Eigentlich wollte ich nur meine Schwester besuchen. Im Gegensatz zu mir wohnte sie in dem zweieinhalbtausend Seelendorf, in welchem ich aufwuchs. Mich hatte es in die Stadt verschlagen.
Lag wohl daran, dass ich Single war. Hätte mir wohl vorstellen können mit der Liebe meines Lebens aufs Land zu ziehen, aber ohne die Liebe meines Lebens? - Nicht mein Ding. Aber ich schweife ab.
Es war bereits morgens um drei, also von der Zeit her auch für mich einigermaßen ungewöhnlich meine Schwester zu besuchen. Dennoch, - ich hatte meine Gründe. Unglücklicher Weise verlief nichts, wie es laufen sollte. Zwanzig Kilometer vor meinem Ziel erstarb der Motor meines Wagens. Alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Noch nie hatte er mich im Stich gelassen. Andererseits war er mit seinem Alter von zweiundzwanzig Jahren nicht mehr der Jüngste und irgendwann musste er wohl damit anfangen. Heute war ein ungünstiger Tag dafür. Zunächst war mir nicht ganz klar was ich unternehmen sollte. Sechzehn Kilometer zu Fuß das Tal hinauf, morgens um drei? Es war eine Sache, meine Schwester kurz zu wecken, damit sie mir öffnete, eine andere hingegen sie um diese Zeit zu bitten, in ihr Auto zu klettern und mich hier abzuholen.
Ich hatte die Musik etwas leiser gedreht um Batteriestrom zu sparen. Es lief irgendwas von Lamb.
„You are my sun“, oder so was. Ich spähte durch die Windschutzscheibe hinaus ins Dunkel. Schemenhaft konnte ich die Landstraße erkennen. Ich kannte jede verdammte Bodenwelle dieser Straße. Hier war ich aufgewachsen. Diese Straße hatte ich unzählige Male zu Fuß, per Anhalter, per Bus, per Fahrrad, mit meinem ersten Moped, meinem ersten Motorrad ... Kurz, ich kannte diese Straße. Flankiert wurde sie einerseits von einem kleinen Bach, andererseits von den Schienen einer Schmalspurbahn. In etwa fünfzig Metern Entfernung machte ich schemenhaft das Andreaskreuz aus, welches die Stelle markierte, an welcher die Schienen die Straße kreuzten.
Fuhr die alte Bahn eigentlich noch? Ich wußte es nicht. Seit fünfzehn Minuten saß ich nun hier, und kein einziges Auto hatte mich passiert. Was sollte es? Ich war gut zu Fuß, obgleich ich Fußmärsche hasste. Joggen war ok. Aber spazieren gehen? Müde schob ich die Wagentür auf. Das würde eine Weile dauern.
Während meiner ersten Schritte konnte ich ein Grinsen kaum unterdrücken. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Den letzten Bus verpasst. Handys gab es damals keine. Und die einzige Möglichkeit nach Hause zu gelangen unterschied sich nicht im gerinsten von meiner derzeitigen. Ich sog den Geruch des Landes in mich ein. Wer weiß wofür es gut ist? Das war bereits immer meine Standardfrage gewesen, wenn ich mich zu etwas gezwungen sah, das mir nicht behagte.
Ich gab mir keinerlei Mühe mich zu beeilen. Wahrscheinlich würde ich eine knappe Stunde nach Sonnenaufgang bei meiner Schwester eintreffen. Dann konnte ich sie ruhigen Gewissens wecken. Würde vielleicht vorher noch `nen Abstecher beim Bäcker machen, um die Sache abzurunden. Und bei einer schwarzen Tasse Kaffee sollte die Welt dann wieder in Ordnung sein.
Aber es sollte anders kommen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich ohnehin nichts hätte dagegen unternehmen können. Niemand hätte etwas unternehmen können. Selbst der Präsident der Vereinigten Staaten wohl nicht. Geschweige denn unsere Kanzlerin. Aber zurück zu dem Tal, durch das ich schritt. Wald säumte die Straße und das plätschern des Baches wirkte beruhigend. Längst hatte ich beschlossen meinem schnelllebigen Leben eine solche Aktion irgendwann nochmals und dann freiwillig „aufzuzwingen“. Ich begann über mein Leben nachzudenken. Mir gefiel der Abstand, aus welchem heraus ich auf mein Leben blickte. Lag wohl an dieser einzigartigen Situation.
