Ein Mädchen wird ermordet aufgefunden.Kurz danach verschwindet ein weiteres Mädchen.Es scheint einen Zusammenhang zu geben.Für die Berliner Mordkommission um Nicolas Abenstern beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und für Sophia Lauer und ihre Familie ein wahrer Albtraum.
Der Sommer, der vergeht, ist wie ein Freund, der uns Lebewohl sagt-Victor Hugo
Es war ein schöner Sommertag im Juni. Die Luft flirrte und die ansteigenden Temperaturen würden wohl am Vormittag die 30 Gradmarke knacken. Fröhlich vor sich hin pfeifend radelten Sophia Lauer und ihre Freundin Milena Gerken am Spreeufer entlang. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf der Wasseroberfläche und ein paar Enten zogen sich in den schattenspendenden Schutz der Bäume zurück. "Scheiße, es ist schon fünf vor acht! Madame Gebauer trägt uns bestimmt wieder mit einer abfälligen Bemerkung ins Klassenbuch ein. " "Vous avez eu un comportement pas possible", äffte Sophia ihre Französischlehrerin nach
und die beiden Mädchen prusteten los. "Wer zuletzt am Fahrradständer angekommen ist, gibt nachher ein Eis aus", rief sie ihrer Freundin zu und trat dabei kräftig in die Pedale ihres roten Hollandrades. Durch das Tanzen, was ihre große Leidenschaft war, hatte sie sich ordentlich Kraft und Muskeln aufgebaut, sodass sie wenige Meter vor Milena auf dem Fahrradparkplatz des Heinrich von Kleist Gymnasiums ankam. "Gewonnen!", schrie sie und reckte ihre zierlichen Arme in die Luft. "Jaja, ich bezahl dir schon deinen geliebten Amarenabecher", Milena zog eine Schnute, warf sich ihren buntgestreiften Rucksack über die Schulter und steuerte die Eingangstür des roten Backsteingebäudes an. Die Gänge waren
leergefegt, nur die Stimmen der Lehrer drangen aus den Klassenräumen. Raum 123, wo sie immer Französisch hatten, lag im Ostflügel und wies schon zu so früher Morgenstunde eine unerträgliche Hitze und Schwüle auf. Es hatte seit drei Wochen nicht mehr geregnet und die Bauern waren am klagen, dass ihre Ernte vertrocknen würde. Sophia klopfte an die grün gestrichene Tür. "Entrez!", sagte eine beherrschte Stimme und die zwei Mädchen öffneten vorsichtig die Tür. Mit einem schuldbewussten "Pardon" und gesenkten Köpfen, huschten sie auf ihre jeweiligen Plätze. Sophia setzte sich neben ihre beste Freundin Selena, die konzentriert in das Lesen eines Textes vertieft war. Indessen trug Frau Gebauer die beiden
Zuspätkommer in das Klassenbuch ein und ließ auch eine entsprechende Bemerkung nicht weg. Selena wandte sich von ihrem Text ab und schaute ihre blondhaarige Freundin, die immer zwei Zöpfe trug, an. Auch an heißen Sommertagen trug Selena ihren geliebten roten Schal und legte ihn erst ab, wenn jemand sie gezielt darauf ansprach. Die beiden kannten sich schon seit Grundschultagen und waren seitdem unzertrennlich. Ab der 5. Klasse gehörte dann auch Milena zu der Mädchenclique. "Könnt ihr nicht einmal pünktlich sein?", fragte Selena und schwenkte ihren Bleistift hin und her. Ihre braunen Augen, die aus dem rundlichen Gesicht hervorstachen, fixierten ihre Sitznachbarin. "Du weißt doch,
Julia lässt mich ungern gehen", antwortete diese und musste bei dem Gedanken an ihre kleine Schwester lächeln. Julia war sieben Jahre alt und ging in die zweite Klasse. Seit diesem Jahr fuhr sie immer mit Sophia und Milena, die sie sicher zur Schule brachten. Hin und wieder war es aber ziemlich anstrengend, die Kleine davon zu überzeugen, das Schulgelände zu betreten. So war es auch heute wieder gewesen. "Vielleicht sollten wir einfach früher los fahren", dachte Sophia und packte ihre Unterrichtsmaterialien aus. Die restliche Zeit der Unterrichtsstunde wurde sie mit Missachtung von Frau Gebauer gestraft und war froh, als das Pausenläuten sie endlich erlöste. "Du musst aufpassen, dass sie dir
nicht wieder eine 5 im Zeugnis gibt", sagte Selena beim Hinausgehen und versicherte sich mit einem Blick nach hinten, dass Frau Gebauer außer Hörweite war. Eigentlich war Sophia eine gute Schülerin, die ohne größere Probleme in die 10. Klasse gekommen war. Dennoch wünschten sich ihre Eltern mehr von ihr. Thomas Lauer saß im Vorstand der Koehr AG, die sich auf Wirtschaftsprüfung und Beratung sämtlicher Firmen Europas spezialisiert hatte. Auch ihre Mutter verdiente als selbstständige Rechtsanwältin nicht schlecht. Die Eltern ermöglichten ihren Töchtern ein wohlhabendes und sorgenfreies Leben. Mit Sophias Traumberuf als Tänzerin über die Bühnen der weiten Welt zu schweben,
konnten sie sich nicht identifizieren. "Das ist brotlose Kunst. Mach was Vernünftiges", prägte ihr Vater ihr ständig ein. "Wartet ihr kurz auf mich? Ich muss kurz mein Makeup checken", entschuldigte Milena sich und bog in das Mädchenklo ein. Die feuchte Luft machte ihrem dicken Kajalstrich zu schaffen. Seit sie mit André Yilmaz aus der Oberstufe zusammen war, achtete sie nur umso mehr auf ihr Styling. "Die hat Probleme", unterstrich Selena Sophias Gedanken. Immer mehr Schüler drangen aus den Türen nach draußen auf den Schulhof. "Die Schattenplätze sind bestimmt schon alle weg", jammerte Sophia und kramte ihre riesige Sonnenbrille aus der Schultasche. Die WC-Tür ging wieder auf und Milena
erschien frisch aufgestylt. "Ein Glück haben wir nur noch zwei Stunden. Ist ja kaum auszuhalten bei diesem Wetter", warf Sophia ein als die drei über den Pausenhof schlenderten. "Nachher wieder Treffen bei Luca Luca? Wir müssen uns schließlich eine Abkühlung gönnen und was fürs Wochenende planen!", schlug Selena vor und ihre zwei Freundinnen stimmten zu. "Da hinten ist André, ich geh mal kurz rüber und frag, ob er auch mitkommt", leichten Fußes schritt Milena in ihren blauen Ballerinas auf die Jungsecke zu. "Der Typ nimmt sie doch ganz für sich ein und sie merkt das nicht mal", kommentierte Selena gereizt die Szene und erntete ein "Mhm" von Sophia. Diese fand André eigentlich ganz nett. Er besuchte
zusammen mit ihr die Tanz AG am Dienstagnachmittag und gab ihr manchmal hilfreiche Tipps. Die restlichen zwei Stunden verstrichen qualvoll langsam und die Luft staute sich in den Klassenzimmern auf und drückte gegen die Türen, um endlich raus gelassen zu werden. Um 14 Uhr trafen Selena und Sophia bei Luca Luca ein und setzten sich auf die freien Plastikstühle, die unter einem gelben Sonnenschirm Platz gefunden hatten. "Ich studier ma das Angebot, du weißt ja bereits, was du nimmst", sagte Selena und setzte sich die schwarze Ray Ban auf ihre braunen Haare, die von einem Dutt zusammengehalten wurden. Ein wenig später, erschien auch Milena, die André auf ihrem Gepäckträger
mittransportierte. "Die zwei Turteltauben sind da. Echt zu peinlich", missmutig lugte Selena über die Eiskarte. Die vier bestellten pompöse Becher und ließen sich die Abkühlung schmecken. Für das bevorstehende Wochenende planten sie einen Ausflug ins Strandbad Wannsee. Am späten Nachmittag trennten sich ihre Wege. Da Milena noch mit zu André ging, fuhr Sophia alleine nach Hause. Sie genoss die kühle Fahrtluft, die ihr entgegen blies und stellte erfreut fest, dass ihre sonst so bleichen Arme etwas braune Farbe angenommen hatten. Die Lauers lebten in einer Altbauvilla in der Händelallee, zu der versteckt zwischen einer Reihe grüner Birken, ein Kopfsteinpflasterweg führte.
