche. Der Schluck tat ihm gut, vermochte aber nicht das Pochen hinter seinen Augen zu mildern. Vielleicht hatte ja Ron mehr Erfolg, überlegte er und stellte die Flasche neben den durchgetretenen Bettläufer.
Ein stechender Schmerz zwang Jim augenblicklich mit beiden Händen seinen Kopf zu stützen. Stöhnend beugte er sich nach vorn, verzweifelt bemüht, eine Körperhaltung zu finden, die diese Schmerzen lindern würde. Das Stechen blieb jedoch und schwoll periodisch zu kaum noch erträglicher Intensität an. Flammen schienen ihm die Augen aus den Höhlen zu brennen. Völlig unkontrolliert glitt Jim vom Bettrand zu Boden. Als er mit der Stirn aufschlug, erschienen Bilder in seinem Kopf. Sie wurden abwechselnd zerrissen von Dunkelheit und grellen Lichtern. Klagende Laute erfüllten seine Ohren und Angst griff nach seinem wild pochenden Herzen. Mit zusammengepressten Lippen versuchte Jim aufzustehen. Als er mit einem dumpfen Schlag auf dem Rücken landete, irrten seine Augen weit geöffnet durch das Zimmer. Doch die Bilder die Jim sah, kamen nicht aus diesem Raum.
Leise klickte das Schloss nachdem Ron den Schlüssel drehte und sich in das Zimmer schob.
„He Jim – es gibt Neuigkeiten“, rief er. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er den Autoschlüssel auf eine kleine Kommode neben der Tür und sah sich suchend um. „Jim? – wo steckst du?“ Rasch stellte er auch die Papiertüte mit dem soeben eingekauften Fastfood ab. Ron konnte Jim nirgends sehen, vernahm aber unvermittelt sein leises Stöhnen. Mit eiligen Schritten hatte er das Bett umrundet. „Gott, was ist denn passiert?“ Sofort packte er Jim am Ausschnitt seines Shirts und zog ihn zu sich heran. Noch halb benommen schwankte Jims Kopf hin und her. Er hatte die Augen geschlossen und seine Finger krallten sich in Rons Lederjacke.
Suchend wanderten Rons Blicke über den Körper seines Bruders. Als er keine Verletzungen erkennen konnte, schüttelte er ihn kräftig. „Jim – he Kleiner! … Komm zu dir!“
Jims Verstand schien klarer zu werden. „Ron?“, fragte er mit schmerzverzerrter Stimme.
Ein Lächeln huschte über Rons Gesicht: „He Jimmy – ja ich bin’s.“ Er schnippte mit seinen Fingern vor Jims Gesicht herum. „Bist du okay?“, wollte er wissen und rüttelte ihn.
„Hör auf mich so zu schütteln“, knurrte Jim. „Mir platzt gleich der Kopf.“
„Komm Kleiner – steh auf.“ Mit einem beherzten Ruck zerrte Ron seinen Bruder in die Höhe. Immer noch zittrig folgte Jim den Bemühungen. Als er schließlich erschöpft auf dem Bett Platz gefunden hatte, rieb er sich die Schleier aus den Augen.
„Meine Güte“, raunte Ron. „Kann man dich denn nicht mal ein paar Stunden allein lassen?“ Er sah besorgt in die Augen seines Bruders. „Hattest du wieder eine dieser … Visionen?“
Jim nickte und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Das Pochen hinter seinen Schläfen wurde allmählich schwächer.
„Was hast du gesehen?“, bohrte Ron nach. Er hatte sich neben Jim aufs Bett gesetzt.
„Keine Ahnung“, keuchte Jim immer noch atemlos. „Einen Mann – er kniete vor einem leblosen Körper.“
„Kanntest du ihn?“, fragte Ron. Er hatte die Hände in seinem Schoß verschränkt. Seine Daumen kreisten ungeduldig.
„Ich weiß nicht“, presste Jim hervor. „Es war irgendwie anders! Anders als sonst.“ Sein Gesicht verbarg er immer noch in den Händen, die jetzt zudrückten, als versuchte er die letzten Erinnerungen aus seinem Gedächtnis zu quetschen. „Er hat schrecklich gelitten“, flüsterte er.
Ron sah ihn erstaunt an. „Gelitten? – War er verletzt?“
Jim schüttelte seinen Kopf „Nein – ich glaube nicht.“
„Wie kommst du dann darauf?“ Völlig verwundert hob der Ältere die Brauen.
Langsam füllten sich Jims Augenwinkel mit Tränen: „Ich konnte seine Schmerzen fühlen. Ron – ich kannte sie!“
Verwirrt schüttelte Ron seinen Kopf. „Was soll das denn jetzt heißen?“
„Was weiß ich“, zischte Jim, wütend über sein Unvermögen, die Bilder und Empfindungen, die er durchlebt hatte, zu interpretieren. Er erhob sich und wanderte im Zimmer auf und ab. „Es hat Blüten geschneit“, hauchte er.
Rons Gesicht wurde immer erstaunter. Er war auf dem Bett sitzen geblieben und musterte Jim, der offenbar kurz davor war zu explodieren. Immer wieder raufte sich der junge Jäger die Haare und stierte an die Decke, als erhoffe er sich von dort eine Antwort. „Alter, ich habe keine Ahnung“, gestand er zähneknirschend, „ich gehe erst mal duschen – ich brauche einen klaren Verstand.“ Jim riss sich sein Shirt über den Kopf und schleuderte es in den Raum. Dann schmetterte er die Badezimmertür hinter sich zu.
„Iss was“, mit einer Hand schob Ron eine Pappschale in Jims Richtung. Mit der Anderen puhlte er genüsslich kauend in der undefinierbaren Masse der zweiten Schachtel und stopfte sich das Essen in den Mund.
Angewidert zuckte Jim vor dem farbig bedruckten Karton zurück. „Ron! … Das kann man doch nicht essen! Weißt du überhaupt was das ist?“ Er zog seine Stirn in Falten, beugte sich etwas nach vorn und beobachtete misstrauisch den bunten Inhalt, als hätte er Angst, ihm könnte daraus etwas entgegen springen. „Du hast also was herausgefunden?“, fragte er schließlich und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
„Ja, stell dir vor – ich war nochmal auf der Polizeistation.“ Während Ron sprach, drohte ihm die Mahlzeit wieder aus dem Mund zu fallen. „Inspektor Miller sagte mir, dass sie in einer Nebenstraße einen verwirrten Jungen aufgriffen haben. Seine Beschreibung passt auf unseren vermissten Küchenboy.“
Jim beobachtete angeekelt und fasziniert zugleich, wie einige Nudeln zwischen Rons Lippen lebendig zu werden schienen.
„Was starrst du mich denn so an?“, wollte Ron wissen. Jim, aus seinen Gedanken gerissen, deutet auf seine Lippen: „Du hast da was am Mund!“
Unbeeindruckt berichtete Ron weiter: „Er ist in der hiesigen Klinik. Ich denke wir sollten ihn dort morgen mal besuchen.“ Fragend sah er Jim an: „Magst du nicht?“ Sein Blick glitt bereits gierig auf die zweite Schachtel. Jim schüttelte den Kopf und sofort angelte sich Ron auch diese Portion.
„Ja das sollten wir.“ Jim sah nach oben. „Wie geht es Lilly?“, fragte er leise.
„Alles bestens, sie wird morgen entlassen“, platzte Ron heraus, noch bevor ihm überhaupt bewusst geworden war, dass Jim ihn überrumpelt hatte.
Jim lachte auf: „Du hast sie also im Krankenhaus besucht. Weißt du denn schon, wo sie wohnt?“
Geschlagen sah Ron von seinem Essen auf: „Ja – ich habe sie besucht. Und – ja ich weiß wo sie wohnt.“ Versöhnlich neigte er den Kopf. „Und bevor du mich noch weiter nervst, Jimmy – ja, ich mag sie.“
Der Jüngere holte tief Luft. Ein triumphierendes Lächeln eroberte sein Gesicht. Es war ihm schon immer leicht gefallen, seinen älteren Bruder zu überlisten.
„Mann, du bist echt fies“, bemerkte Ron zerknirscht.
Ein dumpfes Knurren im Raum ließ ihn verstummen. Erstaunt sah sich Ron um. „Was war denn das?“, flüsterte er mit erhobener Braue.
„Das war mein Magen, Alter!“, antwortete Jim und betrachtete mit einem tiefen Seufzer die leeren Pappschachteln.
„Zu spät…!“ bemerkte Ron und stieß die Packungen vom Tisch.
*** *** ***
Kaum hatten sie die große Drehtür des historisch anmutenden Krankenhauses passiert, wehte ihnen der intensive Geruch von Desinfektionsmitteln entgegen. Weiches Linoleum dämpfte ihre Schritte und ein reger Menschenstrom verriet, dass Besuchszeit war. Schwestern in raschelnden Kitteln begleiteten Patienten zum sonnenüberfluteten Park. Eine Angestellte rollte einen Serviertisch mit diversen Tellern und Tassen in eine kleine Küche.
Ron und Jim gingen ohne Umweg direkt auf den Empfang zu.
„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“, fragte die Schwester an der Rezeption, ohne den Blick von einem Formular zu heben, dass sie gerade ausfüllte.
Ron setzte ein strahlendes Lächeln auf: „Guten Tag, FBI, mein Name ist Marlowe und mein Partner hier heißt Mason. Wir ermitteln im Fall des gestern aufgefundenen verwirrten, jungen Mannes.“ Er schob einen gefälschten Ausweis mit seinem Foto über den Tresen und forderte Jim auf, es ihm gleich zu tun.
Die Schwester hob ihren Kopf und schielte über den Rand einer Brille, die über ihrer Nase zu schweben schien. „Hat er was angestellt?“, fragte sie. „Woher haben Sie überhaupt die Information, dass wir einen solchen Patienten haben?“ Sie legte ihren Kugelschreiber beiseite und stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch, um sich zu erheben.
„Nun“, entgegnete Ron, „wir sprachen gestern mit Detektiv Miller. Er hat gesagt, dass unsere gesuchte Person möglicherweise einer Ihrer Patienten ist.“
Misstrauisch beäugte die Schwester zunächst die Ausweise der Männer, bevor sie anschließend die Krawattenträger selbst in Augenschein nahm. Nachdem sie sich von der Richtigkeit ihres Beamten-Status überzeugt hatte, sank sie zurück auf den Stuhl und begann, etwas in ihren Computer zu tippen. Sekunden später antwortete sie „Station 4, Zimmer 63. Aber glauben Sie mir Detektivs, Sie werden nicht viel in Erfahrung bringen. Der arme Junge ist völlig weggetreten.“
Die Jäger bedankten sich lächelnd und schlenderten durch den langen Korridor in Richtung Fahrstuhl.
„Melden Sie sich bitte bei der Stationsschwester“, rief ihnen die Schwester noch nach.
Leises Klingeln kündigte die gewünschte Station an, als sich die Tür des Aufzuges auch schon öffnete. Hier oben war nichts mehr vom hektischen Treiben im Empfangsbereich spürbar. Jims Blick schweifte suchend über die Türschilder. Er wies mit dem Zeigefinger in die Richtung, in der Zimmer 63 zu erwarten war. Rasch schritten Ron und Jim durch den menschenleeren Korridor. Die Stille war beängstigend. Fast am Ende des Ganges entdeckten sie eine offenstehende Tür.