Lautes Krächzen drang durch die Nachtluft. Raben. Ich mochte diese Tiere. Sie hatten immer etwas nachdenkliches, präsentes an sich, wenn sie einem in die Augen starrten. Dann sah ich sie. Ein riesiger Schwarm dieser Vögel flatterte schattengleich über meinen Kopf hinweg. Hatte nie so viele von ihnen in einem Schwarm gleichzeitig gesehen, viel mir ein. Aber es beunruhigte mich nicht sonderlich. Ich setzte meinen Weg fort. Mal schritt ich auf der linken, mal auf der rechten Straßenseite. Die Zeiten, in denen man sich per Anhalter fortbewegen konnte waren ohnehin vorbei. Und dann bei meinem Aussehen? Da waren die Aussichten, dass jemand hielt, denkbar unwahrscheinlich. Es störte mich nicht. Weitere Vogelschwärme überflogen mich in westlicher Richtung. Es waren viele Vögel. Und es wurden mehr. Mir drängte sich die Erinnerung an Alfred Hitchkocks Werk „die Vögel“ auf. Jedoch nur kurz. Diese Tiere machten keinerlei Anstalten an Höhe zu verlieren, geschweige denn, mich in irgendeiner Form wahrzunehmen. Ich ertappte mich dabei, unwillkürlich eiliger voranzuschreiten. Etwas stimmte nicht. Waren es nicht Vögel, die Erdbeben und Flutkatastrophen oder gar Vulkanausbrüche mit unheimlicher Sicherheit vorausahnen können? Mein Blick war nun fast stetig nach oben gerichtet. Ich hielt inne. Versuchte zu lauschen. Das Gezwitscher der Vögel beherrschte die Nacht. Sonst war nichts zu hören. Kein Boden vibrierte.
Es war für mich langsam an der Zeit meinen Wagen zu verfluchen. Welchen verdammten Zeitpunkt hatte er sich da ausgesucht das Zeitliche zu segnen? Dann doch, ein Vibrieren. Vibrieren? Eigentlich nicht. Viel mehr das Getrappel vieler Hufe. Ohne Vorwarnung brachen sie aus dem Wald heraus. Rehe. Ein Hirsch war auch dabei, aber ich war mir nicht sicher. Fast hätten sie mich umgerannt. Sie hielten sich nicht an die verdammten Regeln. Sie schienen keinerlei Angst vor mir zu haben, oder aber - , es gab etwas, das sie weit mehr fürchteten als mich. Nun sah ich auch Hasen und einige Wildschweine. Sie alle kümmerten sich nicht um mich. Weder um mich noch um einander. Irgendwas lief hier gerade furchtbar schief und ich hatte das Gefühl, mich am wohl denkbar schlechtesten Ort für dieses was auch immer platziert zu haben.
Das Wild kreuzte meinen Weg im spitzen Winkel. Während ich noch schutzsuchend hinter einem großen Baum stand und auf dieses ungewöhnliche Gebahren des Rotwilds starrte, überschlugen sich meine Gedanken. Sollte ich meine Richtung beibehalten? In mir keimte der Verdacht, dass ich, wenn ich die gleiche Richtung wie das flüchtende Wild einschlug keinesfalls schnell genug sein konnte, um dem zu entgehen, was auch immer sich näherte. Was war es?
Ich war Broaders, hatte nie Angst. - Mein Puls raste. Hier war kein guter Platz und warten würde ich hier auch nicht. Der Baum würde zwar verhindern, dass mich ein Wildschwein zu Boden riss, aber war er auch dem gewachsen, was da wohl kam?