Anstatt das Haus zu betreten, ging Sophia zu dem verwunschenen Gartenhaus, nachdem sie ihr Fahrrad in der Garage abgestellt hatte. Das Cabrio ihrer Mutter war noch nicht da, was bedeutete, dass sie die Einzige zu Hause war. Das Häuschen im Grünen lud mit seinen großzügigen Sprossenfenstern zum Verweilen ein. Ihr Vater hatte Sophias Lieblingsplatz vor drei Jahren in den parkähnlichen Garten bauen lassen. Auf den Fensterbänken tummelten sich zahlreiche Pelargonien, die ihre Köpfe der Sonne entgegenstreckten. Sophia machte es sich auf einer Holzbank bequem, stöpselte die Kopfhörer ihres iPods ins Ohr und lauschte den ruhigen Klängen der englischen Sängerin Kyla La Grange. "And I saw you
choke as the last bridge broke. And our fingers waved goodbye", summte Sophia und machte sich an die Hausaufgaben. Frau Gebauer hatte nicht an Aufgaben gespart und so merkte sie nicht, wie schnell die Zeit verging. Die dämmernden Sonnenstrahlen warfen dunkle Lichtflecken durch das Glasdach auf den Ziegelboden. Staubkörner begannen in der Luft zu tanzen, so als wollten sie Sophia einladen sich ihnen anzuschließen. Es klopfte wild an der Tür und sie ließ vor Schreck ihren iPod fallen. "Mami und ich sind zurück. Darf ich reinkommen?" fragte eine Kinderstimme und ließ Sophias eben noch angespanntes Herz liebevoll im gewohnten Rhythmus weiterschlagen. Noch ahnte sie nicht, dass sie
diese Gewohnheit bald verlieren sollte.
"Riemen lang!", rief Carsten Wenz, spannte seine Muskeln an und drückte mit aller Kraft die Blätter seines Ruders aus dem Wasser der Spree. Sachte glitt das Boot über die sanften Wogen des Flusses. Nicolas Abendstern hatte sich an seinem freien Tag entschlossen, seinen alten Freund Carsten, den er seit der Internatszeit kannte, im Landesruderverband Berlin zu besuchen. Schon früher waren sie ein unschlagbares Team bei zahlreichen Regatten gewesen. Sie ruderten in der C-Bootsklasse ohne Steuermann, was die technisch anspruchsvollste Disziplin war. Auch Nicolas legte all seine Konzentration in den gleichmäßigen Schlagabtausch, sodass das Boot auf einer Linie über das Wasser schwebte. Er genoss das schöne Sommerwetter und die Ruhe abseits vom pulsierenden Stadtleben. Die stickige Hitze schien ebenfalls zwischen den Hochhäusern zurückgeblieben zu sein. "Sir Matthew Pinset wäre stolz auf uns, wenn er das hier sehen könnte", sagte Carsten und grinste. Seine weißen Zähne bildeten eine starken Kontrast zu den schwarzen Haaren und der dunklen Bräune seiner Haut. "Da hast du recht, das wäre er ganz sicher", antwortete Nicolas und war froh, endlich einmal die anstrengende Arbeit bei der Berliner Mordkommission für wenige Stunden zu vergessen. Carsten arbeitete seit einigen Jahren beim Verein als Ruderlehrer für die Jugendmannschaften und hatte seinen Bootspartner überzeugt, wieder die Riemen anzulegen. Im Gegensatz zu ihm, war er der Sportart sein Leben lang treu geblieben. Das Boot passierte eine Engstelle, die die zwei aber gekonnt durchfuhren und kam anschließend inmitten eines Seerosenteppichs zum Stehen. "Na toll! Hoffentlich kommen wir hier nachher wieder raus", sagte Nicolas und kaute auf seiner Unterlippe, eine Gewohnheit, die er wohl nie ablegen würde. "Denk doch mal optimistisch. Hier sitzen die ehemals größten Ruderhoffnungen in einem Boot. Das wird kein Problem für uns sein", Carsten packte ein paar belegte Sandwiches aus einer Plastikbrotdose aus. Schweigend aßen die zwei ihre Verstärkung und genossen die Strahlen der Sonne, die von den vielen Bäumen soweit abgeschirmt wurden, dass sie nicht mehr so im Gesicht blendeten. "Und heute ist also dein großer Tag, Kriminaloberkommissar Nicolas Abendstern. Nicht schlecht, nicht schlecht", unterbrach Carstens Stimme die Stille über dem Fluss. Nicolas war in seiner kurzen Zeit in Berlin auf Grund der guten Leistungen einen Dienstgrad aufgestiegen. "Danke, aber deine überhebliche Geste kannst du dir ruhig sparen", sagte er und musste lachen. Gegen Ende des Nachmittags kamen die beiden sichtlich erschöpft wieder an den Anlegestellen an. "Das müssen wir öfter machen", sagte Carsten und klopfte seinem Freund auf die Schulter. "Du hast wirklich nichts verlernt. Nach den vielen Deppen mit denen ich Rudern musste, war das heute eine würdige Tour." "Freut mich, dass du das so siehst. Sobald ich wieder Zeit finde, komme ich dich hier besuchen", versprach Nicolas und stieg in seinen roten Oldtimer mit dem Namen Jessica. Mit offenem Fenster fuhr er die Hauptstraßen entlang. Durch die ersten Häuserblöcke, die in Sicht kamen, strömte auch die Hitze zurück in das Auto. Selbst der Fahrtwind konnte nicht verhindern, dass Nicolas Polohemd an seinem Rücken festklebte. In seiner Wohnung angekommen, gönnte er sich eine kühle Dusche und suchte sich aus seinem Kleiderschrank, den teuersten Anzug den er besaß. "Bei der Hitze eigentlich nicht das Richtige", dachte Nicolas, als er in die dicke Hose schlüpfte. Große Lust hatte er auf die Feierlichkeiten am Abend nicht. Zu viel Rummel um seine Person war ihm schon immer zuwider gewesen. Seufzend verteilte er eine Handvoll Haargel in seinen blonden Stoppelhaaren. Gegen 18:00 Uhr machte er sich allmählich auf den Weg. Treffpunkt war das 5-Sterne Restaurant Brechts. Der Schiffbauerdamm, wo das große Gebäude stand, befand sich in einer abgeschiedenen Gegend