Sonntag. Nur weiß. Endloses weiß, in dem nicht abzuschätzen ist, wie hoch wir fliegen. Nicht mit dem Auge, dessen Muskeln schmerzhaft verkrampfen, wegen dem Licht das in sie eindringt und die Grundlage für eine, sich langsam und qualvoll ausbreitende Migräne legt. Drei Tage. Nur drei Tage darf alles dauern. Dann fliegt das letzte Flugzeug zurück und die Stadt und Stützpunkt 2, versinken in einer einmonatigen polaren Nacht. Die längste Nacht des Jahres. Der Anfang eines Albtraum geplagten Winterschlafes. Du hast drei Tage, um alle Formalitäten zu klären. Dann musst du mit, oder ohne Leichnam, die Stadt verlassen. Der Leichnam? Mehr ist er nicht? Nicht dein Bruder, sondern ein stumpfer Gegenstand. Er WAR mein Bruder. Jetzt ist er tot. Eine Hülle ohne Inhalt, umgeben von ewigem Nichts. Denke ich das wirklich? Ich will es mir einreden, doch schon allein die Tatsache, dass ich in diesem Flugzeug sitze, ist Gegenbeweis genug. Hier soll er nicht verenden. Hier wo es zu kalt ist, dass Würmer seinen Körper fressen können. Hier wo es so kalt ist, dass man manchmal meint, sogar die Zeit wäre festgefroren. Ich schaff ihn weg. An einen Ort, wo auf jede Nacht ein Tag folgt. Der Druckunterschied auf meinen Ohren, verrät mir, dass wir landen. Beim Blick aus dem Fenster, erkenne ich die immer größeren Umrisse der Stadt. Ein bisschen außerhalb liegt Stützpunkt 2, an dessen Militärischem Stützpunkt wir landen werden. Heimatgefühle bleiben aus. Ich will weg, bevor ich den Boden berührt habe. Die Stadt sieht verlassen aus. Eine Geisterstadt, nur noch von Erinnerungen bewohnt. Eine Geisterstadt war sie schon immer, doch früher lebten hier auch Kinder und es gab eine Schule. Jetzt gibt es keine Kinder mehr und die Schule wurde schon lange geschlossen. Die Stadt bietet niemandem mehr Obdach, außer den letzten Resten einer aussterbenden Gemeinde und den Mitarbeitern von Stützpunkt 2. Früher waren in der Polarnacht, die Selbstmordraten so hoch wie nirgendwo sonst. Wenn du keine Sonne siehst, wirst du depressiv. Eine ganze Stadt, deren Frühstück, Mittag- und Abendessen aus Antidepressiva besteht. Jetzt sind die Selbstmordraten nicht mehr so hoch, die Schwachen wurden aussortiert, es ist niemand mehr übrig, der sich noch umbringen kann. Die meisten Bewohner sind alt. Nicht alt an Jahren, doch mit aufgebrauchter Lebenskraft. Innerlich alt. Zu alt um wegzugehen. Sie haben sich mit der Dunkelheit arrangiert. Zu alt, um Kinder zu zeugen, deswegen wird dieser Ort aussterben. Aber niemand wird deswegen weinen. Wer abhaut, kommt nie zurück. Mein Bruder ist nicht abgehauen, doch er hat es auch nicht geschafft, sich mit der Dunkelheit zu arrangieren. Am Ende hat sie ihn aufgefressen. Wer abhaut kommt nie mehr zurück, niemand außer ihr. Sie hat mich angerufen, als mein Bruder gestorben ist. Irgendwie hat sie mich ausfindig gemacht und jetzt komme ich auch hier her zurück. Ich lande dem Flughafen, in einer Stadt, die keinen Namen hat. Außer vielleicht, „die Stadt bei Stützpunkt 2“. Als wir weggingen, habe ich sie aus den Augen verloren. Sie wollte Medizin studieren. Erst am Telefon habe ich erfahren, dass sie wieder zurückgegangen ist. „Ich bin wieder in der Stadt und leite die Krankenstation von Stützpunkt 2.“ Wieso ist sie zurückgegangen? Sie hat dir damals das Leben gerettet. Das wunderschönste Mädchen, das du jemals gesehen hast. Sie geleuchtet, in der Dunkelheit von Stützpunkt 2. Ohne dieses Licht, wärst du jetzt genau so tot wie er. Wieso ist sie zurück ans Ende der Welt? Sie holt mich vom Flughafen ab. Auch wenn ich sie seit Jahren nicht gesehen habe, ist sie immer noch, fast genau so schön wie früher. Sie hat nicht zugenommen, ist schlank geblieben. Man sieht es sogar trotz des wärmenden Parkas. Ihr Haar hat über die Jahre ein paar graue Strähnen bekommen. Nur wegen der Zeit, oder ist die Einsamkeit hier draußen, daran schuld? Die blauen Augen in ihrem Gesicht, besitzen noch etwas vom alten Glanz. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll und bringe nur ein schwaches „Hallo“ zustande. Dann steigen wir in ihr Auto. Obwohl sie Schneeketten hat und die Straße zum Flughafen, seit meiner Kindheit, täglich freigeräumt wird, fährt sie langsam. Fast schleichend. Es sieht so aus, als wolle sie etwas sagen, als wüsste sie auch was, aber ohne die richtigen Worte zu finden. Schließlich sagt sie: „Du solltest morgen erst zum Krankenhaus fahren. Das wird viel Arbeit und Papierkram. Es ist besser, wenn du dabei ausgeschlafen bist. Heute schaffst du sowieso nicht mehr alles. Ich fahre dich jetzt zum Haus, deines Bruders. Da ist genug Platz und du hast deine Ruhe.“ Dann zuckt sie zusammen und ich glaube, sie denkt darüber nach, ob das was sie gesagt hat taktlos war. „Tut mir leid. Ich wollte nicht so grob sein.“ sagt sie mit traurigem Blick. „Ich habe immer noch nicht ganz verarbeitet, dass er tot ist. Ich versuche die Trauer so gut es geht auszusperren.“ erklärt sie. „Ist schon in Ordnung. Ich hatte seit Jahren keinen Kontakt zu ihm.“ „Ich weiß.“ sagt sie, ohne Lächeln. Wir halten vor dem Haus meines Bruders. Es ist genau so trostlos, wie alle Häuser hier. Aber am Nordpol, kommt eben niemand auf die Idee, sich einen Vorgarten anzulegen. „Brauchst du noch irgendetwas?“ fragt sie, nachdem sie mir die Schlüssel gegeben hat. „Ich bin da drin wahrscheinlich Orientierungslos. Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du mir das Haus zeigen.“ Sie sieht mich für einen Moment fragend an, dann wird ihr bewusst, dass ich dieses Haus noch nie betreten habe. „Natürlich kann ich das. Wäre ziemlich unhöflich, dich ohne Hilfe alleinzulassen.“ fast, aber nur fast grinst sie. Im Hausflur ist es Stockdunkel, dort ist die polare Nacht schon angekommen. Wir hängen unsere Jacken an einen Kleiderständer in der Finsternis. „Gehen wir erst mal in die Küche und ich mache uns Kaffee, gegen die Kälte.“ Als wir aus der Dunkelheit des Flures, in die Küche treten, sehe ich sie zum ersten Mal ohne den wärmenden Parka. Sie ist wirklich schlank und auch wenn ihr Pullover mehr praktischen, als ästhetischen Nutzen erfüllt, kann er nicht vollständig die perfekte Form ihrer Brüste verbergen. Sie füllt den Wasserkocher, der neben dem Herd steht. Anscheinend kennt sie sich hier gut aus, denn sie muss nicht suchen, um Kaffeepulver und Filter zu finden. Wo die Tassen sind weiß sie auch und nimmt zwei aus dem Schrank, um sie zu füllen, als der Kaffee fertig ist. „Bad und Schlafzimmer sind oben. Ich zeige dir jetzt noch, wo du saubere Bettwäsche findest.“ „Ich denke, ich schlafe heute im Wohnzimmer. Auf der Couch, falls es hier so etwas gibt.“ Ich kann mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, im Bett meines toten Bruders zu schlafen. Sie führt mich ins Wohnzimmer und wir machen das Sofa zu einem so bequemen Nachtlager, wie möglich. Wir sind mit allem fertig, alle Formalitäten sind erledigt. Wenn sie ihre Rolle weiterspielen will, muss sie jetzt gehen. Doch sie zögert, denn irgendetwas nagt anscheinend immer noch an ihr. Je länger sie zögert, umso unangenehmer wird das Schweigen. Schließlich bricht sie es. „Versteh das jetzt nicht falsch. Ich freue mich dich wiederzusehen, auch wenn ich mir einen anderen Grund dafür gewünscht hätte.