Ich bewegte mich wieder, ging langsam, stacksig. Die Tiere wichen mir aus so gut sie konnten. Meine Augen waren weit aufgerissen. Mein Augenmerk galt eventuell heraneilenden Wildschweinen, Keilern oder gar Hirschen. Ich wollte mich keinesfalls darauf verlassen, dass diese mir auch auswichen. Verdammtes Auto. Eine Idee kam mir, während ich meinen Weg in Richtung meines Heimatdorfes fortsetzte. Vielleicht sollte ich doch zum Auto zurückkehren. Wenn schon sterben, so hatte ich schon immer den Gedanken favorisiert, dies in, oder auf meinem aktuellen Fahrzeug hinter mich zu bringen. Der nächste Gedanke war, -- albern. Broaders, du bist kein verdammtes Rotwild und auch kein Vogel Strauß der mit dem Kopf im Sand auf sein Ende wartete. Mein Ende? Ich schob mein Kinn nach vorne. Wenn diese Viecher Angst hatten, musste das nicht zwingend auch für mich gelten. Ich war ein Mensch und noch nicht einmal irgendein Mensch. Ich war Broaders.
Irgendwann konnte ich nicht mehr nachdenken. Mit der Ruhe war es gänzlich vorbei. Der Wildwechsel hatte sich längst nicht beruhigt. Im Gegenteil. Es kamen immer mehr Tiere aus dem Wald gestürmt. Die konnten doch unmöglich alle in diesem Wald leben.
Und dann sah ich es. Ein Wildschwein. Es kam geradewegs auf mich zu gerast. Viel zu schnell für meinen Geschmack, - viel zu groß. Es machte keinerlei Anstalten seinen Kurs zu korrigieren und ich machte mich auf den Versuch gefasst, irgendwie über das Tier hinweg zu springen. Es kam nicht dazu. Etwa zehn Meter vor mir brach es vor meinen Augen zusammen, überschlug sich und blieb wenige Schritte vor mir liegen. Mein Blick hetzte in alle Richtungen. Überall trappelte, knackte raschelte und rauschte es. Und immer mehr Tiere brachen zusammen. Längst hatte ich mir erneut Deckung hinter einem stabil wirkenden Baum gesucht. Das war so etwas wie eine Stampede. Überall gingen jetzt Tiere zu Boden. Manche versuchten wieder aufzustehen, brachen erneut zusammen oder wurden von nachfolgenden Tieren niedergerissen, niedergetrampelt.
Mir dämmerte es. Nein, diese Tiere stammten nicht alle aus diesem Wald. Sie mussten bereits seit einiger Zeit unterwegs sein. Nun brachen sie vor Erschöpfung zusammen. Was ließ diese Tiere laufen, bis sie tot umfielen? Ich versuchte abzuwägen wie lange wohl ein Reh fliehen konnte, bis es entkräftet zusammenbrach. Mit der Kraft der Panik vor was auch immer schafften diese Tiere bestimmt mehr als eine Marathon-Distanz.
Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Es war mehr Instinkt als ein Gedanke. Ein Drang der mich überkam. Ich löste mich von dem Baumstamm und überquerte gehetzt die Straße. Ich musste den gegenüberliegenden Berghang hoch. Es waren im Grunde keine wirklichen Berge, die dieses Tal einsäumten. Ich schätze es waren etwa vierzig bis siebzig Höhenmeter, die sie maßen. Etwas in mir machte mich Glauben, dass ich oben sicherer war, als hier unten im Tal. Ich rannte nun fasst in die gleiche Richtung wie die Tiere. Ich sprang durch den Bach holte mir nasse Füße. Mein Blick erfasste Anhäufungen von Tierkadavern. Als ich näher kam sah ich, dass viele der Tiere ungebremst in einen Weidezaun aus Stacheldraht gelaufen waren. Die meisten der Zaunpfähle lagen mittlerweile herausgerissen auf der taunassen Wiese. Ich rannte weiter. Ließ mich von der Panik der Tiere anstecken. Es war dieses Gefühl, das einen das Leben lehrte. Wenn du jetzt bummelst, vertust du die Zeit, die dir am Ende fehlt. Dazu würde ich es nicht kommen lassen. Verdammt, ich wollte eigentlich meine Schwester besuchen, durchfuhr es mich. Ein flüchtiger Gedanke. Ich hatte den Berghang erreicht. Ohne zu zögern hetzte ich den Hang hinauf. Meine Fitness war vorbildlich. Als Single achtete man auf seinen Körper und ich trieb viel Sport. Nicht das es half. Ich war im Grunde nicht hübsch und auch nicht der Frauentyp. Aber ich war stark und ich war fit. Ich gehörte zu den Typen die überlebten, wenn es denn die Starken waren, denen dies zustand. Als der halbe Berg erklommen war, wechselte ich leicht die Richtung. Das Fortkommen war hier schwierig. Der Hang war steil und es gab keinen Pfad. Ständig musste ich dem allzu dichten Dickicht ausweichen. Am Horizont setzte die Dämmerung ein.