direkt am Ufer der Spree. "Schön euch wiederzusehen", sagte Nicolas zu den in der Dämmerung leicht goldenen Wellen des Flusses, auf dem er heute seine Runden gedreht hatte. Ellies Geländewagen parkte schon auf dem großen Sandplatz und sie erschien in der breiten Eichentür. Nicolas pfiff beeindruckt durch die Zähne. Auf den ersten Blick war seine Kollegin, die im Alltag immer recht sportlich gekleidet war, kaum wiederzuerkennen. Zu ihrem offenen blonden Haar, trug sie ein bodenlanges rotes Bandeau-Kleid und schwarze Pumps. "Du siehst super aus", begrüßte Nicolas sie. "Du aber auch. Formell gekleidet, wie immer". Seine Kollegen hatten einen Tisch auf der Spreeterrasse reserviert. Diese lud in lauen Sommernächten, wie dieser zum Verweilen ein. Neben Ellie waren auch Doktor Baumert aus der Rechtsmedizin und der Japaner im Smoking erschienen. Lediglich Nicolas Vorgesetzter Herr Laumann hatte mal wieder tief in den Farbtopf gegriffen. Er trug ein altmodisches Langarmhemd mit weißen Blütenköpfen auf der Rückseite, die grell von dem dunkelblauen Grund hervorstachen. Als Ehrengast und Übergeber der Auszeichnung war Staatsanwalt Professor Richard Fürst eingeladen worden. Die Kellner führten die fünf Besucher an den opulent gedeckten Tisch. Die weißen Porzellanteller und die versilberten Messer und Gabeln sprachen für Qualität. Auf das Essen mussten sie sich noch ein bisschen gedulden. In der Zwischenzeit hielt Professor Fürst eine Rede, in der er Nicolas Verdienste insbesondere in den Fällen "Die Marionettenspieler" und "König Drosselbart" huldigte. Mit einer Auszeichnung und einigen Dokumenten wurde der junge Kommissar nun zum Kriminaloberkommissar. Angestoßen wurde mit einem dunkelroten Bordeaux. "Ich bin mir sicher, du wirst es noch ganz nach oben schaffen", sagte Ellie und umarmte ihren Kollegen. Durch einen kräftigen Händedruck zeigten auch Hiroki und Doktor Baumert, der sich die Bemerkung "Explosionsartig wie eine Bombe sind Sie hier eingeschlagen. So hätt' ich Sie gar nicht eingeschätzt", nicht verkneifen konnte. Zum Schluss rang sich auch noch der Papagei zu einer kurzen und knappen Gratulation durch. Ihm war deutlich anzusehen, dass er Nicolas schnellen Aufstieg hier in Berlin keineswegs guthieß. Bevor die Gläser Rotwein komplett geleert waren, wurde das Hauptmenü aufgetragen, welches einer wahren Delikatesse glich. Müritz Zanderfilet auf der Haut gebraten, wurde in würziger Goulaschbrühe mit Bohnencassoulet und Paprikaschmand serviert. Nicolas genoss das herrliche Essen in einer regen Unterhaltung mit dem Staatsanwalt. Mit dem Golfen, Nicolas zweiter Lieblingssportart nach dem Rudern, hatten die zwei ein gemeinsames Interesse gefunden. Der Papagei bekam vor lauter Eifersucht einen roten Kopf und löffelte wütend seine Crème Brûlée. Er musste sich den ganzen Abend die flachen Witze von Doktor Baumert anhören. Dieser hatte deutlich zu tief ins Glas geblickt und gab gerade: "Mammi, Mammi, darf ich noch etwas mit Opa schaukeln?" - "Nee, der bleibt so hängen, bis die Polizei kommt!" zum Besten. "Jetzt reicht's!", schrie der Papagei. "Genug, ich will nichts mehr von Ihnen und Ihren dämlichen Sprüchen hören! Einen unterhaltsamen Abend noch." Er knallte sein Glas auf den Tisch und verließ ohne sich zu verabschieden das Restaurant. Unbeeindruckt suchte sich Doktor Baumert sein nächstes Opfer und überhäufte Ellie die restliche Zeit mit Komplimenten. "So, ich muss dann auch mal los", sagte der Staatsanwalt. "Ich bin mir sicher, wir werden noch viel positives von Ihnen hören", er reichte Nicolas die Hand und schloss sich bequemen Schrittes Herrn Laumann an. Nicolas lehnte sich zurück und beobachtete die Ausflugsdampfer, die die letzten Passagiere sicher an Land zurück brachten. Außer den Stimmen seiner Kollegen war nur das ruhige Plätschern der Spree zu hören. Die heißen Temperaturen des Tages waren auf angenehme 19°C gesunken. Ein paar Mücken hatten sich um die kleinen Gaslampen auf den Tischen versammelt und summten um die Wette, wobei sie gleichzeitig ihre nächsten Opfer ausmachten. "Ich bin froh, dass du zu uns gekommen bist. Du bist eine richtige Bereicherung", gab Hiroki, der den ganzen Abend nicht viel gesagt hatte, von sich. "Danke, aber das sehen leider nicht alle so wie du." "Ich weiß, der Chef hat sich daneben benommen, aber er entschuldigt sich bestimmt morgen bei dir." Über diese Gutgläubigkeit des Japaners konnte Nicolas nur müde lächeln. Herr Laumann und er würden in diesem Leben keine Freunde mehr werden. Er spürte, wie seine Muskeln durch das harte Rudertraining schwer wurden und hoffte, dass auch die Nächsten bald die Feier verließen. Am Ende waren nur noch er und Ellie, die den ziemlich betrunkenen Doktor Baumert stützte, übrig. "Du hast es geschafft, der Abend liegt hinter dir", sagte Ellie, als sie den Rechtsmediziner auf ihren Beifahrersitz verfrachtete. "Genau Nicolas, machen Sie weiter sssoo", lallte Doktor Baumert und Ellie schlug ihm die Autotür vor der Nase zu. Nicolas musste lachen: "Wir sehen uns dann morgen auf dem Präsidium. Schönen Abend ihr zwei." Ellie schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an und kicherte: "Den werden wir haben. Hoffen wir, dass die nächsten Tage entspannt bleiben, solange es so heiß draußen ist." Nicolas nickte und ahnte, dass dies nicht zutreffen würde.