“ Ich nehme ihre Hand und lege all mein Vertrauen und meine Zuneigung in diese Berührung. Ihre Unsicherheit verschwindet. Stumm beugt sie ihre Knie und greift nach den Knöpfen meiner Hose, um sie zu öffnen. Die Einsamkeit, die Verlorenheit hier draußen und die Angst vor der Dunkelheit, nur deswegen ist es so einfach. Sie nimmt meinen Penis in die Hand, die warm ist. Nicht kalt geworden, wie alles andere in dieser Gottverlassenen Stadt. Sie bewegt ihre Hand langsam und sanft, auf und ab. Alte Erinnerungen kehren zurück, an Nächte, in denen wir Stützpunkt 2 weit hinter uns gelassen haben. Als ich eine Erektion kriege, sieht sie mich an und lächelt. Der alte Glanz ist vollständig in ihre Augen zurückgekehrt. Es ist Jahre her, doch obwohl diese Situation so unwirklich und unmöglich scheint, fast schon wie ein Traum, hat sie alle Unsicherheit abgelegt und lächelt. Sie lächelt, aber hört für keine Sekunde auf, meinen steifen Penis zu massieren. Dann schließt sie ihre Lippen um den Schaft und saugt vorsichtig daran, während ich ihre Zunge an meiner Eichel spüre und ihre linke Hand, ohne zu starken Druck, meine Hoden hält. Das macht sie solange, bis ich komme. Dann läuft sie in die Küche und spuckt meinen Samen ins Waschbecken. Ich kann den Wasserhahn hören. Die Realität holt mich wieder ein und ich frage mich, was ich hier mache. Ich bin doch gekommen, um den Leichnam meines toten Bruders, von hier wegzuschaffen, nicht um mir von meiner alten Freundin einen Blasen zu lassen. Ich muss wieder daran denken, wie schnell sie den Kaffee gefunden hat und frage mich, wie oft sie wohl mit meinem Bruder geschlafen hat. Hat sie es so geschafft, der Dunkelheit zu entgehen? Für ihn hat es nicht gereicht. Als sie zurückkommt, hat sie es sehr eilig zu verschwinden. Sie steht in der Tür und zieht ihren Parka an. Sie kommt nicht näher. Berührt mich nicht. „Ich hol dich morgen ab und fahre dich zum Krankenhaus.“ Dann ist sie verschwunden. Ich höre den Motor, als sie losfährt und lausche stumm. Dann bleiben nur noch meine Stille und das Summen des elektrischen Lichts.
Montag. Die Leiche meines Bruders liegt vor mir, im kalten Licht. Was immer ich erwartet habe, die Realität sieht anders aus. Ich hatte meinen Bruder als sportlichen, braunhaarigen Menschen, mit einem rosigen Hautton in Erinnerung. Doch vor mir liegt ein ergrauter, bleicher Kadaver, der zu Lebzeiten durch die Antidepressiva dick und rund geworden ist. Um seinen Hals liegt ein Ring, aus lila-blauer, aufgescheuerter Haut und lässt niemanden vergessen, dass der Strick gehalten hat. Ich nicke dem Arzt zu und er schiebt meinen Bruder zurück in das Kühlfach. Es ist Abend, als ich den Papierkram erledigt habe. Als sie mich heute Morgen abgeholt hat, verlor sie kein Wort darüber was gestern passiert ist. Während sie mich jetzt heimfährt, schweigt sie auch dazu. Ich sehe in ihren Augen, dass sie versucht es zu vergessen und ich habe nicht das Selbstbewusstsein und den Mut, ihren Widerstand zu brechen. Sie redet darüber, dass sie meinen Bruder jetzt zum Stützpunkt bringen, dass sie seinen Sarg zu dem restlichen Gepäck und der Post, in das Flugzeug laden, mit dem ich morgenfrüh zurückfliegen werde. Sie erzählt mir alles, was ich schon weiß, weil ich es den ganzen Tag organisiert habe. Sie weiß, dass ich es weiß. Doch alles ist besser als Schweigen. Sie setzt mich am Haus ab und bevor sie verschwindet, verspricht sie mir, mich am nächsten Morgen zum Flughafen zu fahren. Das Haus ist bedrückend leer und überall hört man das Summen des Lichtes. Ziellos laufe ich umher, weil ich nicht müde genug bin, um zu schlafen. Schließlich beschließe ich, mir doch einmal das Zimmer meines Bruders anzusehen, bevor ich gehe. Die Treppe ächzt unter jedem meiner Schritte. Das Zimmer, welches ich betrete, ist genauso trostlos wie der Rest des Hauses. Wegen dem Dach verlaufen die Wände nach oben hin, schräg zusammen. Hat er sich hier aufgehängt? Ich brauche eine