Etwas irrsinniges geschah. Die Tiere um mich herum schienen sich ihres restlichen Verstandes zu entledigen. So man bei Tieren von Verstand sprechen mochte. Auch sie waren bergauf in diesem Dickicht nicht so schnell wie noch unten im Tal.
Etwas hatte sich verändert. Nur was?
Stolpernd, keuchend mich an Bäumen festhaltend, viel es mir schließlich auf. Die Vögel waren weg. Natürlich waren sie in der Luft schneller, als die Tiere hier unten über Land. Aber der Gedanke erwies sich schnell als irreführend. Etwas traf mich unvorbereitet an der Schulter. Ich schrie heiser auf, verlor den Halt. Mich sofort wieder an einem dünnen Baum hochziehend, erkannte ich was mich getroffen hatte. Ein Vogel. Ich erschrak. Überall lagen Vögel. Tote Vögel. Und irgend etwas war mit ihren Federn. Ich nahm mir nicht die Zeit, dies näher zu untersuchen. Ich hatte den Berg beinahe erklommen, da sah ich wie die Sonne am Horizont hervorlugte.
Aber was war das? Das war kein roter Sonnenaufgang. Nun bemerkte ich, dass auch die Dämmerung nicht mit dem üblichen orange-Tönen eingeleitet worden war. Dann spürte ich den Schmerz. Ich schrie auf und ließ mich unwillkürlich fallen. Meine Haut brannte auf der Wange. Ich sah mich gehetzt um. Was zum Teufel? Der Berghang über mir dampfte. Der Morgentau verdampfte sobald ihn die Sonne traf. Ich sprang auf, schrie wieder vor Schmerz und hastete den Hang, den ich zuvor noch erklommen hatte wieder hinab. In den Schatten. Dort wo mich die aufgehende Sonne noch nicht erreichte.
Die toten Vögel und ihr Federkleid. Sie waren verbrannt. In der Luft verbrannt. Was war mit der Sonne los? Gestern war sie doch noch in Ordnung gewesen. Panik stieg in mir auf. Die Sonne würde aufgehen. So oder so. Was also tun? Ich blickte mich im Hinablaufen um. Ein Fehler. Ich stürzte und überschlug mich. Das was ich in dem kurzen Augenblick des Umblickens jedoch wahrgenommen hatte, verschlug mir den Atem. Über mir brannte der Wald. Was war mit der verdammten Sonne los?
Meine Gedanken überschlugen sich nun. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Immer wieder stolperte ich. Der Bach viel mir ein. Ich musste mich dort hinein werfen. Das Wasser war nass und kalt. Aber das würde wohl kaum reichen. Konnte wohl schlecht im Bach liegen bleiben. Und was immer da gerade geschah, sah verdammt danach aus, dass mich ein Wasserbad da nicht unbedingt herausreißen würde. Die Sonne ging schneller auf als ich es von Sonnenaufgängen in diesem Tal in Erinnerung hatte. Aber genau hatte ich wohl nie darauf geachtet. Ich hetzte auf den Bach zu. Dann durchfuhr es mich. Diese blöde Bimmelbahn. So hatten wir diese Schmalspurbahn immer genannt, da sie ständig bimmelte. Dieses langsam fahrende Gefährt, auf das wir als Kinder immer während der Fahrt aufgesprungen waren. Ihre Schienen führten sie nicht weit von hier in einen Tunnel und anschließend über eine Brücke. Aber der Tunnel war es. Er würde meine Rettung sein. Ich rannte los, wie von Sinnen. Die Stellen auf meiner Haut, welche von den Sonnenstrahlen getroffen worden waren brannten immer noch. Und sie waren diesen Strahlen nun wirklich nur kurz ausgesetzt gewesen. Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, wie sich heuer ein Sonnenbad anfühlen mochte.