Ron griff unter sein Jackett. Langsam glitt der Schaft einer Beretta in seine Hand. Er betrat als erster den Raum. Sofort sah er die Krankenschwester mit ihrem Gesicht nach unten am Boden liegen. Der Medizinwagen war anscheinend umgerissen worden und verschiedene Medikamente lagen verstreut auf dem Linoleum. Einzelne Tabletten knirschten unter Rons Schuhen. Das Krankenbett im sonst unmöblierten Zimmer stand verborgen hinter einem weißen Leinenvorhang.
Jim war nur einen Augenblick später seinem Bruder gefolgt und kümmerte sich um die Schwester. Er half ihr auf die Beine, während Ron sich mit entsicherter Waffe dem Bett näherte.
Verdutzt und sprachlos blickte das Mädchen zu Jim hinauf.
„Was ist passiert? Haben Sie sich verletzt?“, fragte der unbekannte Mann und musterte sie besorgt. Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich muss gestolpert sein“, murmelte sie. Hastig versuchte sie, ihren zerzausten Zopf zu ordnen und strich sich ihre Schürze glatt. Als sie aufstehen wollte, verzog sie das Gesicht.
„Ist wirklich alles Okay?“ Jim hatte sie vorsichtshalber am Arm festgehalten, um zu verhindern, dass sie erneut ins Straucheln geriet.
„Ist okay – danke“, hauchte sie mit errötenden Wangen. „Ich habe mir wohl an der Schulter wehgetan!“
„Wie heißen Sie?“, fragte Jim mit sanfter Stimme.
„Mein Name ist Amelia.“ Sie rieb sich an der linken Schulter und drehte sich zu Ron um. „Wer sind Sie und was machen Sie beide eigentlich hier?“
Die blaugrauen Augen des jüngeren Jägers hefteten sich auf das Gesicht des Mädchens: „Amelia – mein Name ist Jim“, antwortete er ruhig. Mit einem Räuspern unterbrach ihn Ron. Er zückte erneut den gefälschten Ausweis. „Wir wollten eigentlich ein paar Worte mit ihrem Patienten reden“, sagte er und nickte in Richtung Bett. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem zugezogenen Vorhang.
Erstaunt hoben sich Amelias Augenbrauen. „Warum denn so geheimnisvoll?“, flüsterte sie.
Ron hob die Schultern – „Nur so ein Gefühl.“ Er nickte Jim kurz zu und griff langsam nach dem Saum des Vorhanges. Ein Ruck, klirrend sausten die Führungsringe über die Aluminiumstange.
Amelias Augen weiteten sich entsetzt. Ihr Schrei war kurz, denn Jim riss sie augenblicklich herum und presste ihr Gesicht gegen seine Brust. Seine Arme umschlangen sie fest um zu verhindern, dass sie den schrecklichen Anblick nochmals ertragen zu musste.
Einen Laut des Entsetzten ausstoßend, wandte sich Ron von Jeremy ab. Vorwurfsvoll schaute Jim Ron an. In seinen Armen wimmerte Amelia. Jim konnte spüren, wie ihr Körper zitterte. Sie drohte, jede Sekunde zusammenzubrechen. Mit erhobenen Brauen gab er Ron durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass es an der Zeit war, das Zimmer zu verlassen.
*** *** ***
Knarrend bewegte sich der rostige Fenstergriff und löste so die Verriegelung. Nach einem leichten Stoß sprang das Fenster auf. Ein großer Schatten huschte geschmeidig durch die Öffnung und glitt lautlos zu Boden. Ihm folgte ein zweiter …
„Autsch, Ron! Pass doch auf wo du hintrittst“, fauchte Jim und rieb sich den Fuß. Lichtkegel irrten durch den Raum.
„Kleiner, mach mal das Licht an“, flüsterte Ron.
„Klar gern, wenn du mir sagst, wo der Schalter ist“, konterte Jim.
Nach wenigen Sekunden flackerten die Leuchtstoffröhren auf und tauchten den Raum in ein kaltes Weiß. Auf dem gefliesten Boden standen gelbe Plastikbehälter unterschiedlicher Größe mit der Aufschrift Pathologie. Die Jäger orientierten sich blinzelnd. Es war kühl. In der Luft schwebte der Geruch von Thymol und Phenol.
„Auf in den Kampf!“ Ron ging entschlossen auf eine Wand mit chromglänzenden Isoliertüren zu. Beherzt zog er am Klappgriff der ersten Luke.
„Ron…!“ Jim hatte sich neben den Obduktionstisch gestellt und positionierte die große 12-äugige OP-Lampe über einen verdeckten Körper. „Vielleicht sollten wir es zuerst hier versuchen“, flötete er.
„Ah!“ Ron drehte sich spontan um. „Frauen und Kinder zuerst.“ Er sah Jim auffordernd an.
„Wieso ich?“ fragte Jim. Falten bewegten sich auf seiner Stirn.
„Weil ich heute schon gekotzt habe“, entgegnete Ron und wies mit dem Zeigefinger auf den Körper. „Los mach schon, Jimmy.“
Jim ergriff zögernd das weiße Tuch und schlug es zurück. Ein Ton des Ekels quetschte sich über seine Lippen. Er schluckte heftig. „Der sieht ja auch so aus, als wäre er längst überfällig.“
„Ja“, erwiderte Ron, aus sicherer Entfernung auf den Toten schielend. „Nur, dass dieser hier nicht auf einem Grill lag und folglich auch nicht hätte verbrennen können!“
„Was meinst du, könnte das hier verursacht haben?“ Er sah Jim fragend an.
Ratlos schob Jim seine Hände in die Hosentaschen. „Spontane Selbstverbrennung vielleicht?“
„Glaub ich nicht“, entgegnete Ron. „Dazu ist er zu gut erhalten. Da bleibt immer nur ein wenig Asche übrig.“
„Eine extrem hungrige Shtriga vielleicht?“ Jim hob seine Augenbrauen.
Die Jäger sahen ratlos auf den verdorrten Körper. Er hatte so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem Küchenjungen und wirkte wie eine Wüstenmumie. Das Fleisch schien komplett verschwunden, nur die Haut spannte noch über den Knochen. Im eingefallenen Gesicht lagen seine geschrumpelten Augen wie Rosinen in tiefen Höhlen. Der Mund war aufgerissen, als hätte er nach dem letzten Schrei nicht mehr genug Zeit gehabt, ihn zu schließen.
„Was ist denn das?“ Ron zeigte auf kleine, violette Punkte an der Schulter des Toten. „So was hatte doch der Andere auch!“ Seine Augen erfassten Jim, der offensichtlich überlegte.
„Mh … sieht fast aus wie Fingerabdrücke“, antwortete Jim und kratzte sich am Hinterkopf. „Dreh ihn mal um“, forderte er Ron auf.
Dieser sah ungläubig zurück. „Was? – Ich fass den doch nicht an!“
„Na mach schon Ron – ich habe schließlich die Decke weggezogen.“ Jims Blick duldete keinen Widerspruch.
Schnaufend nahm sich der Ältere ein Paar Gummihandschuhe aus einem Plastikbehälter. Mit angehaltenem Atem packte er den Körper und drehte ihn vorsichtig zur Seite.
Jim hatte sich hinunter gebeugt, um den Rücken genauer betrachten zu können. Fast stieß er mit seiner Nase gegen die Leiche. Über seine Lippen kamen Laute des Erstaunens.
„Jetzt mach schon“, ächzte Ron, „der zerbröselt mir zwischen den Fingern!“
Jim richtete sich auf und nickte Ron zu. Sofort ließ der Ältere den Körper los, der sich knirschend in seine Ausgangsposition zurückbewegte.
„Na? – mein kleiner Hobbypathologe? Was hast du herausgefunden“, keuchte Ron. Er zog angewidert die Handschuhe aus.
Jim machte eine abwertende Handbewegung und erklärte: „Jeweils rechts und links auf den Schultern Hämatome, die nach Fingerabdrücken aussehen und auf dem Rücken an beiden Seiten der Wirbelsäule zwei Eintrittswunden. Sieht aber nicht nach Einschusslöchern aus.“
Ron hob beeindruckt eine Braue. „Nicht schlecht, Herr Oberstudienrat!“ Er sah zurück auf den Toten „Was sagt uns das?“
„Wahrscheinlich gar nichts“, seufzte Jim. Er zeigte noch einmal auf den Torso: „diese Flecken deutet auf Rippenbrüche hin.“
„Hatte der erste Tote nicht auch gebrochene Rippen?“, murmelte Ron.
Jim nickte und legte seine Hand auf Rons Schulter. „Komm lass uns gehen, Alter. Ich brauche frische Luft.“
*** *** ***
Amelia nahm sich nach dem schrecklichen Vorfall in der Klinik den Rest des Tages frei. Der furchtbare Anblick hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte. Nachdem sie die Tür zu ihrer kleinen Wohnung hinter sich geschlossen hatte, fiel sie erschöpft auf die Couch. Sie war froh, den beiden Männern begegnet zu sein. Auch wenn sie nicht glauben mochte, dass sie vom FBI waren. Im Grunde genommen war es ihr egal, denn allein wäre sie mit der Situation völlig überfordert gewesen.
Müde schloss sie ihre Augen. Die Sonne flutete in den Raum, war jedoch nicht im Stande, das erdrückende Gefühl auf Amelias Brust zu vertreiben. Von Unruhe getrieben, stand sie auf und kramte im heillosen Durcheinander ihrer Handtasche. Mit einem Lächeln hielt sie schließlich Jims Visitenkarte zwischen den Fingern. Der Typ ist echt süß. Vielleicht ruf ich ihn morgen an, überlegte sie und legte die Karte neben das Telefon. Nach wenigen Minuten nickte sie ein.
Als Amelia wieder aufwachte war es bereits abends. Sie hatte den ganzen Nachmittag verschlafen und trotzdem das Gefühl, einen Marathon hinter sich gebracht zu haben. Ihr Nacken war verspannt und hinter ihren Augen schienen Presslufthämmer zu wirken. Mit einem Seufzer erhob sie sich, um in der Küche einen Tee aufzugießen. Während der Wasserkessel leise vor sich hin summte, ging sie ins Schlafzimmer. Im Spiegel erkannte sie sich kaum wieder. „Gott Amelia, du siehst heute wieder aus wie 30“, dachte sie erschrocken und öffnete seufzend die Schwesterntracht. Diese glitt raschelnd über ihre Hüften zu Boden. Amelia entnahm ihrem Kleiderschrank ein knielanges Shirt und schlüpfte hinein. Barfuß schlich sie über das kühle Parkett zum inzwischen kreischenden Wasserkessel in die Küche zurück. Amelia fühlte sich beobachtet, als sie ihren Tee aufbrühte. Ein unheimliches Gefühl hatte sie beschlichen. Verängstigt ging sie zur Wohnzimmertür und blickte in einen Raum, der sich im Nebel aufzulösen schien.
Das Schlimmste aber war eine Stimme, die beständig in ihr Ohr flüsterte: „Amelia – nimm mich mit …“
Viel zu selten durfte er entspannen und seiner Seele den Wunsch erfüllen, längst aufgegebenen Träumen nachzuhängen. Ausgerechnet jetzt ertönte dieses Summen – das lästige Geräusch eines auf dem Nachttisch vibrierenden Handys! Nur widerwillig befreite sich sein Bewusstsein aus der Umarmung des Schlafes und weckte Erinnerungen an die reale Welt. Eine Welt, die für die meisten Menschen unvorstellbar war. Und immer wieder zischte dieses Handy, das von alldem unbeeindruckt darauf bestand, angehört zu werden.