Ewigkeit, um meinen Blick abzuwenden und in jeder Sekunde davon, wird mir übler. Schließlich schaffe ich es doch und mein Blick fällt auf die Kommode. Dort steht eine eingerahmte Fotografie, die uns zu dritt zeigt. Mich, ihn und sie. Hat er sie beim Sterben auch angesehen und gesehen, dass sie sich am besten gehalten hat und er am schlechtesten? Was müssen das für Sekunden gewesen sein? Ich starre auf die Fotografie und versuche die Erinnerung, an den fetten fleischigen Sack voll Knochen, den ich heute im Krankenhaus hab einpacken lassen, zu vergessen und wieder zu ersetzen. So sehr ich mich anstrenge, es gelingt mir nicht, also gehe ich die knarrende Treppe wieder nach unten. Im Wohnzimmer muss ich wieder an sie denken. Ich lege mich aufs Sofa und fange an zu onanieren. Meine alten Erinnerungen an sie sind verschwommen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie sich die Haut zwischen ihren Schenkeln angefühlt hat, an ihren Geruch und daran, in welchem Rhythmus der Puls unter ihrer Brust geschlagen hat. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als an die Wärme ihres Mundes zu denken, mir den sanften Griff ihrer Lippen vorzustellen, sowie das grobe Bild ihrer Brüste unter der Wolle des Pullovers. Kurz bevor ich ejakuliere, denke ich an ihr Lächeln, das heute unsichtbar war. Das die Nacht nicht überlebt hat. Während mein Penis in meiner Hand erschlafft, überkommt mich eine unglaubliche Leere. Ich spüre, dass Tränen über mein Gesicht laufen, bis zu meinem Mund. Mit ihrem salzigen Geschmack auf den Lippen, schlafe ich irgendwann ein.
Dienstag. Heute wird die Sonne untergehen und nicht mehr scheinen, bis zum Ende der Polarnacht. Diesmal fällt ihr kein Gesprächsthema ein und als wir zum Stützpunkt fahren, ist die Stille grausam und unangenehm. Wir sind da. Minuten vergehen. Wir sitzen im Auto, jeder hoffend, dass der andere das Schweigen bricht. Dann will ich aussteigen, doch sie packt mich am Arm, sagt kein Wort, aber sieht mich flehend an. „Bleib hier. Es ist nur ein Monat, dann ist die Dunkelheit fort.“ Das sagen mir ihre Augen, auch wenn ihr Mund schweigt. Auf einmal wird mir etwas schmerzhaft bewusst. Wenn ich jetzt bleibe, dann gehört sie mir. Dann werde ich noch heute die Wärme zwischen ihren Schenkeln wiederentdecken, ihren Geruch einatmen und ihr Herz, zwischen ihren Brüsten schlagen hören. Nichts wünsche ich mir sehnlicher, doch ich habe Angst, dass die Dunkelheit nicht geht. Meinen Bruder hat sie nie verlassen, ist in ihn eingedrungen. Sie hat sich dort vor der Sonne versteckt und ist erst wieder gegangen, als der Strick um seinen Hals sich zuzog. Immer wieder muss ich an den violetten Ring, den ich dort gesehen habe denken, während sie meinen Arm hält. Ist das der Preis, den man über kurz oder lang für ein Leben beim Stützpunkt zahlt? Ich will ihn nicht zahlen.
Die Stadt und der Stützpunkt werden immer kleiner. Sie bleiben zurück, um im polaren Winter zu versinken. Je höher ich steige, je näher ich der Sonne komme, umso mehr löst sich der Schatten, der auf mir liegt. Es ist verrückt, aber ich weiß jetzt, wieso sie zurückgekehrt ist, wieso sie bleibt, wieso wir uns aus den Augen verloren haben und wieso wir es wieder tun werden. Ihr Licht ist nur dazu bestimmt, in der Dunkelheit von Stützpunkt 2 zu strahlen. Unter der Sonne ist es unsichtbar. Das weiß sie und deswegen folgt sie mir auch nicht. Sie kann sich noch erinnern, wie schnell sie ihren Glanz verloren hat, als wir damals weggegangen sind. Ich musste erst wieder daran erinnert werden. Im Gegensatz zu mir, kann sie hier draußen überleben. Die Dunkelheit kann ihr nichts tun und das ist gut. Vielleicht braucht jeder dunkle Ort ein Licht. Sie ist das Licht von Stützpunkt 2.