"Guten Morgen, Sophia! Raus aus den Federn!". Verschlafen grummelte Sophia und öffnete ihre blauen Augen: "Ich komme ja gleich." "Das will ich auch hoffen, nicht dass ihr wieder so spät loskommt wie gestern!", Frau Lauer war schon perfekt für den Arbeitstag in der Kanzlei gerüstet und bereitete nun das Frühstück ihrer beiden Töchter vor. Ihren Mann hatte es schon vor 20 Minuten aus dem Haus verschlagen. Sophia tappte ins Badezimmer und begutachtete sich kritisch im Spiegel. "Ich brauch dringend ein Upgrade für meine Haare", sie seufzte und beschloss in der Schule einen Termin bei ihrem Lieblingsfriseur
Super-Cut zu machen. "Mama braucht davon ja erst mal nichts wissen", grinsend stülpte sie sich ein weißes Top zu ihren Hotpants über. Das Hochdruckgebiet über Berlin hatte noch nicht vor weiterzuziehen, von daher waren heute wieder Temperaturen jenseits der 30°C hervor gesagt worden. Julia saß schon am Frühstückstisch, als Sophia in die Küche kam. Die hellen Fenster zeigten ostwärts und so wurde der Raum schon morgens mit den wärmenden Strahlen der Sonne durchflutet. Neben der Tatsache, dass heute Freitag war, bekam Sophias Laune beim Blick in den strahlendblauen Himmel noch einen Schub. Der Tisch war der zentrale Punkt in der Landhausküche. Sophia setzte sich auf einen der Eisenstühle
und füllte sich eine Schale Schokomüsli, über dem sie eine ordentliche Ladung Milch verteilte, ein. "Fahren wir denn morgen nach Wandsee?", fragte Julia und schaute ihre Schwester aus großen Augen neugierig an. Auch Julia hatte die blonden Haare und Gesichtskonturen ihrer Mutter geerbt. "Das heißt nicht Wandsee, sondern Wannsee", verbesserte Sophia und fuhr fort: "Aber, wir werden auf jeden Fall morgen dort schwimmen gehen." "Ich hab das schon mit eurem Vater abgeklärt, er fährt euch morgen dahin", warf ihre Mutter ein und packte eine Banane in eine schwarze Aktentasche. Die Zeiger der römischen Uhr zeigten an, dass es Zeit war, sich auf den Weg zur Schule zu machen. "Good Morning, boys and girls",
begrüßte Frau Reime die 10f und bekam eine genervtes "Good Morning, Miss Reime" zurück. Sophia und Milena hatten es heute rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn geschafft und Sophia hatte noch Zeit gehabt, zusammen mit Selena einen Friseurtermin festzulegen. "Anybody without homework?", diese Frage löste einen kurzen Moment der Beklemmung aus, woraufhin eine Welle von Fingern in die Luft ging. Frau Reime ergänzte ihre Strichliste und kreuzte sich an, wer diesmal einen Hausaufgabenbrief nach Hause bekam. "Puh, ich hab erst zwei Striche. Noch mal Glück gehabt", murmelte Selena und zupfte an ihrem roten Schal. "Who wants to start?" "I want!", rief Gregor Fernkorn und riss seinen Arm soweit hoch,
dass er fast vom Stuhl aufgesprungen wäre. Er startete seine Übersetzung mit einem stark gespielten Akzent: "The text "Kakadu National Park" deals with", doch der Streber kam nicht weit, da er von einem Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Herr Spinker, Leiter der Tanz AG erschien und stellte sich neben Frau Reime vor das Pult. "Eine Information an all meine Schüler. Aufgrund unseres Tanzprojektes und unserem großen Rückstand, bitte ich all meine Schüler heute nach der 5. Stunde in der Sporthalle zu erscheinen." "Ach nö, nicht bei der Hitze", stöhnte Sophia und malte sich aus, wie all ihre Sachen an ihrem Körper festklebten wie Kaugummi. Mit einem "Ich dulde kein unentschuldigtes Fehlen", verließ Herr
Spinker den Klassenraum und Gregor konnte seinen Vortrag weiterführen. Pünktlich nach der 4. Stunde versammelten sich Sophia, Milena und André vor dem Eingang des Flachbaus. Im Sommer war es hier immer besonders stickig und dementsprechend war die Motivation bei den Schülern verhalten. "Ich beneide Selena so. Sie kann jetzt schon nach Hause gehen", sagte Milena und kickte einen der vielen Kieselsteine gegen die Mülleimer. Im Gegensatz zu ihren besten Freundinnen, hatte Selena den Ruderkurs gewählt, da sie zwei linke Füße hatte. "Irgendwie kriegen wir das schon rum", ermutigte André sie und drehte an seiner Zigarette. Zwar war das Rauchen auf dem gesamten Schulgelände verboten, aber es
hielten sich nur wenige Schüler daran. "Da hinten kommt er", rief einer der Anderen und bald darauf versammelte sich die Schülerschar im Tanzsaal unter der großen Halle. "Ich weiß, dass die Stunde ganz unvorbereitet kommt und ihr eure Sachen nicht dabeihabt, aber wir müssen die angehäuften Defizite im Bereich der Bewegungsabfolge aufholen", mit einem forschen Blick, machte Herr Spinker seinen Schülern den Ernst der Lage bewusst. Schon in zwei Wochen war das erste Vortanzen für das Turnier der Landesmeisterschaften, an denen sämtliche Schulen in Berlin teilnahmen. Das Heinrich von Kleist Gymnasium hatte hierbei eigentlich immer einen guten Ruf, was auch so bleiben sollte.