Brummend suchte Jim nach dem Schalter der Lampe oder dem Handy. Dieses schien sich einen Spaß daraus zu machen, immer wieder seinen Fingern zu entgleiten. Er richtete sich auf und bekam das widerspenstige Gerät endlich zu fassen. Ein kurzer Blick auf die Nummer der Anzeige sagte ihm nichts. Das Handy am Ohr ließ er sich wieder auf den Rücken fallen. „Hallo, wer ist da?“ Jims Augen weiten sich schlagartig. Der heftige Adrenalinstoß, der durch seine Venen peitschte, spannte seine Muskeln an und ließ seinen Körper blitzschnell in die Höhe schnellen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und pumpte Blut bis in die letzten Winkel. „Bleib wo du bist – bleib ruhig, wir sind gleich bei dir!“ Jims Lungen schienen mehr Luft zu benötigen, als sie aufnehmen konnten. Unter heftigen Atemzügen weitete sich sein Brustkorb bis zum Zerbersten. „Ron“, unterbrach Jim das leise, gleichmäßige Atmen seines Bruders. „Ron – steh auf … wir müssen los!“ Er war aus dem Bett gesprungen und rüttelte ihn unsanft.
„Was ist denn? Wie spät ist es?“ Rons zerzauster Kopf tauchte unter der Bettdecke auf. Murrend öffnete er die Augen und blinzelte Jim an. Dieser ließ nicht locker, was bedeutete, dass sein Anliegen keinen Aufschub duldete. Noch immer weich in den Knien rieb sich Ron den Schlaf aus den Augen, richtete sich auf und sah Jim fragend an. „Was ist denn passiert?“
„Es ist Amelia“, keuchte Jim, „sie ist in Gefahr!“
Der Satz wirkte auf Ron wie eine kalte Dusche. „Wo ist sie?“ Noch während der Frage sprang er aus dem Bett.
„Sie ist Zuhause. Sie sagt sie werde bedrängt“, antwortete Jim. Nachdem er hastig in seine Jeans gestiegen war, suchte er in der Reisetasche nach einem Hemd.
„Bedrängt? Was meint sie damit?“ Ron sah Jim verwirrt an. Er zog sich ein Shirt über den Kopf und schlüpfte, auf einem Bein hüpfend, ebenfalls in seine Jeans.
„Ich weiß nicht – aber es klang ernst – sehr ernst!“ Jim schloss die Knöpfe seines Hemdes und fuhr sich mit den Fingern durch seine ungeordneten Haare.
Als Ron seine Lederjacke ergriff fragte er: „Was nehmen wir für Waffen mit?“
Jim hastete an Ron vorbei zur Tür. „Alle“, antwortete er.
„Geht das nicht schneller?“ Jims Finger trommelten wild auf seinen Oberschenkeln. Er starrte immer wieder auf die Uhr und hatte das Gefühl die Zeit würde rückwärts laufen.
„Tut mir leid Jim, aber das hier ist kein Rettungswagen. Ich muss mich wenigstens etwas an die Verkehrsregeln halten“, erwiderte Ron, den Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet. Krampfhaft hielt er das Lenkrad fest, während er das Gaspedal des Ford Mustang bis zum Anschlag durchtrat. Der schwarze Wagen bewegte sich grollend durch die nächtlichen Straßen. Infolge des Fahrtempos erschienen die leuchtenden Reklameschilder an den Geschäften wie lange, sich ineinander verschlingende Fäden eines vorbeirauschenden Regen-bogens.
„Rechts, rechts … rechts!“, schrie Jim mit hoher Stimme und zeigte zum Straßenrand. Ron riss das Lenkrad hart herum. Der Wagen hüpfte noch einmal über die Bordsteinkante, um dann ruckartig zum Stehen zu kommen. Schon öffneten sich seine Türen. Während Ron die Waffentasche mit allen erdenklichen Hilfsmitteln aus dem Kofferraum bestückte, eilte Jim ohne zu Zögern auf die weiße Eingangstür des Backsteinreihenhauses zu. Eines der unteren Fenster war noch erleuchtet.
Jim lehnte mit dem Rücken an der Wand und lauschte. Seine Hand lag an der, unter seiner Jacke verborgenen, abgesägten Schrotflinte. Als Ron neben ihm auftauchte, nickte ihm Jim zu und griff nach der Klinke. Geräuschlos öffnete sich die Tür. Sie gab die Sicht auf einen kleinen Korridor frei. Aus einem Zimmer fiel Licht auf den Boden.
„Amelia“, flüsterte Jim, als er vorsichtig eintrat. „Amelia – wo stecken Sie?“ Auf das Äußerste gespannt, musterte er den Raum und erschrak, als plötzlich ein Summen hinter ihm ertönte. Ron hatte den EMF-Scanner eingeschaltet, nachdem auch er den Korridor betreten hatte. Rote Lichtfäden zerteilten die Dunkelheit. Aufmerksam folgten Rons Blicke den Laser-Streifen. „Nichts…“, stellte er kopfschüttelnd fest.
Langsam schlichen die Jäger voran und vernahmen plötzlich einen gequälten Laut. Er kam aus dem beleuchteten Zimmer.
„Nein, nein, nein! …“, schrie Jim. Als er Amelia erblickte, schien ihm die Luft wegzubleiben. Ein Gefühl aus Angst, Wut und Hilflosigkeit machte sich in seinem Körper breit. „Wir sind zu spät!“
Amelia lag zusammengekrümmt am Boden. Die Beine hatte sie angezogen, ihre Hände waren schützend um ihren Kopf geschlungen, ihr Atem rasselte.
Sofort war Jim bei ihr. Er kniete am Boden und hob behutsam ihren Kopf an. „Was ist passiert?“, fragte er mit leiser Stimme.
„Es …. bringt …. mich ….um“, röchelte Amelia. Ihre Lungen füllten sich allmählich mit Blut.
„Was?“, Jims Stimme wurde lauter. Er hatte Mühe, das hübsche Mädchen wieder zu erkennen. Amelias Gesicht war eingefallen, die Augen glanzlos, die Haut grau und kalt. Sie schien um Jahre gealtert zu sein. Mit einem Blick, der fähig war zu töten, schickte Jim Ron los das Haus zu durchsuchen. Dieser kramte eine abgesägte Schrotflinte aus der Tasche und verschwand wortlos aus der Tür.
Ratlos irrten Jims Blicke durch das Wohnzimmer. Er konnte weder etwas sehen noch hören. Wieder sah er auf Amelia und drückte sie an sich. Mit den Armen umschlang er das Mädchen, in dem verzweifelten Versuch sie vor etwas zu schützen, das er selbst nicht wahrnehmen konnte. Er spürte ihren fliegenden Atem an seiner Schulter und ihre gequälten Laute schlugen wie Hiebe auf ihn ein.
Außer Atem erschien Ron wieder im Zimmer. „Es ist niemand hier“, keuchte er. „Ich habe alles überprüft, Jim!“ Er hob die Schultern. „Hier sind nur wir.“
„Das kann nicht sein“, donnerte Jim los. „Irgendetwas tötet sie gerade!“ Tränen überfluteten seine Augen. „Wir müssen etwas tun, Ron!“ Mit erstarrtem Gesicht sah Ron auf Jim, der auf den Knien liegend das Mädchen hielt – fest entschlossen, sie um keinen Preis der Welt zu opfern. Bitte, Bitte – Ron schloss die Augen – nicht schon wieder. Jims Hilflosigkeit ließ ihn verzweifeln, lähmte ihn. Langsam ging er tiefer in den Raum und beobachtete bei jedem Schritt die Umgebung. Was meint sie nur? Plötzlich schreckte ein Piepsen die Jäger auf. Sofort warf sich Ron auf den Boden und wühlte im Inhalt ihrer Waffentasche, bis er den EMF-Scanner in der Hand hielt. Die Anzeige schlug leicht aus. Mit ausgestrecktem Arm folgte Ron der Spur durch das Zimmer. Sorgfältig ließ er das Gerät an den Fenstern, Möbeln und Wänden entlang gleiten. Der winzige Schimmer Hoffnung in Jims Augen erlosch, als Ron den EMF in seine Richtung drehte und ihn entsetzt ansah.
„Was ist?“ flüsterte Jim.
Ron schüttelte den Kopf. Er traute seinen Sinnen nicht mehr. „Der Geist … ist … sie …!“, brachte er erschüttert hervor.
„Das kann nicht sein“, keuchte Jim auf. Kritisch fixierte er seinen Bruder. Nach kurzem Zögern ließ er Amelia langsam aus seinen Armen gleiten und sah in ihr Gesicht. Ron hatte sich ebenfalls in die Hocke begeben und schaute auf das Mädchen. Als er mit dem Messgerät über ihren Körper fuhr, verstärkte sich der Ton zur eindringlichen Warnung. Amelias Brustkorb begann sich hektisch zu heben und zu senken. Jim spürte die Vibrationen ihres Körpers. Sie veränderte sich. Immer schneller wurde sie von etwas Unsichtbaren verzehrt, bis die Knochen blass unter ihrer Haut schimmerten. Flehend nagelten sich ihre Blicke auf Jims Gesicht, als sie mit letzter Kraft hauchte: „Amelia … nimm … mich …mit!“
Jim nagte an seiner Lippe. Seine Tränen tropften auf ihr Gesicht, bis er seinen Kopf in den Nacken riss und schrie: „Wer … bist … du?“
Stöhnend bäumte sich Amelia in seinen Armen auf. Ihr Wimmern verstummte abrupt und ihr Kopf sank zur Seite. Ein Faden blutiger Speichel tropfte über ihre Lippen.
Unfähig, den eigenen Körper zu beherrschen, ließ Jim seine Arme sinken und das Mädchen glitt, leicht wie eine Feder gänzlich zu Boden.
Jims eisiger Blick traf Ron. Dieser hatte sich abwendet und kämpfte seinerseits mit vorgehaltener Hand gegen das Entsetzen, das sich aus seinem Magen wühlte.
Schweigend knieten die Brüder nebeneinander und sahen auf einen leblosen Körper, der ihnen spottend verdeutlichte, wie aussichtslos ihr Bemühen gewesen war. Jim hatte den Kopf gesenkt. Er fühlte sich leer und ausgebrannt wie der Rest des Mädchens, das vor ihm lag. Ihr Leben war ihm wie Sand durch die Finger geglitten und er hatte, wie zu oft, nicht verhindern können, dass ein Mensch starb. Dieser Kampf war so sinnlos. Tief im Inneren fühlte er sich genau so tot wie Amelia. Erst nach einigen Minuten bemerkte Jim die Kälte in seinem Nacken. Das Rauschen in den Ohren kam nicht vom Schmerz, den sein Gewissen eben ertragen musste. Dieses Rauschen war ein Atmen – und es flüsterte seinen Namen: „Jim … nimm … mich … mit!“ Er spürte die schwere Kälte langsam seinen linken Arm entlang gleiten. Jim konzentrierte sich. Er hielt den Atem an, zwang sich zur Ruhe bis sein Herz fast aufhörte zu schlagen. Den Körper aufs Äußerste angespannt, bewegte er nur die Augen und suchte mit der rechten Hand nach der Schrotflinte am Boden.