Wieder überquerte ich die Straße. Dieses Mal einige hundert Meter Tal aufwärts. Stob jäh einen Hang hinauf, und rannte die Gleise entlang auf den Tunneleingang zu. Hinein in das rettende Dunkel.
Zwei Minuten später füllte sich das Draußen mit gleißendem Licht. Es wurde warm. Unwillkürlich zog ich mich tiefer in den Tunnel zurück. Nach etwa dreißig Metern, lehnte ich mich an die schroffe Tunnelwand. Erschöpft sank ich in die Hocke. Meine Gedanken taumelten wild und ungeordnet durch meinen Kopf. Was war mir da passiert? Halt nein. Was war uns allen da gerade passiert? Und nein. Es war die verdammte Sonne. Was also war der Menschheit gerade passiert?
Während der Tunnel sich langsam aufzuheizen begann, versuchte ich die Tragweite zu erfassen. Wenn sich das nicht ändern ließ, und da es sich um die Sonne handelte, war wohl davon auszugehen, würde der Planet im beinah wörtlichen Sinne durchgebraten. Das würden selbst die sonst so resistenten Kakerlaken nicht überleben. Mein Körper begann zu schwitzen, es wurde immer wärmer. Ich schätzte die Temperatur auf etwa 30 Grad hier im Berg. Und dabei war die Sonne gerade erst aufgegangen. Ich erhob mich und zog mich noch weiter in den Berg zurück. Das half. Tiefer im Inneren trotzte der Berg noch den Temperaturen die draußen herrschten mochten. Nur war es nicht eine Frage der Zeit? Wie warm würde es wohl werden? Fünfzig Grad? Sechzig Grad? Siebzig Grad? Mehr als hundert? Das ganze Wasser würde verdunsten. Die Sonne würde kleinere Sehen durch kochen, bis alles was darin lebte ziemlich gut durch war.
Hatte die Erde ein Problem mit ihrer Umlaufbahn um die Sonne? Hat die Sonne eine Art zweite Energiestufe gezündet in ihrem Lebenszyklus? Hat es uns die Atmosphäre ...? Die Atmosphäre.
Die würde so etwas nicht lange mitmachen. Ich fragte mich, ob es nach einigen Tagen wohl noch Sauerstoff gab, denn nach einigen Tagen würde es wohl nichts mehr geben, was noch welchen erzeugen würde. Was war mit all den Menschen? Saßen sie jetzt verängstigt in ihren Kellern? Ich hoffte nicht, aber ich wusste, dass es so war.
Wo sonst sollte man hin, wenn sich morgens die Sonne durch das Küchenfenster wie ein Schneidbrenner hinein frisst. Das Problem war nur, dass die Sonne, die ich gerade gesehen hatte, es heute wohl weit über hundert Grad werden ließ. Ich saß in einem Berg. Der hielt was ab. Aber ein Keller? Ich begann mich zu fragen, ob es nun Glück war, dass ich in diesem Berg saß. Es würde warm werden und ich hatte nichts zu trinken. Möglicher Weise gab es hier und da Menschen die in ähnlichen Lagen den Tag überstanden. Aber war dadurch irgendetwas gewonnen? Was da gerade geschah, würde wohl die Atmosphäre zerstören. Ich legte mich auf den Rücken und lauschte. Meine Angst legte sich und wich einer tiefen Traurigkeit. Mit der Traurigkeit kam die Ruhe, die sich plötzlich in mir auszubreiten begann. Da war wohl nichts mehr zu machen. Gestern war noch alles in Ordnung gewesen mit der Sonne. Die Wetteraussichten für heute hätten nass, kalt sein sollen. Sogar ungewöhnlich kühl für einen Spätfrühling. Und jetzt war diese „neue“ Sonne gekommen. Niemand hatte es vorhergesehen, dass so etwas geschehen würde. Die Armageddons der menschlichen Phantasie hatten immer ein anderes Bild gezeichnet. Meist das des auf die Erde stürzenden Meteoriten. Verdammt Sonne, was hast du dir dabei nur gedacht?