Für diese Stunde standen Choreografien aus einer Mischung von Jazz und afrikanischem Tanz an. Leichten Schrittes schwebte Sophia über den Boden und prägte sich ganz besonders ein, dass ihre Füße nicht gepointet wie beim Ballett, sondern geflext sein sollten. "Das machst du sehr gut. Wenigstens eine, die das hinkriegt", der Tanzlehrer drehte seine Runde durch den Raum. "Milena! Mehr Balance!" Nach einer dreiviertel Stunde intensiven Trainings verließen die Nachwuchstänzer völlig erschöpft das Gebäude. Eine Abkühlung bekamen sie in der Mittagshitze jedoch nicht. "Morgen, also um 9:30 Uhr bei dir?", fragte Milena und Sophia nickte. Sie verabschiedete sich von ihr und André und
holte das rote Hollandrad, auf dem sie zu Super-Cut radelte. Selena wartete bereits auf sie. "Du siehst fertig aus", Selena grinste und Sophia streckte ihr die Zunge raus. "Ich tue wenigstens was, als faul zu Hause rumzuhängen." Die Auszubildende Andrea, die die zwei zur Zeit immer beriet, wies sie auf die jeweiligen Plätze. Sie fing bei Sophia an. "Was möchtest du denn gerne?", fragte sie und holte den Frisierwagen, auf dem sich unzählige Klammern und Bürsten tummelten. An einem so heißen Tag wie diesem Freitag, waren sie fast die einzigen Kunden im Laden. Der Rest der Menschen hatte es vorgezogen in die Eisdiele oder ins Freibad zu gehen. "Etwas Ausgefallenes. Ich habe über pinke und lilafarbene Strähnen nachgedacht",
antwortete Sophia. Andrea holte eine Farbpalette aus dem hinteren Teil des Salons und setzte sich auf einen Hocker neben ihre Kundin. "Ich würde dir eher Pastellfarben empfehlen, zu kräftige Farben wirken aufgesetzt." Sie einigten sich auf die helleren Töne und nach einer guten Stunde hatte Sophia ein neues Styling auf dem Kopf. In die braunen Haare von Selena hatten sich ebenfalls ein paar neue, blonde Strähnen gemogelt. Zufrieden verließen die beiden Mädchen den Salon, begutachteten sich entlang der Fußgängerzone in sämtlichen Schaufenstern und beschlossen das neue Styling mit einem neuen Outfit zu vervollständigen."Mir graut es schon, wenn ich nachher nach Hause komme. Meine
Mutter wird ihren Augen nicht trauen", kichernd bedeutete Sophia ihrer Freundin eines der Geschäfte zu betreten. Die angenehme Kühle der Klimaanlage verursachte eine Gänsehaut. Die leuchtenden Farben der vielen Sommerkleider hatten es den Mädchen angetan. Unzählige Male probierten sie welche an und begutachteten sich kritisch in den Spiegeln der Umkleidekabinen. Sophia konnte sich nicht zwischen einem rotweißen Strandkleid mit Blumenprint und einem bunten Chiffonkleid mit U-Boot-Ausschnitt entscheiden. Also beschloss sie unter den neidischen Blicken ihrer Freundin, die nicht einfach so das Geld für zwei Kleider übrig hatte, beide zu kaufen. Auf dem Weg zur
Kasse, blieben sie aber bei den Bademoden hängen. "Wir brauchen unbedingt noch was Schickes für morgen", sagte Sophia. "Du willst ja nur wieder Eindruck machen", Selena hatte es aber selbst zwischen die vielen Bikinis, Tankinis und Badeanzüge verschlagen. Sophia suchte sich einen Bügel-Bikini mit Glitzersteinchen aus. "Dann sind wir ja gerüstet", sie drehte eine Pirouette in der Fußgängerzone und ließ dabei fast ihre Einkaufstüten fallen. Eine ältere Dame rief aufgebracht: "Pass doch auf! Die jungen Leute von heute haben einfach keinen Anstand mehr!" Unbeeindruckt schlenderten die zwei noch ein Weilchen in der Innenstadt und gönnten sich Kratzeis, dass sie in einer schattenspendenden Gasse genossen. Zu
Hause angekommen, war Sophias Mutter kurz außer sich. "Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du kannst dir nicht alles erlauben, mein Fräulein. Erst recht nicht diese Haarfarbe." "Es sind doch nur Strähnen, Mami", versuchte Julia ihre Mutter zu besänftigen. Dies zeigte Wirkung und gegen 19:00 Uhr war die gesamte Familie Lauer draußen am Grillen. Der Geruch nach gebratenen Würstchen und unterschiedlichsten Gewürzen durchzog die Luft und verbreitete sich in der gesamten Nachbarschaft. Noch genossen sie das vereinte Familienglück , wovon sie nicht mehr lange zu zehren hatten.
Nicolas war spät dran und etwas müde vom gestrigen Abend. Eilig stapfte er die Treppen des Kommissariats hinauf. "Sie brauchen sich erst gar nicht häuslich einrichten. Wir haben ne Leiche!", begrüßte ihn Herr Laumann, der immer noch sichtlich angefressen war. "Guten Morgen erst mal!", sagte Nicolas und spähte in das Büro. Doch bis auf ihn und den Papagei war noch keiner seiner Kollegen anwesend. "Na, dann kommen Sie jetzt mit mir mit!" Einige Augenblicke später standen die beiden mit dem Dienstwagen inmitten der Hauptverkehrszeit Berlins im Stau. Die Luft im
Wagen war stickig von den Abgasdämpfen der vor ihnen stehenden Autos. "Während des Staus macht man den Motor aus", dachte Nicolas und schaute aus dem Fenster in die vielen genervten Gesichter der Autofahrer. "Was genau ist eigentlich passiert?", wollte er wissen. "Die Zentrale hat was gesagt von einer Kinderleiche. Gefunden haben sie wohl ein paar Jugendliche." "Und wo haben sie das Kind gefunden?", fragte Nicolas verärgert, seinem Chef heute alles aus der Nase ziehen zu müssen. "Altes Fabrikgebäude in der Nähe des Rolandufers. Die Autokolone setzte sich wieder in Gange und Schritt für Schritt kamen sie voran. "Oh, endlich. Was wollen die alle so früh auf den Straßen?", Laumann warf die
Autotür mit einem lauten Knall ins Schloss. Das Gelände war schon mit Absperrband vor neugierigen Besuchern geschützt. Die zwei Kommissare schlüpften unter der rotweißen Absperrung hindurch und stellten sich mit ihren Ausweisen bei den Kollegen der Tatortsicherung vor. "Ich geh mich mal im nahen Umfeld umhören. Vielleicht hat der eine oder andere ja zufällig etwas mitbekommen", mit diesen Worten überließ der Papagei Nicolas den unangenehmen Teil der Arbeit. Leichten Fußes stolzierte er in seinen abgenutzten Cowboystiefeln davon. "Viel zu heiß bei diesem Wetter", Nicolas schüttelte den Kopf und begab sich in Richtung des alten Plattenbaus. Die meisten Fenster waren eingeschlagen und die Wände