Als Jim die Waffe entsicherte, sah Ron überrascht herüber. Jim gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er gleich schießen würde. Erstaunt weiteten sich die Augen des Älteren. Ron inspizierte den Raum erneut und obwohl er nichts sehen oder hören konnte, war er sicher, dass Jim einen guten Grund für sein Verhalten haben musste. Es gab niemanden auf der Welt, dem er mehr vertraute.
Der lauter Knall zerriss die Stille, nachdem Jim die Waffe über seine Schulter geschwungen hatte. Ein furchterregendes Fauchen folgte – diesmal konnten es die Jäger deutlich hören. Nachdem sich der beißende Qualm verzogen hatte, sah Ron, dass einige Steinsalzkristalle Jims linke Schulter gestreift hatten. Aus mehreren Schnittwunden quoll Blut durch das zerrissene Hemd. Doch Jim spürte den Schmerz nicht. Zu sehr blockierte Adrenalin die Warnsignale seines Körpers.
Die Brüder standen längst auf ihren Beinen und lauschten. Suchende Blicke eilten durch das Zimmer, sie waren mit jeder Faser ihres Körpers zum Gegenschlag bereit. Ein unsichtbarer Stoß erwischte zuerst Jim im Kniegelenk. Mit einem kurzen Schrei stürzte er nach vorn, rollte sich über seine Schulter ab und blieb rücklings auf dem Boden liegen. Er spürte augenblicklich einen dumpfen Druck auf seinem Oberkörper. Sein Gesicht verzog sich unter der Last. „Ron! – Den Camcorder … hol den Camcorder“, keuchte Jim während er mit einem gezielten Hieb seines Ellenbogens versuchte, sich von dem zu befreien, das seine Rippen zerbersten lassen wollte. Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen und drehte sich um die eigene Achse. Seine Augen formten sich zu Schlitzen, als er die Umgebung fixierte. Einige Male gelang es ihm, den Angreifer mit gezielten Faustschlägen und geschickten Ausweichmanövern von sich fern zu halten. In Sekundenschnelle hatte er begriffen, dass ihm seine Sehkraft hier nichts nützte. Jim reagierte nur auf den Windzug, den das Geschöpf mit seiner Geschwindigkeit verursachte.
Verdutzt hatte Ron einen Moment lang den seltsamen Kampf seines Bruders beobachtet, bevor er das Gerät holte. Hektisch klappte er den Monitor auf und schaltete den Camcorder ein. Dann griff er nach der Schrotflinte. In einem sanften Blau gab das elektronische Auge die Umgebung wieder. Mit einem kurzen Schrei stürzte Jim erneut zu Boden. Er hatte das Gefühl, den Hieb einer Eisenstange in seine linke Kniekehle bekommen zu haben. Am Boden liegend hielt er sich ächzend das Bein.
Durch die Kamera sah Ron einen Schatten über Jim erscheinen. Ohne zu Zögern drückte er ab und durch die Luft pfeifende Salzkristalle zerrissen das Gebilde. Einen Augenblick später erhielt er selbst einen Tritt gegen seine rechte Seite. Er kam mit solcher Wucht dass es ihn von den Beinen riss. Hart schlug er auf und spürte, wie ihn etwas biss. Erschrocken entwich ihm ein Schrei. Ein enormes Gewicht legte sich auf seine Brust. Stöhnend schloss Ron die Augen und stemmte sich gegen den Angreifer. Aber die Last ließ sich nicht abschütteln, seiner Lunge fehlte bald der Platz zum Atmen.
Jim hatte sich mittlerweile aufgerappelt. Er zielte mit der Waffe knapp über Rons Körper. Die Salzladung fegte das erdrückende Gewicht weg. Stöhnend richtete sich Ron auf und betastete die schmerzende Stelle. Erneut hörten die Jäger das Fauchen und sie postierten sich in der Mitte des Raumes.
Dann wurde es still.
Angespannt harrten sie aus – aber alles, was sie hörten, war das helle Läuten der Glocke eines Milchwagens, der soeben vor dem Haus einparkte. Vorsichtig näherte sich Jim dem Fenster, schob die geschlossenen Vorhänge etwas auseinander und blickte auf die Straße. Am Horizont zeigten sich die ersten goldenen Strahlen der Sonne.
„Es ist weg“, keuchte Ron aus dem Hintergrund. Seine Haltung war gekrümmt. Er hatte sein Hand schützend auf die brennende Stelle gelegt. „Wir müssen hier verschwinden.“ Bittend sah er zum Jüngeren hinüber. Jim nickte. Er stand regungslos am Fenster und starrte nach draußen. „Lass uns die Spuren verwischen“, antwortete er rau.
Als der Ford Mustang vor dem kleinen Motel einparkte, pulsierte die Stadt bereits unter der Morgensonne. Erschöpft, verwundet und am Boden zerstört, verließen die Jäger den Wagen und schleppten sich zu ihrem Zimmer. Ihre Hoffnung, etwas Ruhe zu finden, erfüllte sich nicht. Es war unmöglich das Erlebte durch Zuschlagen der Tür auszusperren.
Ron ließ die Waffentasche zu Boden sinken. Nachdem er seine Jacke ausgezogen hatte, betrachtete er missbilligend einen dunkelroten, klebrigen Fleck in seinem Shirt. Als er es sich hastig über den Kopf zog, lösten sich die Stofffasern schmerzhaft vom angetrockneten Blut auf seiner Haut. Ein leises Schnaufen kam über seine Lippen während er den Biss in Augenschein nahm. „Da wird ja der weiße Hai vor Neid erblassen“, zischte Ron bitter grinsend. Aber der klägliche Versuch seines Scherzes stieß auf taube Ohren. Jim hatte am Tisch Platz genommen und stierte auf das dunkelbraune Holz. Seine Jacke hing über dem Stuhl. Blut hatte auch die Fasern seines Hemdes durchtränkt. Das Steinsalz ließ die Wunde nicht zur Ruhe kommen und fraß sich unbeirrt weiter ins Fleisch.
„Du musst das auswaschen“, flüsterte Ron. Er war an Jim heran getreten und versuchte, die zerrissenen Streifen von Jims Hemd auseinander zu ziehen, um seine Verletzung zu begutachten. Doch Jim entzog sich seinem Bruder. Schnaufend riss er seinen Kopf in den Nacken.
„Ich meine es ernst – Jim! Das wird sich entzünden“, mahnte Ron. Er war nicht bereit, die Lethargie seines Bruders zu akzeptieren. Emotionslos wandte Jim seinen Blick wieder nach unten. Die abwehrende Körperhaltung signalisierte, dass es besser war, ihn in Ruhe zu lassen. Seufzend verschwand Ron im Bad.
Der Wasserhahn wurde aufgedreht. Als dem Plätschern mehrere gequälte Laute folgten, wanderte Jims Blick sofort in Richtung Bad. Über sein Gesicht legte sich ein Hauch von Sorge. Er stand auf um nach Ron zu sehen. Ihm tat sein impulsives Verhalten leid, denn niemand trug die Schuld an dem was passiert war.
Ron kam in gekrümmter Haltung in das Zimmer zurück. Er hatte ein Handtuch auf seine Seite gepresst und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Jim hinüber. Dieser bat ihn, sich seine Verletzung ansehen zu dürfen. Ron folgte dem Wunsch und entfernte vorsichtig das Handtuch. Mitfühlend schnaufte Jim, als er den Kieferabdruck betrachtete. Die Ähnlichkeit mit einem menschlichen Gebiss war unübersehbar. An einigen Stellen schien der Druck so stark gewesen zu sein, dass sich die Zähne tief ins Fleisch gebohrt hatten. Den größten Teil machten jedoch Quetschungen aus, die sich langsam von Rot in Blau verfärbten. Jim ergriff die Whiskyflasche auf dem Nachttisch und Ron schloss seine Augen. Als sich der Alkohol brennend über seine Wunden ergoss, spie er etliche Flüche in den Raum. Anschließend ließ er sich auf sein Bett sinken um zu verschnaufen.
Später ließ es auch Jim zu, dass Ron seine Schnittwunden behandelte.
*** *** ***
„Das läuft uns hier komplett aus dem Ruder“, bellte Jim ins Telefon während er gereizt im Zimmer auf und ab lief. Er strich sich nervös durch die Haare. Ron saß auf dem Bett. Vor seinen Füßen lag der Inhalt der Waffentasche ausgebreitet, den er regelmäßig kontrollierte. Hin und wieder sah er auf und folgte aufmerksam den Worten seines Bruders.
„Bill! Wir haben keine Ahnung, mit wem oder was wir es hier zu tun haben. Es gab bereits drei Tote und wir sind nicht einen Schritt weiter!“ Entnervt ließ Jim seine Blicke nach oben gleiten und blieb stehen um den Worten zu lauschen, die aus dem Hörer drangen. „Nein – nein …Ich …“, sein Satz wurde unterbrochen. Jim sah Ron vorwurfsvoll an. „Ja, wir haben geschossen … irgendwas hat es bewirkt – aber nicht genug.“
„Was meint Bill“, fragte Ron, der sorgfältig eine Pistole mit einem ölgetränkten Lappen polierte.
„Er weiß auch nichts“, seufzte Jim und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch aus dem Handy. „Ja – es hat uns angegriffen – ich habe es gehört. … Nein …Was?“ Jim sah erneut auf Ron. Sichtlich genervt, dass Bill ihn nicht ausreden ließ, hob er die Brauen. „Beruhige dich Bill – wir sind okay … nur ein paar Kratzer“, versicherte er. „Wie? … Nimm mich mit “, Jims freie Hand fuhr in seine Hosentasche als er weiter zuhörte. Dabei nickte er ab und zu. „Es muss eine Art Geist sein. Das Steinsalz hat es vertrieben körperlos … nur … Camcorder“, stotterte Jim in sein Handy. „Ja wir fangen nochmal von vorn an. Ich werde die Sicherheitskameras des Krankenhauses überprüfen. Ron geht zu Lilly – dort hat ja alles angefangen.“ Jims Blick streifte erneut Ron, der ihm bestätigend zunickte. „Das ist eine gute Idee, Bill – beeil dich!“ Erleichtert klappte Jim das Handy zu und warf es auf sein Bett. „Bill kommt uns zu Hilfe. Er wird morgen früh hier sein.“ Mit diesen Worten setzte er sich und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Hast du Lilly schon angerufen“, murmelte er.
Ron hob seinen Kopf. „Ja – wir sind heute Abend verabredet.“
Jim ließ die Arme auf seine Oberschenkel sinken und sah Ron fragend an. „Bist du sicher dass es dir um unseren Fall geht?“
„Was hast denn du für eine Meinung von mir“, konterte der Ältere und warf die Pistole in die Tasche. Dann stand er auf. „Ich gehe jetzt ins Bad“, mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck verschwand Ron hinter der Tür.
„Tu das“, flüsterte Jim, „ich werde mich um die Sicherungsbänder kümmern.“ Er ließ sich rücklings auf sein Bett fallen und starrte an die Decke.