Es war dunkel hier und ich konnte nichts sehen. Es war egal. Wenn es hier in Mitten des Berges fünfzig Grad werden würde, hatten es die Menschen in ihren Kellern wohl bereits hinter sich. Es würde keine Überlebenden geben. Auch die, die jetzt noch möglicher Weise in einem Bunker mit Lebensmitteln tief unter der Erde saßen. Dieser Bunker könnte sich ebenso gut auf der Sonnenseite des Planeten Venus befinden. Wie warm war es dort noch gleich, 400 Grad? Diese Bunker wären dann plötzlich so etwas wie einsame galaktische Außenposten auf einem lebensfeindlichen Planet, dessen Insassen darauf warteten, dass ihnen der Sauerstoff oder die Vorräte ausgehen. Und nichts würde das verhindern können.
Ich fragte mich, wie wohl die Leute in der Raumstation ISS die Erde sehen würden. War sie noch blau, die Erde? Färbte sie sich gerade braun? Oh -, mir viel ein, dass wenn die Sonne mit dieser Gewalt durch die Atmosphäre der Erde pflügte, dann würde auch die ISS ernste Probleme haben. - Gehabt haben.
Jeder der jetzt so wie ich irgendwo saß und noch lebte, hatte es nur noch nicht hinter sich gebracht. War eigentlich lediglich spät dran mit etwas, um das er doch nicht herum kommen würde. Je tiefer diese Erkenntnis in mein Bewusstsein drang, des ruhiger wurde ich. Darüber war ich einigermaßen verwundert. Die Panik wich einer Art Resignation. Diese Art Schicksalsergebenheit, von der ich bis dahin immer nur gehört hatte. Eigentlich entsprach es nicht meinen Plänen in der neu erstarkten Sonne zu verdampfen. Aber es gab offensichtlich keinerlei Alternativen.
Also lag ich da und dachte nach. Seltsam, ich versuchte mir vorzustellen, wie jetzt wohl mein Wagen aussah. Meine Wohnung in der Stadt. Ich vermiet es an die Menschen zu denken, die ich kannte und mochte. Es wurde heißer und mit der Hitze kam auch der Durst. Längst saß ich nur mehr im Unterhemd da. Welche Optionen hatte diese Welt noch? Jede die mir einfiel, musste ich nach kurzem Nachdenken revidieren. Es gab wohl keinen Ort, an dem ein Mensch langfristig hätte überleben können. Selbst der Mars war derzeit wohl lebensfreundlicher gesinnt. Obgleich? Er umkreiste die gleiche Sonne. Es war schwer sich vorzustellen, dass nun alles ein Ende haben würde. Keine Museen, die später von dieser Episode zeugen würden. All diese Errungenschaften der Menschheit, ob kulturell oder technisch. Nichts. Andererseits, ich hatte nie an Gott oder so etwas geglaubt. Mir gefiel die darwinsche Theorie. Dies hatte nichts mit einer höheren, intelligenten Macht zu tun. Ich musste ob dem Gedanken unwillkürlich grinsen. Was würden sie nun sagen, meine ehemaligen gottesfürchtigen Mitbürger? Ich verwarf den Gedanken. Nun war es egal, so wie alles eigentlich. Es machte keinerlei Sinn mehr, ob ich versuchte zu überleben. Ebenso wenig Sinn machte es nachzudenken. Aber es war meine einzige Beschäftigung an diesem Tag.
Es gab noch vieles, über das ich sinnierte. Dabei gefiel mir die Idee, dass es unsinnig war, manche Gedanken als wichtiger oder unwichtiger einzustufen. Sie waren im Grunde alle gleich unwichtig, egal wie wichtig sie mir in dem Augenblick, in dem sie mir kamen auch erschienen.
Irgendwann wurde es noch dunkler im Tunnel, als es ohnehin bereits war. Wahrscheinlich Einbildung. Nach einiger Zeit beschloss ich jedoch nachzusehen. Vorsichtig, und mich gleichzeitig über eben diese Vorsicht amüsierend, näherte ich mich dem Tunneleingang. Tatsächlich, es war dunkel draußen. Ich ging langsam weiter. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, unschlüssig was davon zu halten war. Der Mond war aufgegangen und schien sehr hell. Klar, wie auch sonst. Wolken gab es keine. Auch das schien klar. Die Temperatur lag gefühlt bei fast fünfzig Grad und ich schwitzte. Bis zum nächsten Ort war es nicht einmal ein Kilometer. Ich hatte Durst und beschloss nach etwas Trinkbarem zu suchen. Zunächst suchte ich den Bach auf. Wenig überrascht stellte ich fest, dass er leer war. War die Quelle versiegt? Ich machte mich auf den Weg in den nächsten Ort. Mir war klar, dass ich das, was mir dort begegnen würde eigentlich gar nicht sehen wollte. Zum einen konnte ich es mir bereits ausmalen, zum anderen sträubte sich in mir noch alles dagegen, der entgültigen Gewissheit gegenüber zu stehen.