mit Graffiti-Kunstwerken vollgeschmiert. Der Spruch "Ich denke...also bin ich hier falsch" stach ihm besonders ins Auge. Er schien mit dem traurigen Fund der Kinderleiche übereinzustimmen, die hier eigentlich auch nichts zu suchen hatte. Nicolas betrat das Gebäude und wurde von der angenehmen Kühle überrascht, die die Mauern gefangen hielten. Doktor Baumert kniete neben einem kleinen Mädchen, dessen Kopf schlaff zur Seite geknickt war. Außerdem hatte sie nur noch einen pinken Ballarina an ihrem linken Fuß. Nicolas schluckte schwer und räusperte sich. "Servus, Baumert", begrüßte er seinen bayerischen Kollegen, in dessen Landessprache. "Bevor Sie jetzt blöd fragen, ne'." "Ich stell keine blöden Fragen",
verteidigte Nicolas sich und zog seine Augenbrauen zu einem ernsten Blick zusammen. "Ich hab' heute wieder den Durchblick", antwortete Doktor Baumert, indem er die Leiche auf den Rücken drehte und begutachtete. "Was haben wir hier?" "Kinderleiche, wie unschwer zu erkennen ist. Tod durch mehrere Schläge gegen den Kopf. Mit dem da", Baumert zeigte auf eine Eisenstange, die bereits in Schutzfolie gewickelt. Große Mühe, Spuren zu verwischen hatte sich der Täter anscheinend nicht gemacht. Nicolas nahm die Mordwaffe und wog sie in seinen Händen hin und her. Der Rechtsmediziner tickte ihm auf die Schulter: "Ich stell' mir das Ganze so vor. Zack, folgt der erste Schlag gegen die
Schläfe". Nicolas wollte etwas erwidern, doch Baumert ließ ihm keine Chance. "Wollen Sie mir zuhören oder nicht? Das Mädchen wehrte den zweiten Schlag mit den Unterarmen ab, weshalb ich starke Abschürfungen dort finden konnte. Indessen folgte der dritte Schlag frontal auf die Stirn", Nicolas wurde die Waffe entrissen und der Pathologe simulierte seine Vermutungen. "Schließlich kam es zum Exitus", beendete er seinen Vortrag. "Ja, so könnte es abgelaufen sein", stimmte Nicolas seinem Kollegen zu. "Darauf verwette ich meine Rente", bekam er als Antwort. Mit einem letzten Blick auf das kleine Mädchen, wand er sich zum Gehen. Auf dem kleinen Parkplatz vor dem Haus wurden die Jugendlichen, die den unangenehmen Fund
entdeckten, von mehreren Kollegen betreut. "Kommissar Nicolas Abendstern", stellte er sich vor. Drei schneeweiße Gesichter mit weit aufgerissenen Augen starrten ihn an. Die drei waren in Wolldecken eingewickelt. Der Anblick hatte ihnen jegliche Wärme der Sonnenstrahlen genommen und sie zitterten am ganzen Leib. "Ihr habt das Mädchen gefunden?", Nicolas erntete einstimmiges Nicken und wusste nicht so recht, wie er fort fahren sollte. Voller Vorfreude auf eine gemeinsame Feier in dem alten Plattenbau waren sie gekommen und nun saßen sie mit versteinerten Mienen vor ihm. Einer von ihnen begann sich zu regen. Er nahm seine Baseballcap vom Kopf und knetete sie zwischen seinen dürren Fingern. "Wir sind
heute Morgen gekommen", er stockte und schaute ängstlich zu seinen beiden Freunden. "Um alles für die Party heute Abend vorzubereiten." "Und die sollte hier stattfinden?", Nicolas war fassungslos über den jugendlichen Leichtsinn. "Wir wollten nur ein bisschen Spaß haben", fuhr der Junge wieder fort. "Bitte, sagen Sie unseren Eltern nichts davon. Wir haben schon genug Probleme." Nicolas nickte und fragte sich, wie es wohl war von seinen Eltern ausgeschimpft zu werden und sich gar Hausarrest einfing. Durch den frühen Tod seiner Eltern und der Zeit auf dem Internat hatte er all diese Dinge nie erlebt. "Wir werden nichts sagen", einsichtig schaute er jedem der drei ins Gesicht. Es würde ohnehin schon unendlich
viel Kraft kosten, den Anblick der Leiche zu vergessen. "Habt ihr vielleicht irgendetwas gesehen, was euch merkwürdig vorgekommen ist?" "Äh, eigentlich nichts" setzte der Jugendliche mit der Cap wieder an. Doch er wurde von seinem Freund unterbrochen. Ein etwas pummeliger Zeitgenosse, mit einer großen Brille und Aknenarben auf der fettigen Haut. "Dort hinten", mit seinem massigen Arm zeigte er auf das andere Ende des Parkplatzes. "War, als wir hier angekommen sind noch ein weißer Transporter, der weggefahren ist, bevor wir überhaupt richtig da waren." Nicolas machte sich aufgeregt Notizen, wie immer wenn er der Meinung war, einen wichtigen Hinweis erhalten zu haben. Er
verabschiedetet sich von den dreien und marschierte in der allmählich stechenden Sonne zur anderen Seite. Der ausgebröselte Teer bedeckte seine Lackschuhe mit einer Staubschicht. Knirschen kam er zum Stehen. Mit den Armen in die Hüften gestemmt, drehte er sich einmal um sich selbst. Nicolas fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und kontrollierte jeden Winkel, der sich vor ihm erstreckte. Im Gebüsch stach ein kräftiges Rot hervor. Er ging in die Knie und robbte sich unter den herunterhängenden und dornigen Zweigen der Schlehen hindurch, die sich in seinem Jackett verfingen. Mit einer Hand ergriff er das rote Päckchen. Wieder auf dem Parkplatz begutachtete er sein Fundstück. Es handelte sich um eine
Zigarettenschachtel der Marke Marlboro. Auf der Oberfläche war "Palenie zabija" zu lesen. "Vielleicht Polnisch?", dachte Nicolas und fischte sich eine Plastikfolie aus seiner Jackettasche. "Was machen Sie da eigentlich?" "Ich sichere Beweise", Nicolas versuchte sein erschrockenes Gesicht zu verbergen. "Haben Sie denn indessen was herausgefunden?" Der Papagei kratzte sich am kahlen Oberkopf und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. "Unser lieber Doktor Baumert geht von Erschlagen aus", berichtete Nicolas und säuberte seine schmutzige Hand in einem Papiertaschentuch. Ganz ungeschoren sah seine Hand nach der Begegnung mit dem Dornenbusch nicht aus. "Die Leute hier
hatten leider keine Zeit einen Blick hierüber zu werfen. Also Fehlanzeige", frustriert setzte sein Chef den Rückweg an. Nicolas wollte ihm gerade folgen, als sein Handy klingelte. Es war Ellie. "Guten Morgen Nicolas. Hiroki und ich sind die Vermisstenanzeigen der vergangenen Tage durchgegangen und haben einen Treffer gelandet, der aller Voraussicht nach mit der Mädchenleiche übereinstimmen könnte." Nicolas horchte auf. "Ihr Name ist Marika Plambeck. Die Eltern haben ihre Tochter am gestrigen Abend als vermisst gemeldet. Ich simse dir mal das zugehörige Foto." Einen Moment später machte das Handy einen Piep und Nicolas begutachtete das lachende Mädchen. Die Ähnlichkeit mit der Leiche war nicht zu
übersehen. "Was gibt's Neues?", wollte Laumann wissen, der einige Meter vor ihm zum Stehen gekommen war. "Wir haben den Namen der Toten, Marika Plambeck." Nicolas überreichte einem KTU-Kollegen die Zigarettenpackung und wappnete sich für die unschönste Aufgabe eines Polizisten: Das Überbringen einer Todesnachricht.