*** *** ***
Langsam rollte der Ford Mustang am Straßenrand aus und stoppte an einem schattigen Plätzchen unter einer der Linden, die ihre gewaltigen Kronen über der Nebenstraße ausbreiteten. Nachdem Ron den Wagen abgeschlossen hatte, bewegte er sich zielstrebig auf ein kleines, sonnengelbes Haus hinter einem weißen Zaun zu. Er öffnete die Gartenpforte und klingelte wenige Sekunden später an der Tür. Ungeduldig sah er sich noch einmal um. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages suchten ihren Weg durch das grüne Blätterdach. Sie tauchten den kleinen Vorgarten in ein märchenhaftes Licht. Als sich die Tür öffnete, strahlten ihn blaugraue Augen an. Während der letzten schmerzlichen Stunden hatte Ron fast vergessen, wie dieser Glanz ihn vor zwei Tagen verzaubert hatte.
„Ron …“, Lillys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er wäre fast zusammengezuckt, als er seinen Namen hörte. „Komm doch rein – ich freu mich, dass du gekommen bist.“ Lillys Haar schien im Licht der untergehenden Sonne zu funkeln und umschmeichelte in langen Strähnen ihre Schultern.
„He Lilly – schön dass es dir wieder besser geht“, flüsterte Ron. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat er ins Haus. Im Flur schaute er sich um.
„Hier entlang“, sagte Lilly augenzwinkernd und wies auf eine geöffnete Tür. Ron ging voran.
„Setz dich doch.“ Lilly deutete auf eine Wohnlandschaft aus hellgrünem Leder in der Mitte des Wohnzimmers. Sie strich sich über ihr Kleid und flüsterte: „Ich hol uns was zu trinken.“
Brav setzte sich der Jäger und musterte das Zimmer. Über seine Lippen huschte ein Lächeln. „Nicht schlecht“, murmelte er. Nach einem kurzen Zögern lehnte er sich zurück und breitete die Arme aus.
„Was möchtest du trinken?“, erklang es aus der Küche.
„Vielleicht ein Bier?“, rief Ron unsicher und rutschte nach vorn, um einen Blick in die Küche zu werfen.
Lilly antwortete lachend: „Hätte ich mir fast denken können.“ Wenige Sekunden später erschien sie mit zwei Flaschen im Wohnzimmer. „Möchtest du ein Glas?“
„Ist schon okay“, erwiderte Ron und griff nach der Flasche. Er trank einen Schluck und stellte sie auf den Tisch. Lilly setzte sich in einen Sessel. Sie musterte den Jäger neugierig. „Nun Ron, wie kann ich dir helfen?“
Ron räusperte sich. „Es ist wegen der Geschichte mit eurem Koch“, sagte er verlegen. Er bemerkte sofort ihre Traurigkeit.
„Das ist so schrecklich“, murmelte Lilly und sah auf den Boden. „Und nun auch noch Jeremy.“ Verständnislos schüttelte sie ihren Kopf. „Wie kann denn so etwas nur passieren?“
„Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht“, gab Ron zu. Er beugte sich in ihre Richtung und flüsterte: „Es gab noch einen ähnlichen Fall gestern Nacht!“
„Das ist unheimlich“, erwiderte Lilly. Dann holte sie tief Luft und sah ihn fragend an: „Was habt ihr damit zu tun?“
„Wir brauchen deine Hilfe – so wie es aussieht haben diese seltsamen Dinge im Diner begonnen, wo du arbeitest.“ Ron hatte seine Stimme gesenkt. Er wollte Lilly nicht verängstigen – aber lügen wollte er auch nicht. „Wir sind hier um das zu beenden.“
Lillys Augen weiteten sich erstaunt. „Wie?“
„Nun, zuerst solltest du mir sagen ob dir irgendetwas Merkwürdiges aufgefallen ist“, fuhr Ron fort, ohne auf ihre Frage zu reagieren.
Lilly drückte sich in die Sessellehne. Sie schien nachzudenken. Einige kleine Fältchen zeigten sich auf ihrer Stirn. „Jack hätte am Sonntag arbeiten sollen“, begann sie zu berichten. „Aber er ist nicht erschienen. Ich dachte zuerst, er sei beleidigt und hätte deswegen zu viel getrunken.“
„Beleidigt? Warum?“ Fragend sah Ron Lilly an.
Lilly rutschte verlegen auf ihrem Sessel herum. „Na ja, wir hatten uns am Freitagabend verabredet.“ Sie zögerte kurz. „Ich habe ihn versetzt“, flüsterte sie und schloss die Augen.
Erstaunt hob Ron eine Braue. „Wart ihr zusammen?“
„Nein!“ Lilly schüttelte ihren Kopf. „Er wollte wohl – aber ich hatte kein Interesse. Armer Jack – so etwas hat er nicht verdient.“
Ron lehnte sich ins Sofa zurück. „Wo war das“, fragte er.
„Im Club – im alten Gewerbegebiet beim Parkfriedhof“, antwortete Lilly. Sie hob die Schultern und strich sich eine Locke aus der Stirn. Ihre Augen formten sich zu Schlitzen, als sie Ron musterte. „Was macht ihr nochmal beruflich?“, fragte sie und stand auf: „Warum interessiert ihr euch für so grausige Fälle? Seid ihr die Men in Black?“ Lilly lachte mehr aus Verlegenheit als sie in der Küche verschwand. Heimlich folgte ihr Rons Blick. Seine Finger pressten sich in die Jeans über seinen Oberschenkeln. Er murmelte: „Nah dran – Kleines.“
Als Lilly zurückkam, stellte sie ein Glas auf den Tisch. Sie setzte sich neben Ron und sah ihm in die Augen. Eine leichte Röte schimmerte auf ihren Wangen. „Es war unheimlich nett von dir, dass du dich um mich gekümmert hast“, hauchte sie und berührte seine Hand. Erschrocken über die eigene Courage, zuckte sie zurück. Dabei streifte ihr Arm Rons verletzte Seite. Ein kurzer heftiger Atemstoß entwich dem Jäger.
Lilly hatte es sofort bemerkt. „Was ist das – bist du verletzt?“ Sie ergriff das Shirt am unteren Saum und zog daran.
„Da ist nichts“, versuchte sich Ron zu rechtfertigen. Aber Lilly ließ sich nicht einfach abwehren. Sie musterte den Abdruck einige Sekunden lang – so dass es dem Jäger fast peinlich wurde. „Das hat weh getan“, flüsterte sie und fuhr mit ihren Fingern sanft über die blauschwarzen Flecken. Ihre Blicke wanderten heimlich über seinen Körper um ihm schließlich in die Augen zu sehen. Diese waren sanft, fast traurig und passten so gar nicht zu seinem harten, kantigen Gesicht. Die blonden Haare hatte er kurz geschoren. Lilly war sich sicher, die blassen Sommersprossen auf seiner Nase würden bei etwas mehr Sonne den frechen Jungen verraten, den er sorgfältig zu verbergen trachtete. Geräuschvoll atmete sie ein. Eine skrupellose Anziehungskraft zwang sie, so nahe wie möglich an seinen Körper zu rücken. Vom ersten Augenblick an war sie von ihm gefesselt. Sie konnte gar nicht glauben, dass er jetzt neben ihr saß. Lass ihn um keinen Preis der Welt wieder gehen, schrie es in ihr.
Ron stockte der Atem – sein Herz stolperte ihm fast in den Schoß. Er begriff immer noch nicht ganz, welcher unbekannte Impuls ihn dazu gebracht hatte, Lillys Berührung nicht abzuweisen. Aber genau diese Berührung entfachte eine kaum zu kontrollierende Aufruhr in ihm und offensichtlich ging es ihr ähnlich, denn sie zog ihn zu sich heran.
Mit einer fahrigen, von Lust getriebenen Bewegung, schob er die Träger des Kleides über ihre Schultern und griff in ihren Nacken. Lillys weiches Haar glitt wie Seide durch seine Finger. Sie gab seiner fordernden Zunge nach. Ihre Finger glitten forschend über seine Brustmuskeln, ertasteten die kräftigen Arme und den straffen Bauch.
Lilly war schon immer viel stärker gewesen, als man ihr zutraute. Dafür schien sein Körper auf einmal so schwach zu sein. Ihre Finger verschlangen sich in seinem Nacken. Ihr Atem pulsierte an seinem Hals, als Ron sie sanft, aber bestimmend nach hinten drückte, bis er gänzlich ihre weiche Haut unter sich spüren konnte. Hastig streifte er seine Jeans ab und bedeckte ihre Schultern mit Küssen. Er umfasste ihre Hüften, während er gierig den berauschenden Duft ihrer Haut einsog. Als sich Lillys Beine fest um seine Taille schlangen, schloss sie die Augen – ihr Kopf legte sich auf das weiche Polster. Ein leiser Schrei stieß über ihre Lippen, als sie seinem Drängen nachgab und mit seinen Rhythmus verschmolz.
Die Welt verschwand aus ihrer beider Wahrnehmung. Nur das blasse Licht des Mondes fiel durch die Fenster auf zwei atemlose Körper, die eng umschlungen immer tiefer stürzten – bis ihre Leidenschaft jede ihrer Bedenken verdrängt hatte.
*** *** ***
Im Zimmer glomm eine alte Messinglampe. Ihr verstaubter, mit schweren Kordeln behangener Schirm entließ einen rostfarbenen Lichtkegel, der kaum über das Nachtschränkchen hinausreichte.
Jim saß am Tisch. Seine Augen konzentrierten sich auf unscharfe Bilder, die über den Monitor flimmerten. Ab und zu griff er nach einem Pappbecher neben dem Laptop und trank Kaffee. Sein rechter Zeigefinger klickte unermüdlich auf der Maus, während die Zeiger einer alten Uhr über der Kochnische unaufhaltsam dem Ende des Tages entgegensprangen. Ein gelegentliches Seufzen kam über die Lippen des Jägers. Stundenlanges Starren auf den verwaisten Krankenhauskorridor hatte ihn ermüdet.
Der Blick auf die digitale Anzeige unterhalb der Aufnahmen zeigte, dass bald die Ereignisse folgen würden, die ihn und seinen Bruder veranlasst hatten, das Gebäude schnellstens zu verlassen, um unangenehmen Fragen der Polizei aus dem Weg zu gehen.
Jim rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Er drückte sich gegen die Stuhllehne, bis ihr sprödes Knarzen die Bewegung stoppte. Seine Augen verdunkelten sich, als Amelia im Korridor erschien. Plötzlich hatte Jim das Gefühl, ihr Name würde sich in seine Seele einbrennen. Für einen kurzen Augenblick spürte er ihren zitternden Körper wieder in seinen Armen und stieß zischend einen Atemzug durch seine Nase.
Nur wenige Sekunden später sah er sich selbst in Begleitung seines Bruders den gleichen Weg gehen. Er war ein seltsames Gefühl, die Vergangenheit noch einmal zu erleben – mit dem schrecklichen Wissen, das er jetzt hatte. Kurze Zeit später verließen beide Jäger in Begleitung der Schwester den Raum. Amelia war sichtlich angeschlagen. Sie taumelte an seiner Seite, bis das schwarze Auge der Kamera sie aus ihrem Blickwinkel verlor.