Die Straßen des Ortes waren erwartungsgemäß verlassen. Keinerlei Getier, keinerlei Geräusche, einfach nichts. Es war windstill und sehr warm. Es war eine trockene Wärme. Die Art Wärme die einem beim Atmen den Mund trocken werden ließ. Dann sah ich den ersten Toten. Sofort waren meine Gedanken bei meinen Verwandten und Freunden. Ein tiefer Schmerz in meiner Brust ließ mich die Gedanken verdrängen. Mein Blick untersuchte den Toten, der im bleichen Schwarzweiß des Mondlichts auf dem Bürgersteig lag. Neben ihm lag ein Fahrrad mit verschmorten Reifen, das ihn als den örtlichen Briefträger auswies. Kurz hatte ich Mitleid. Dann wurde mir wieder klar, dass er das hinter sich hatte, was mir unausweichlich noch bevorstand.
Mein Weg durch den Ort führte mich an verbrannten Gebäuden vorbei. Die Stille war so still, wie ich sie nie erlebt hatte. Jedes Geräusch, das ich verursachte, erschien mir unnatürlich laut.
Ich suchte den hiesigen Supermarkt auf. Er war von Feuern offenbar weitgehend verschont worden und nicht niedergebrannt. Tatsächlich fand ich sogar einige Kunststoffwasserflaschen.
Das Wasser war sehr warm, aber es war in Ordnung. Nach kurzem Überlegen beschloss ich den ein oder anderen Hauskeller aufzusuchen. Wenn etwas unversehrtes zu finden war, dann sicherlich dort. Allerdings würde ich da auch die Leichen derer finden, die in dem dort vermeintlichen Schutz ums Leben gekommen waren. Es waren die älteren Häuser, die den Wetterumschwung am besten überstanden hatten. Jene Gebäude, die vor hundert Jahren aus Bruchstein für die Ewigkeit erbaut worden waren. Aber wie ich es erwartet hatte, fand ich dort auch in der Tat die meisten Leichen in den Kellern. Ich vermiet es mir diese Toten näher anzuschauen, zeigten sie mir doch, wie ich demnächst aussehen würde, wie mein Schicksal unweigerlich verlaufen sollte.
Im Rathaus dann, fand ich auf einem Schreibtisch, zwei Etagen unter der Erde einen Schreibblock. Die Kugelschreiber waren allesamt ausgetrocknet, aber es gab auch Bleistifte.
Mir kam der Gedanke ein kurzes Tagebuch zu schreiben. Eines, das nur von diesem einen Tag handelte. Eines, das nicht von meinem Leben davor berichtete, da sich mir der Sinn dessen nicht mehr erschloss. Ich nahm mir den Block und einige der Bleistifte und stieg hinauf in eines der oberen Stockwerke. Ein alter massiver Holzschreibtisch hatte dem Wetterumschwung gleich dem Gebäude in dem er stand getrotzt. Nicht das man noch hätte einen guten Preis für ihn erzielen können. Aber er war noch zu dem zu gebrauchen zu dem er gedacht war. Die Stühle waren brüchig, doch eine massive Holzbank im Flur schien mein Gewicht noch zu tragen. Also trug ich die Bank ins Zimmer, setzte mich an den Schreibtisch, blickte kurz hinaus ins Mondlicht und begann diese Zeilen zu schreiben.
Jetzt da ich damit fertig bin, kann ich nur noch sagen was ich tun werde.
Diesen Block werde ich im inneren des Tunnels ablegen, auf das ihn wahrscheinlich sowieso niemand finden wird. Aber das mit der Sinnlosigkeit hatte ich ja bereits angesprochen. Dann werde ich auf den Berg steigen und auf den Sonnenaufgang warten. Einen letzten will ich mir nämlich noch gerne anschauen.