"Wo sind denn nur wieder meine Flipflops?", fluchte Sophia und kramte in ihrer Schrankschublade. Neben ihr türmte sich ein riesiger Haufen Wäsche auf. In der hintersten Ecke guckten ihr endlich die blauen Sohlen der gesuchten Schuhe entgegen. "Sophia, du bist spät dran. Papa und Julia warten schon im Auto", ermahnte sie ihre Mutter. Bevor Sophia das Haus verließ, drückte sie ihr noch einen Picknickkorb in die Hände. "Mhm, was ist das?", neugierig wurde der Deckel geöffnet und das Aroma frisch belegter Sandwiches kroch Sophia in die Nase. Schnell verstaute sie alles im
Kofferraum und nahm neben ihrem Vater auf dem Beifahrersitz Platz. "Vergiss nicht Julia alle halbe Stunde mit Sonnencreme einzureiben!", rief Angela Lauer, bevor sich der Rest der Familie ins 67 km entfernte Strandbad Wannsee aufmachte. Auf dem Weg sammelten sie Milena von gegenüber und Selena, die in Tiergartennähe wohnte, ein. Draußen herrschte traumhaftes Sommerwetter. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel und ließ keiner Wolke eine Chance. "Na Mädels, alle Sachen beisammen?", voller Vorfreude nickten die Mädchen und brachen in ein langes Gelächter aus. "Greeting loved ones. Let's take a journey", stimmte Snoop Dogg das Lied ein. Und mit "I know a place. Where the
grass is really greener", übernahmen die vier den Part von Katy Perry's California Gurls. Sophia fummelte am Radio, um die Musik lauter zu drehen. "Ich muss mich konzentrieren!", schimpfte ihr Vater und schlug ihr auf die Hand. Sophias Eltern hatten schon immer eine gewisse Strenge mit in die Erziehung ihrer Töchter gelegt. Sophia zog einen Schmollmund, verlor die gute Laune bei dem Blick aus dem Autofenster aber nicht. Hinten auf der Rückbank erzählte Julia von ihren neuesten Errungenschaften beim Reiten. Sophia musste grinsen. Ihre Schwester hatte schon immer ein loses Mundwerk gehabt und berichtete allen möglichen Leuten aus ihrem Leben. Die dichten Häuser der Stadt waren Feldern und
kleinen Waldstücken gewichen. Nach ca. einer Stunde Fahrt erschien das gelbgestrichene Fachwerkhaus mit der Aufschrift "Strandbad Wannsee" vor ihnen. Übermütig stürzten die Mädchen aus dem Auto. "Ich wünsch' euch viel Spaß. Macht keinen Unsinn", verabschiedete sich Sophias Vater, winkte diese aber nochmal zu sich heran. "Klappt das alles mit dem Abholen?", wollte er wissen. Sophia verdrehte innerlich die Augen. Warum war ihr Vater nur solch ein Perfektionist, der immer alles genauestens geplant haben musste? "Selenas Eltern holen uns gegen 19:00 Uhr wieder ab", sagte sie und schritt zu ihren Freunden, die sich schon in die Warteschlange eingereiht hatten. An so einem heißen Sommertag
waren sie nicht die Einzigen, die die Idee hatten sich im kühlen Nass eine Erfrischung zu gönnen. Drei Köpfe vor ihr erkannte sie Andrés Käppi, der aber nur Augen für seine Milena hatte. An seiner Seite stand sein bester Freund Mario, der freundlich winkte. Als die Tickets endlich bezahlt waren, stürmte die Truppe eine Steintreppe hinunter und landete im weichen Sand, der von der Sonne ganz aufgewärmt war."Einfach herrlich!", schwärmte Sophia und zog ihre Flipflops aus. Der feine, weiße Sand rieselte ihr durch die Zehen und vom Wasser wehte eine salzige Brise zu ihnen herüber. Zusätzlich hatten sie sich noch einen Strandkorb gemietet und ein großer bunter Sonnenschirm sollte ein wenig Schatten spenden. "Wer zuletzt im Wasser ist,
muss nachher vom Steg einen doppelten Salto machen!", rief André und die Jugendlichen setzten sich schnellstmöglich in Bewegung."Sophia warte! Mein Schwimmring muss noch aufgeblasen werden", hielt Julia ihre Schwester zurück. "Na toll, jetzt habe ich die Wette verloren", dachte sie und pustete mit aller Kraft den pinken Ring auf. Einige Minuten später erschien sie dann auf dem Steg. "Wir sind auf deinen Salto gespannt", grölte André und bespritzte die kleine Julia mit einer Ladung Wasser. Quiekend schrie diese auf und suchte das Weite. Sophia hatte sich aufgestellt, ging in die Hocke und bereitete sich mit vollster Konzentration auf den Sprung vor. Das kalte Wasser betäubte kurz ihre Sinne und in ihren Ohren rauschte
es. "Wie ein Profi", applaudierten ihre Freunde. Es begann eine wilde Schlacht, vor der keiner verschont blieb. Patschnass saßen die sechs anschließend auf einer karierten Decke und mampften ihre Brote. "Mhm...köstlich", Selena ließ sich rückwärts in den Sand fallen. "Ich hab' heute noch den Barkeeper gespielt", Milena öffnete ihre Kühltasche. "Und habe uns ein paar leckere Cocktails gemischt." Sophia setzte den Strohhalm an ihren Mund und wurde von der fruchtigen Kombination aus Mango und Ananas überrascht. Ihre Freundin hatte echt Talent. "Lasst uns eine zweite Wette machen", schlug Mario vor. "Wer als letzter an der Rutsche ist." Das "ist" zog er dabei besonders in die Länge und überlegte
angestrengt. "Der muss so lange, wie er kann Handstand unter Wasser machen", half ihm Selena auf die Sprünge und verstaute ihre Ray Ban in einem Etui. Alle sprangen auf und stürmten an den Strandkörben vorbei, passierten sämtliche Sonnenschirme und landeten mit einem lauten Geschrei im Wasser. Diesmal war Milena die Langsamste. Gekonnt vollführte sie ihre Kunststücke und durfte sich dann auch von der roten Rutsche stürzen. Sie tollten und tollten im Wasser und bemerkten nicht, wie schnell die Zeit verging. Sophia tauchte gerade Selena und Mario bei einer abenteuerlichen Haifischjagd hinterher, als sie entdeckte, dass ihre Finger schon ganz schrumpelig waren. Die Lippen waren blau und zitterten. "Lasst uns in der Sonne
ein bisschen aufwärmen", forderte sie ihre Freunde auf und machte sich in deren Begleitung auf den Weg zurück an den Strand. Sie bereiteten ihre Badetücher aus und ließen sich von den Sonnenstrahlen bräunen. Verschlafen reckte Selena ihren Kopf hoch: "Leute, wo ist eigentlich Julia?" Die fast eingedösten Wasserratten waren sofort hellwach. "An der Rutsche war sie noch bei uns gewesen. Bin schließlich zusammen mit ihr die Rutsche runter", warf Mario ein und blinzelte dem grellen Licht entgegen. Panik überfiel Sophia. Ihre Eltern hatten ihr die Verantwortung für ihre kleine Schwester übertragen. Und was machte sie, verlor sie aus den Augen. "Vielleicht kauft sie sich ein Eis", versuchte Milena ihre Freundin