Jim war erstaunt, denn in der Realität war ihm die Zeit viel länger erschienen. Plötzlich hellwach, fuhr er mit dem Mauszeiger zurück und betrachtete konzentriert einzelne Bilder, die mit jedem Klick einen winzigen Augenblick der Vergangenheit vor seinen Augen einfroren. Über Amelias Schultern schwebte ein Schatten. Er war zerfetzt. Sicher aber war, dass zwei seiner Auswüchse auf ihren Schultern hafteten. Was ist das? Jims Stirn zog sich in Falten. Er schob sein Gesicht näher an den Monitor, um das verrauschte Standbild zu fixieren. Fingerabdrücke! Schoss es ihm durch den Kopf. Alle Opfer hatten violette Abdrücke auf ihren Schultern.
Jim atmete tief durch. Dann erhob er sich, um zum Fenster zu gehen. Er öffnete es und genoss den kühlen Atem der Nacht, der sich in den braunen Strähnen über seiner Stirn und seinen Schultern verfing. Es war kurz vor Mitternacht und er wusste, dass Ron vor morgen früh nicht zurückkehren würde. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über seine Lippen. Doch nur Sekunden später hatten die Ereignisse um diesen rätselhaften Fall seine Gedanken wieder in Besitz genommen, um als zusammenhanglose Fakten seinen Verstand zu quälen.
Der junge Jäger sah auf die verwaiste Straße. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Im einfallenden Mondlicht zeichnete sich sein hochgewachsener Körper deutlich vor dem Fenster ab.
*** *** ***
Sonnenstrahlen kitzelten in Rons Nase. Kurz bevor er die Augen öffnete, huschte ein Lächeln über seine Lippen, denn die erwachende Erinnerung jagte eine Armee kleiner Ameisen durch seine Adern. Der warme Körper, der sich in seine Arme schmiegte, bezeugte, dass er nicht träumte.
Ron blinzelte kurz in das helle Licht. Dann richtete er den Blick auf Lilly, die ihren Kopf auf seine Brust gebettet hatte. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, strich er mit dem Zeigefinger diese widerspenstigen Locken aus ihrer Stirn und beobachtete lächelnd ihren Schlaf. Lillys Kopf hob sich mit jedem seiner Atemzüge. Für einen Augenblick wurde sein Wunsch nach einer Familie übermächtig. Wie in Trance ließ er die blonden Strähnen durch seine Finger gleiten und schloss die Augen. Aber er wusste, für Seinesgleichen würde es niemals ein Zuhause geben. Seufzend befreite sich Ron aus der wärmenden Umarmung.
„Du bist schon wach?“, flüsterte Lilly.
„Ich muss gehen“, antwortete Ron so leise, dass er seine eigenen Worte kaum verstand. Er zuckte zusammen, als er sich aufrichtete, denn die Verletzung – gestern Nacht durch den Rausch der Sinne zum Schweigen gebracht – meldete sich nun umso heftiger zurück.
Lillys Hand ergriff seinen Arm. Fragend sah sie ihn an. „Kommst du zurück?“
In Rons Augen zeigte sich ein Leuchten. „Immer“, flüsterte er rauchig und gab Lillys Forderung, sie noch einmal in seine Arme zu schließen, nach.
*** *** ***
„Jetzt erzählt mir alles noch einmal von vorn“, forderte Bill. Der alte Jäger hatte auf einem der Betten Platz genommen und sah die Brüder an. Ungeduldig trommelten seine Finger auf dem Nachttisch. Die nächtliche Anreise steckte ihm in den Knochen. Jim und Ron hatten sich an den Tisch gesetzt. Vor ihnen türmten sich Reste ihres späten Frühstücks in Form von Papiertüten.
„Angefangen muss es wohl mit dem Koch im Diner haben“, begann Ron zu berichten. Er sah auf Jim, der ihm bestätigend zunickte.
„Wir hörten einen Schrei und dann rannte der Junge aus der Küche“, fuhr dieser fort. Jim war bemüht, es sich auf dem Stuhl bequem zu machen. Doch seine langen Beine fanden nirgends richtig Platz.
Ron versuchte sein Grinsen zu verkneifen: „Er hat unseren Kleinen fast zu Boden gerissen als er ihm in die Arme stolperte.“
„Alter … ! Musst du ständig darauf herumreiten“, maulte Jim und sah zur Decke.
Ron hob beschwichtigend die Hände: „Als wir in die Küche kamen war der Koch bereits tot. Er lag auf dem Grill. Laut unseren Recherchen ist er der erste Tote“, berichtete er weiter und schob seinen Oberkörper nach hinten, bis auch sein Stuhl knarrte. Erschrocken sah er über seine Schultern und rückte wieder nach vorn.
Jim hatte das Treiben seines Bruders grinsend beobachtet und übernahm das Wort: „Wir konnten ihn leider nicht richtig begutachten, da Rettungsdienst und Polizei verdammt schnell waren. Aber er hatte genau wie der Küchenjunge und Amelia diese Druckstellen auf seinen Schultern.“ Jim beugte sich in Bills Richtung. Seine Stirn zog sich in Falten. „Wir wurden von etwas Unsichtbarem angegriffen – nur durch die Kamera konnten wir beim Angriff einen Schatten erkennen.“ Verheißungsvoll richtete Jim seinen Oberkörper wieder auf. „Genau diesen Schatten habe ich gestern Nacht auch auf dem Sicherheitsvideo des Krankenhauses entdeckt, als er über Amelia schwebte.“
„Ja – aber, Jimmy“, fiel ihm Ron ins Wort. „Bedenke, unser EMF hat Amelia eindeutig als den Geist ausgewiesen.“
Jims Augen streiften den Älteren zornig. „Komm runter, Ron! Das Mädchen war doch kein Geist!“ Er machte eine Pause und murmelte: „Vielleicht war sie irgendwie besessen?“
Bill zupfte an seinem grauen Bart. Er sah einige Momente gedankenversunken in den Raum, bevor er sich erneut an die Jäger wandte. „Was ist im Krankenhaus passiert? Konntet ihr was sehen?“
„Nichts – wir kamen zu spät“, antwortete Ron. Er holte tief Luft. Seine Finger spielten ratlos mit einer der Papiertüten auf dem Tisch.
„Wieder einmal“, zischte Jim.
Rons missmutiger Blick traf ihn augenblicklich. „Amelia lag am Boden – offensichtlich war sie gestolpert.“
Jim war aufgestanden und hatte sich zur Wand gedreht. Er seufzte, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig.
„Gestolpert …“, widerholte der Alte leise.
„Ja – zum Glück“, stellte Ron fest. „Wenn ich mir vorstelle, dass sie die Vorhänge des Bettes weggezogen hätte. Die Arme, sie hätte bei diesem Anblick einen Schock fürs Leben bekommen.“
Jim drehte sich schlagartig um: „Ja – aber das ist egal, denn sie lebt nicht mehr…!“, fauchte er.
Ron senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen.
Bill saß immer noch auf dem Bett. Aufmerksam beobachtete er die Brüder. „Was war mit dem Küchenjungen? Los Jungs! Muss ich euch denn alles aus der Nase ziehen?“ drängte er.
„Er war tot und er sah auch so aus, als wäre das schon seit Jahren so.“ Rons Stimme klang gereizt. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und kippelte mit dem Stuhl.
„Später waren wir in der Pathologie, um ihn uns genauer anzusehen“, sagte Jim. Er setzte sich wieder und atmete einmal tief durch.
„Wie seid ihr denn da rein gekommen“, fragte Bill erstaunt.
Die Brüder wechselten einen kurzen Blick und antworteten grinsend: „Frag lieber nicht …“
Jim gebeugt sich nach vorn. „Der Tote hatte diese Flecken auf der Schulter – sein Körper war völlig ausgezehrt und offensichtlich waren seine Rippen Matsch.“
Bill hob nachdenklich seinen Kopf.
„Als wir bei Amelia ankamen, war sie noch am Leben“, sprach Ron leise. Seine Augen waren auf Jim gerichtet. Dieser hatte den Kopf in die Hände gelegt.
„Wir konnten zuerst nichts finden. Dann zeigte der EMF Messer etwas an … es war Amelia…!“ Ron stoppte. Er konnte die aufwallende Erregung seines kleinen Bruders daran erkennen, dass sich seine Atmung wieder beschleunigte.
„Und dann?“, fragte Bill zögernd. Er verstand Rons warnende Geste und beobachtete nun ebenfalls den impulsiven Jüngeren.
„Sie starb einfach“, flüsterte Ron.
„Du meinst wohl, wir haben sie einfach sterben lassen“, entfuhr es Jim unkontrolliert. Er schnellte in die Höhe und sein Körper baute sich zu Furcht einflößender Größe auf.
Ron war ebenfalls aufgesprungen. Er sah Jim eindringlich an. Mittlerweile raste auch sein Puls. „Wir konnten nichts tun“, versuchte er Jim zu besänftigen.
„Wir hätten sie retten müssen, Mann“, schrie der Jüngere gequält. Seine Augenwinkel füllten sich mit Tränen.
„Wie denn“, fragte Ron leise. Er ging einen zaghaften Schritt auf Jim zu und breitete die Arme aus. „Sag mir wie, Jimmy – wir hatten nichts …!“ Unglücklich sah er seinen Bruder an.
„Jungs, Jungs, Jungs bleibt ruhig!“, unterbrach Bill das Gespräch. Das Letzte was er jetzt gebrauchen konnte war, dass die Beiden wie Kampfhähne aufeinander losgingen. Bill hob beschwichtigend seine Arme, als er sich ihnen näherte. „Was ist danach passiert?“, fragte er.
„Dann wurden wir selber angegriffen“, antwortete Jim als erster und stieß zischend Luft aus seinen Lungen. Manchmal wünschte er sich etwas mehr Kontrolle über seine Gefühle. Als seine Augen den Älteren betroffen streiften, entspannten sich auch dessen Gesichtszüge. Ron ging zurück zum Stuhl, um wieder Platz zu nehmen.
„Zuerst wurde ich attackiert und anschließend Ron. Wir konnten den Angreifer nicht sehen“, berichtete Jim weiter und wanderte im Zimmer auf und ab. „Er hat meinen Namen gerufen!“
„Was hat er genau gesagt“, wollte Bill wissen.
Jim hielt inne und antwortete: „Er sagte: Jim, nimm mich mit.“ Seine Augen wanderten hilfesuchend zu Ron.
Dieser hob ratlos seine Schultern und sprach weiter: „Also mich hat er nur gebissen. Der Mistkerl muss verdammt groß gewesen sein. Er hat mich mühelos umgerissen und war verdammt schwer. Dieser Typ hat mir fast die Rippen gebrochen.“
Jim nickte Bill bestätigend zu. „Ging mir auch so“, sagte er als er sich wieder auf seinen Stuhl setzte.
Die Augen des alten Jägers blitzten. „Was ist dann passiert?“, fragte er.
„Dann war er weg“, antwortete Jim.
„Zum Glück“, bemerkte Ron. „Der hätte uns echt fertig gemacht.“
„Wie weg?“, bohrte Bill nach.
„Was weiß ich denn – er war einfach weg. Vielleicht wars die Sonne“, murmelte Jim ratlos.
„Ja es war bereits Morgen“, stellte Ron fest. „Der Milchwagen läutete vor der Tür.“
Bills Augen weiteten sich. „Ihr meint so einen alten Milchwagen – wo der Fahrer noch mit einer Glocke seine Kundschaft ruft?“
Ron und Jim sahen sich erstaunt an. „Ja“, antworteten sie synchron.
Bill stand auf und ging murmelnd im Zimmer auf und ab. Er hatte den Kopf gesenkt und kraulte seinen Bart. Nach einer Weile wandte sich der alte Jäger den Brüdern zu. „Jim?“, frage er. „Der Küchenjunge riss dich um, weil er stolperte?“
Erstaunt sah Jim zurück. „Hab ich doch schon gesagt“, seufzte er.
„Es gehört ziemlich viel Kraft dazu dich umzureißen“, fuhr Bill schmunzelnd fort.
Über Jims Gesicht huschte wieder dieser Gesichtsausdruck. Gerade als er laut widersprechen wollte unterbrach ihn Bill. „Nein, nein – ist schon gut. Ich glaube es dir.“ Bill streckte Jim seine Hände entgegen. Mit gekräuselter Stirn fasste er die Aussagen zusammen: „Die Krankenschwester … sie lag am Boden weil sie“ –
„…gestolpert war …“, fielen ihm die Brüder ins Wort und rissen die Augen auf.
„Los sag schon Bill – du weißt doch was“, drängte Jim.
Der alte Jäger nickte besorgt: „Jungs! Ich weiß, mit wem wir es hier zu tun haben …“
Jim sah mit besorgter Miene auf Bill. Ron spielte mit einer der Papiertüten auf dem Tisch. Auch er nahm den Alten ins Visier. Bill setzte sich seufzend zurück auf das Bett. „Also Jungs!“, schnaufte er. „Nach euren Informationen haben wir es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Druckgeist zu tun.“ Abrupt beendete Bill den Satz, indem er die Lippen zusammenpresste.
„Druckgeist?“ Jim schaute ihn ungläubig an.
„Was zum Henker ist denn ein Druckgeist?“, polterte Ron heraus und richtete sich weiter auf – sorgsam darauf bedacht, den alten Stuhl nicht übermäßig zu strapazieren.
„Nachdem, was ihr mir erzählt habt, tippe ich mal auf einen Aufhocker“, fuhr Bill fort.
„Aufhocker? – Hab ich noch nie was von gehört“, wandte sich Ron an Jim. „Steht was zum Thema im Tagebuch“, fragte er schließlich.
Jim stand auf und kramte im Schubfach seines Nachtschränkchens. Nachdem er das Tagebuch ihres Vaters in den Händen hielt, blätterte er durch die eng beschriebenen Seiten. Seine Augen flogen über Texte und handgezeichnete Skizzen von seltsamen Kreaturen, in der verzweifelten Hoffnung, etwas zu entdecken. Dies, obwohl er die Zeilen, Seite für Seite, schon auswendig kannte. „Hier steht auch nichts drin“, seufzte er. „Wie kommst du darauf?“, fragte er den Alten neugierig und warf das Buch auf eines der Betten.
Bill schnaubte. „Die Indizien verraten es mir. Obwohl ich noch nie von einem wirklichen Fall gehört habe.“ Seine Stimme klang nachdenklich. „Ein Aufhocker ist ein koboldähnliches Geschöpf. Seine typischen Spukorte sind Bäche, Brücken, Seen, Wälder, Wegkreuzungen, Kirchhöfe und Mord- oder Richtstätten. Begegnungen mit dem Aufhocker haben für seine zufälligen Opfer oft körperliche und seelische Krankheiten zur Folge. Er springt den Leuten auf die Schultern oder auf den Rücken. Dann ernährt er sich von der Lebensenergie des Opfers und wird mit der Zeit immer schwerer.“ Während Bill berichtete, schweifte sein Blick über die alte Blumentapete.
„Bis den Opfern nach einer gewissen Zeit durch diese Last die Knochen brechen“, stellte Ron kopfnickend fest. „Kein Wunder, dass sie so ausgelaugt aussahen“, fügte er hinzu und schaute bestätigend auf den alten Jäger.
Jim nahm seinen Laptop vom Bett und ging zum Tisch. Mit einem Wisch schob er den Papiermüll zur Seite. Er ließ seine Finger über die Tastatur fliegen. Bills Tipp machte es leicht, nach weiteren Informationen zu googeln.
„Ja, eure Schilderungen stimmen mit meinen Informationen fast überein“, erklärte Bill weiter: „Wenn die Opfer angesprungen werden, geraten sie oft durch die Wucht des Ansprunges ins Stolpern.“ Seine Hände fuhren wieder durch die grauen Barthaare. „Ich habe allerdings noch nie gelesen, dass diese Kobolde töten. Sie verwirren ihre Opfer so, dass sie wie in einem Alptraum gefangen sind“, murmelte er.
„Möglicherweise ist dieser hier besonders hungrig“, versuchte Ron den merkwürdigen Umstand zu erklären und hob seine Schultern. Bill und Ron beobachteten Jim, der fast mit dem Monitor seines Laptops verschmolz. Seine schmalen Augenbrauen hatten sich zusammen geschoben. Unter ihnen folgten aufmerksame Augen den Zeilen zahlloser Artikel. „Die modernen Sagen bestätigen deine Aussage, Bill“, murmelte er und hob den Kopf. „Aber … !“ Jim holte Luft und seine Stimme bekam einen verheißungsvollen Singsang-Ton. „Die ältesten Berichte über Aufhocker sprechen eindeutig von aufhockenden Leichen und nicht von Kobolden. Im Gegensatz zum Nachzehrer, der sein Grab nicht verlassen musste, wenn er den Lebenden Schaden zufügen wollte, stiegen andere Untote ähnlich den Vampiren hinaus und raubten den Menschen die Lebenskraft.“ Jim sah wieder auf den Laptop. Er klickte mit der Maus, um durch den Text zu scrollen. „Jetzt kommt’s!“ Jim erhob erneut den Kopf. „Im Westen Deutschland verschmilzt der Aufhocker mit dem Werwolf zum Stüpp, einem gefährlichen Unhold, der die Menschen anspringt und sich so lange herumtragen lässt, bis das Opfer an Entkräftung stirbt.“ Erfreut über diese heiße Spur schlug er mit den Händen auf seine Oberschenkel und bemerkte: „Also kann die Heimsuchung doch tödlich enden.“
Ron senkte den Kopf. Er fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Stoppeln und knurrte: „Was ist denn das für ein beschissener Geist! Eine Mischung aus Zombie, Vampir und Werwolf mit einer Prise Sukkubus?“ Er sah Bill an: „Wie kann man ihn töten?“ Entschlossen hatte er die wichtigste Frage gestellt. „Es ist einfach unglaublich“, murrte er weiter. „Jetzt müssen wir uns auch noch mit deutschen Legenden rumplagen!“
Über Jims Gesicht huschte ein Grinsen. „Ja Bruderherz – Geister kennen wohl keine Grenzen! Vermutlich wurde er von Siedlern eingeschleppt.“ Seufzend wandte er sich wieder den Informationen aus dem Internet zu und las weiter: „Der Aufhocker bleibt auf dem Wanderer sitzen, bis dieser durch Sonnenlicht, ein Gebet oder Glockengeläute von ihm erlöst wird.“
„Die Glocke des Milchwagens“, flüsterte Ron und sah Bill an. Dieser nickte bestätigend.
„Heißt das nun, dass er weg ist?“
Bill wollte etwas sagen, doch Jim fiel ihm ins Wort: „Das glaube ich nicht – Ron“, seine Stimme war leise. „Die Glocke hat ihn sicher nur verscheucht. Er wird wieder zuschlagen.“
Ron stand auf. Er sah seinen jüngeren Bruder an: „Dann ist er noch in Amelias Wohnung?“
„Und er wartet auf das nächste Opfer“, vollendete Jim den Satz.
„Steht da nun, wie man dieses Ding erledigt, oder nicht?“, fragte Ron ungeduldig. Nach einer Besinnungspause wandte er sich an Jim und flüsterte: „Hey, Kleiner – ich habe dir wohl Unrecht getan!“ Er lächelte versöhnlich. „Offensichtlich war der Küchenjunge doch schwerer, als er aussah.“
Jim hob seine Hand und begann wieder mit der Recherche. „Ist schon okay, Alter“, murmelte er. Nach einer Weile hektischer Suche trafen seine Augen fragend auf den alten Jäger. „Hier steht nicht wie man ihn erledigt. Hast du eine Ahnung, Bill?“
Der Alte sah an die Zimmerdecke und schnaubte wie ein müder Gaul. „Das genau ist unser Problem! Man kann ihn nur vertreiben, aber nicht töten! Jungs, ihr habt wahnsinniges Glück gehabt. Wenn der Mistkerl erst mal auf einem hockt … lässt er sich nicht mehr so einfach durch Glockenläuten vertreiben – dann ist er praktisch unverwundbar und kann sich sogar von Angriffen erholen. Sehr zum Schaden der armen Opfer.“ Bills Gesicht sprach Bände. „Solange wir nicht wissen, wie wir ihn erledigen können, müsst ihr verhindern, dass jemand diese Wohnung betritt.“
„Wie sollen wir das anstellen? Das ist ein Tatort – also wird die Polizei längst da gewesen sein“, erklärte Jim.
„Dann wird es inzwischen wieder jemanden erwischt haben“, schlussfolgerte Ron.
*** *** ***
Detektiv Mike Miller kniff die Augen zusammen als das entgegenkommende Licht ihm die Sicht nahm. Nach wenigen Sekunden war der gleißende Strahl vorbeigesaust. Mit hypnotisierender Wirkung zogen die gelben Begrenzungsstreifen der Fahrbahn wieder gleichmäßig am Auto vorbei.
Dieser Fall war unheimlich. In seiner gesamten Dienstzeit war ihm etwas derartiges noch nicht untergekommen. Drei grausame Todesfälle in drei Tagen und noch immer kein Anhaltspunkt. Wer war der Täter und wie konnte er seine Opfer derart schrecklich zurichten? Es schien fast, als würde sich das Sterben wie eine Virusinfektion ausbreiten. Ein Seufzen kam über Millers Lippen, als er einen Gang runter schaltete. Langsam nahm die Steigung der Straße zu, was ihm sagte, dass er bald am Ziel ankommen würde. Noch eine Stunde, dachte er und wischte sich übers Gesicht. Aufkommende Dunkelheit und Nebel zerrten schon eine Weile an seinen Nerven. Am liebsten hätte Miller den Fall jetzt nicht aus der Hand gegeben. Aber er hatte schon vor Wochen den längst überfälligen Urlaub eingereicht und sein Chef bestand nun darauf, dass dieser auch eingehalten wurde. Wenn Miller ehrlich zu sich selbst war, hatte er einige Tage Auszeit auch dringend nötig. Er war nicht unentbehrlich und konnte sich auf sein Ermittlerteam verlassen. Mit Sicherheit würde die frische Luft am See seinen Kopf befreien. Das war für seine Arbeit unerlässlich.
Mike Miller fuhr in die Berge, um ein paar Tage in seiner Blockhütte zu verbringen. Den Kofferraum seines Wagens hatte mit Lebensmitteln, Kleidern, sowie einer beeindruckenden Anglerausrüstung bestückt.
Lauter werdendes Knirschen unter den Rädern verriet, dass sich die asphaltierte Landstraße zu einem schmalen Pfad verengt hatte, der sich durch das Dickicht eines alten Waldes schlängelte. Fest umklammerte der Detektiv das Lenkrad. Sein Blick war konzentriert auf die Straße gerichtet, deren Ränder von Büschen überwuchert wurden. Ausladende Zweige klatschten immer öfter gegen die Windschutzscheibe und glitten geräuschvoll über den Lack. Der unbefestigte Weg ließ das Auto schlingern. Miller musste seine Fahrt durch die bizarren Schatten der alten Eichen immer weiter verlangsamen.
Endlich lichteten sich die Büsche rechts und links des Weges. Zwischen den Stämmen der Baumriesen schimmerte die Oberfläche eines Sees im Mondlicht. Nicht weit vom Ufer entfernt, konnte Mike die Blockhütte erkennen. Fast lautlos rollte der Wagen aus dem Schatten und kam auf einer Wiese vor der Hütte zu Stillstand.
Als Mike die Autotür öffnete, schlug ihm frischer Duft von Wasser, Moos und Erde entgegen. Er atmete tief ein und genoss den reinen Atem des Waldes. Entschlossen ging er zum Kofferraum und trug sein Gepäck ins Haus. Der moosige Untergrund dämpfte die Geräusche seiner Schritte.
Eine Stunde später saß Miller zufrieden in seinem Lieblingssessel und blickte gedankenversunken in die knisternden Flammen des Kamins. Miller liebte den würzig harzigen Geruch, den die Wände der Blockhütte auch nach Jahrzehnten noch ausdünsteten.
Sein zufriedenes Gesicht verdunkelte sich nur hin und wieder. Es war immer dann, wenn er an die Mordserie dachte. Wieder hatte er dieses schreckliche Bild vor Augen. Eine junge Krankenschwester lag tot am Boden. Ihr Körper war mumifiziert, als läge sie schon Jahre unbemerkt in ihrer Wohnung – und doch war erwiesen, dass diese Frau noch am Vortag in der Klinik gearbeitet hatte. In der gleichen Klinik, wie Opfer Nummer zwei – ein Küchenjunge. Im Wohnzimmer der Frau gab es deutliche Hinweise auf einen Kampf. Leider konnte die Spurensicherung keinen einzigen verwertbaren Finger- oder Fußabdruck finden. Wer auch immer in dieser Wohnung gewesen war, er hatte seine Spuren gründlich beseitigt. Miller seufzte. Er selbst war einer der Ersten, die den Tatort auf Grund eines anonymen Hinweises in Augenschein genommen hatten. Miller streckte sich und fluchte leise, als er ein plötzliches Stechen in seiner Schulter verspürte. Wahrscheinlich hatte er sich doch verletzt, als er gestern ungeschickt über die Schwelle der Wohnzimmertür des letzten Opfers gestolpert war.
*** *** ***
Mürrisch warf Ron die Waffentasche in den Kofferraum des Ford Mustang. „Und du meinst wirklich, wir müssen jetzt rauf in die Berge zu dieser Blockhütte?“
„Ich habe alle Personen überprüft, die bei den Ermittlungen dabei waren“, antwortete Jim. „Alle sind heute Morgen wohlbehalten zur Arbeit erschienen. Niemand klagte über Müdigkeit, Ohrensausen oder Rückenschmerzen, Ron! Detektiv Miller ist der einzige, den ich noch nicht überprüfen konnte, da er laut Angaben seines Chefs für einige Tage zum Fischen gefahren ist.“
„Vielleicht ist dieser Aufhocker ja auch verschwunden?“ Ron sah über seine Schulter zu Bill. „In Amelias Wohnung war er jedenfalls nicht mehr!“
Bill zog den Kopf in den Nacken und fixierte einen Punkt am Himmel. Bevor er etwas sagen konnte, hatte Jim das Wort ergriffen. „Ron! – Wir müssen der Sache nachgehen!“ Seine Augen schauten ihn drängend an.
„Ich weiß, Jim“, seufzte Ron und beugte sich in den Kofferraum. Nach einer Weile erschien sein Kopf über dem Wagendach. In der Hand hielt er einen matt glänzenden Gegenstand aus Messing mit einem Holzgriff. Als er den Arm in die Höhe hob erfüllte ein helles Läuten die Luft. Ron nahm seinen Bruder ungläubig ins Visier. „Jim! Sag mir bitte nicht, dass du mit so Etwas einen Geist jagen willst!“ Seine Brauen hoben sich: „Wenn Vater das sehen könnte, würde er uns zum Teufel jagen!“ Knurrend warf er die Glocke zurück.
Jim sah zu Boden. Seine Hände verschwanden in den Taschen seiner Jeans. „Ron, wir haben nichts anderes, um ihn abzuschrecken!“
Bill lauschte belustigt dem Gespräch der Brüder.
„Sag doch auch mal was“, fauchte Ron, nachdem sich sein Blick abermals auf den Bärtigen gerichtet hatte.
Aber der alte Jäger neigte nur den Kopf und drängte: „Können wir jetzt endlich losfahren?“
„Sag mal Jimmy – hast du eigentlich irgendeinen Plan, wie wir dieses Ding fangen sollen“, wollte Ron wissen.
„Keine Ahnung! Wir müssen versuchen, ihn einzusperren.“ Ratlos blinzelte Jim gegen die Sonne.
„Toller Plan! … Jimmy … echt toller Plan! Dummerweise habe ich mein Protonenpäckchen nicht dabei“, bellte Ron und schlug den Kofferraum zu.
Einige Minuten später bog der nachtschwarze Ford Mustang röhrend auf die Straße ein.
„Detektiv Miller?“, flüsterte Ron, als er sich durch die geöffnete Tür ins Innere der Hütte schob. Die abgesägte Schrotflinte in seiner Hand hatte er mit Steinsalzpatronen geladen. Er erhielt keine Antwort, deshalb drehte er sich kurz um. Mit einem überlegenden Zucken auf den Lippen forderte er seine Begleiter auf, ihm zu folgen. Blitzschnell huschten drei Schatten in das Haus.
Die Blicke der Jäger schweiften durch den Raum. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Eine halb geöffnete Reisetasche stand auf den Holzdielen. Das Feuer im Kamin war erloschen. Außer ihrem eigenen Atem hörten sie nichts.
Jim bemerkte als erster die Haarbüschel hinter der hohen Lehne des Polstersessels vor dem Kamin. Seine Augen trafen mahnend auf Ron. Dieser nickte kurz und bewegte sich entschlossen darauf zu. Als er um den Sessel herum war, presste sich ein Atemstoß über seine Lippen. Rons Gesichtsausdruck verriet, was er sah: Mike Miller war tot. Bill hatte augenblicklich damit begonnen, alle Fenster und die Eingangstür des Zweizimmerhäuschens zu verriegeln. Ron ließ den EMF-Scanner über die Leiche gleiten. „Er hockt jedenfalls nicht mehr auf seinen Schultern“, interpretierte er das Schweigen des Gerätes. Anschließend überprüfte er den Raum und die Küche. „Hier ist er nicht“, flüsterte Ron und näherte sich vorsichtig seinen Partnern. Jim richtete einen warnenden Blick nach oben. Eine schmale Leiter führte auf den Schlafboden, der etwa einen Drittel des Raumes einnahm. Wortlos gab der Jüngste zu verstehen, dass er hochsteigen wollte. Ron überließ ihm das EMF.
Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Jim, Sprosse für Sprosse, dem Boden. Sein Blick schweifte über grobe Holzdielen. Langsam hob er den EMF und scannte den Raum, der sich in Augenhöhe vor ihm ausbreitete.
Als der schrille Pfeifton seine Ohren betäubte, fegte bereits ein Körper über ihn hinweg. Jim schrie unter dem reißenden Schmerz, der seine Brust traf, auf. Er verlor den Halt und stürzte von der Leiter.
Heftig schüttelte Bill die Glocke. Ein Luftwirbel riss die Möbel um, als der Unsichtbare, offenbar durch das Gebimmel aufgeschreckt, den Raum durchraste. Innerhalb weniger Sekunden schien es, als hätte ein Orkan gewütet. Noch einmal hörten sie ein Fauchen. Dann fiel die Küchentür krachend ins Schloss.
„Er ist da drin“, flüsterte Bill.
Ron reagierte nicht. Er war bereits auf dem Weg zu seinem Bruder und warf sich neben ihm auf die Knie.
Jim lag stöhnend am Boden. Seine Finger verkrampften sich auf seinem rechten Brustmuskel, Blut durchtränkte die Fasern seines Hemdes.
„Versiegele die Tür mit Steinsalz!“, schrie Ron. Dann versuchte er, Jims Hand zu lösen. „Verdammt Jim, lass los!“, entwich es ihm heiser. Er zerrte am Arm des Jüngeren. Der Anblick des Blutes ließ Rons Stimme beben. „Jimmy, komm schon“, bettelte er. Aber Jims Hand wollte einfach nicht nachgeben. Benommen vom Sturz irrten seine Augen durch den Raum. Nachdem Bill das Steinsalz entlang der Küchentür gestreut hatte, eilte er zu Ron und murmelte. „Es ist eingesperrt!“
„Scheiß drauf, Bill!“, stieß Ron hervor: „Verdammt hilf mir lieber!“ Ihm war im Augenblick egal, wo sich dieser Geist herumtrieb und ob er eingesperrt war. Jims Anblick war das Einzige, was ihn in Angst und Schrecken versetzte.
Jim zog die Beine an. Er stöhnte gequält und presste seine Hand auf die Wunde.
„Er ist völlig benommen“, keuchte Ron und sah kurz zu Bill. Dann zog er mit aller Gewalt am Handgelenk seines Bruders. Bill ging in die Hocke, um dem Älteren zu helfen. „Jimmy! … JIM! Verdammt lass doch endlich los!“
Die Männer hatten Mühe Jims harten Griff zu lösen.
Als Bill endlich einen Blick auf die Verletzung werfen konnte, entwich ihm nur ein Fluchen. Er sah Ron mit aufgerissen Augen an: „Das ist verdammt übel. Ron, dein Bruder braucht einen Arzt!“ Der Bärtige schwang sich auf die Beine. „Warte hier, ich hole Verbandzeug!“ Hastig verschwand Bill aus der Tür.
Jim wurde ruhiger. Er versuchte seinen Kopf zu heben, um sich die schmerzende Stelle selbst anzusehen.
„Bleib liegen, Jimmy“, flüsterte Ron und legte seine Hand mit sanftem Druck auf die Stirn des Bruders. Stöhnend gab dieser nach und bewegte sich nicht mehr. Jims Atmung war schnell und sein Körper zitterte, als er Ron fragte: „Ist es schlimm?“
Ron sah auf die Verletzung und schluckte. Die Wunde erinnerte an den Prankenhieb eines Bären. Vier Krallen hatten sich zentimetertief durch die Haut und das darunterliegende Fleisch gepflügt. Sie hinterließen klaffende, stark blutende Gräben.
„Wir kriegen das wieder hin, Kleiner“, murmelte Ron und streichelte Jims Wange. Schweißtropfen glitzerten an seinen Schläfen. Ron wusste nicht, ob es an der Hitze lag oder ob es Angstschweiß war. Mit aller Macht versuchte er, sein Zittern zu verbergen. „Bill wird dich wieder zusammenflicken – es wird alles gut.“ Mit erstarrtem Gesicht beobachtete Ron eine Blutlache, die sich auf den Dielen immer weiter ausbreitete.
*** Fortsetzung am 17.04.13 ***