zu beruhigen. "Am besten teilen wir uns auf. Zwei gehen zum Wasser und verständigen die Badeaufsicht, zwei suchen beim Kiosk nach ihr und einer bleibt hier", unterbreitete André. Sophia und Selena steuerten das gelbe Haus an. Auf dem Weg erkannten sie den pinken Schwimmring, der gestrandet im weißen Sand lag. Sophias Schritte wurden schneller und sie war froh, als die Eisverkäuferin in Sicht kam. "Was möchtet ihr zwei denn haben?", fragte sie und war etwas enttäuscht, dass nur ein "Nichts" als Antwort kam. "Haben sie hier ein circa sieben Jahre altes Mädchen mit blonden Haaren gesehen? Sie trägt einen blau gestreiften Badeanzug, auf dem in der linken Ecke das Seepferdchen-Abzeichen aufgenäht ist"
erkundigten sich die zwei. "Tut mir leid. Hier kommen jeden Tag hunderte Leute vorbei und eure Beschreibung sagt mir auch nichts." Die beiden fragten noch andere Besucher, erhielten aber keinen Hinweis auf Julias Verbleib. Das Blut pochte in Sophias Kopf und erste Tränen traten ihr in die Augen. "Nicht heulen, nicht heulen", redete sie sich verzweifelt ein. Die anderen drei hatten auch keine Neuigkeiten, was sie noch unruhiger machte. Selenas Eltern erschienen und halfen ebenfalls bei der Suche. Doch von Julia gab es keine Spur. "Sie muss hier doch irgendwo sein!", niedergeschlagen ließ sich Sophia auf den Boden plumpsen. "Hey", Selena streichelte ihr über den Arm. "Sie wird bestimmt gleich auftauchen." "Was wenn
nicht?", diese Frage biss sich in den Gedanken aller Anwesenden fest und wollte nicht mehr loslassen. "Du solltest deinen Eltern Bescheid sagen", riet Selenas Vater, Herr Maaßen. Sophia begann zu beben. Ihre Eltern hatten ihr vertraut und was war daraus geworden? Julia war verschwunden und würde vielleicht nie wieder kommen. Sie wählte die Nummer ihres Festnetzanschlusses. Mit einem Räuspern meldetet sich ihr Vater. Sophia zögerte einige Sekunden und biss sich auf die Lippen: "Julia ist weg."
Wieder einmal hatte sich unangenehmes Schweigen zwischen Nicolas und seinem Chef ausgebreitet. Trotz Klimaanlage strahlte das aufgeheizte Armaturenbrett eine unglaubliche Hitze aus. Nicolas musste sich sogar von seiner geliebten Pünktchenkrawatte trennen. Ein paar Mal schielte er zu Herrn Laumann rüber, der sich inmitten parkender Autos und waghalsiger Radfahrer durchschlängelte. Den Blick immer stur auf das Nummernschild des Vorausfahrenden gerichtet. "Wieso muss ich eigentlich die ganze Zeit mit diesem schrägen Vogel los?", ging es Nicolas durch den Kopf. Schon den letzten Fall hatte er in Begleitung
seines Vorgesetzten beendet. "Haben Sie hier irgendwelche Parkmöglichkeiten gesehen?", keifte der Papagei und fuhr sich mit der Hand angestrengt über die Stirn. Seine platten Haare schienen im Sommer noch mehr am Kopf zu kleben. Nicolas schaute sich um. Die Parkstreifen an den Straßenrändern quollen über, doch er entdeckte ein verstecktes Parkschild, das an der Wand eines Blumenfachgeschäftes hing. Sie passierten die Einfahrt und Nicolas Blick fiel auf die Blumen, die vor lauter Durst ihre Köpfe hängen ließen und ein trostloses Bild von sich gaben. "Steht zwar nur für Kunden. Aber die Polizei darf alles", kommentierte der Papagei, als sie wieder an dem blauen Schild vorbeigingen. Die Plambecks lebten in einer
heruntergekommenen Gegend Neuköllns. Der farblose Wohnblock befand sich am Britzer Damm, sodass die Kommissare noch ein Stück zu Fuß gehen mussten. Der einzige Farbtupfer des Gebäudes waren die pinken Balkone, die wie bunte Knallbonbons fehl am Platz wirkten. An einer Tankstelle überquerten sie die Straße und Laumann kontrollierte die Namen der Klingelschilder. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck drückte er den kleinen Knopf, woraufhin ein leises Surren zu hören war. "Die machen ja auch einfach auf", gab der Papagei von sich, während sie das schäbige Treppenhaus betraten. Die weiße Wandfarbe war hinter einer dicken Schicht Graffiti verschwunden. "Ey, was wolln' se hier?!", fuhr ein
Jugendlicher sie an, der aus dem Keller gekommen war. In der linken Hand ließ eine Zigarette ihre Asche auf den Boden rieseln. "Ich wüsste nicht was dich das angeht", entgegnete Nicolas und folgte seinem Chef die Treppen nach oben. "Immer diese Schnösel. Ich könnt' kotzen", mit einem lauten Würgegeräusch fiel die Tür ins Schloss. Die Wohnung der Plambecks befand sich im vierten Stock. Eine stämmige Frau mit ausgewaschenen violetten Haaren schaute die beiden neugierig vom obersten Treppenabsatz an. "Ey, was wolln se? Ziehn se Leine. Ick kofe nix", begrüßte sie ihre Besucher. "Wir verkaufen nichts. Kriminalpolizei", ungehalten hielt Laumann der verdutzten Frau seinen Ausweis unter die
Nase. "Uwe, die Bullen. Nachtijall ick hör dir trapsen", sie drehte sich um und schaute in die Wohnung zurück. Dort erschien ein ungepflegter Mann, der einen üppigen Bierbauch vor sich herschob. "Hoffentlich spricht der nicht diesen schrecklichen Dialekt." Die Umgangssprache der Berliner war Nicolas noch immer nicht vertraut. Sie wurden durch einen kahlen Vorraum geführt und landeten in einer engen Küche. Diese erinnerte eher an ein zusammengestückeltes Sammelsurium. Vor den Fronten waren blaugestreifte Vorhänge angebracht, die sich mit dem roten Anstrich der oberen Küchenwand bissen. "Sie sind bestimmt wegen Marika hier oder?", fragte der Mann im Hochdeutschen und sein Gesicht bekam
einen traurigen Ausdruck. Die Frau hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, so als würde ihr erst jetzt auffallen, dass die kleine Tochter seit gestern nicht mehr zu Hause gewesen war. Nicolas hasste verantwortungslose Eltern, sprang aber über seinen Schatten und sprach die bittere Wahrheit aus: "Ihre Tochter Marika wurde heute Morgen tot in einem verlassenen Fabrikgebäude aufgefunden." Er wartete auf irgendeine Reaktion, doch es kam nichts. Barbara und Uwe Plambeck starrten, jeder für sich auf die dünnen Holzrillen des Esstisches. Vielleicht konnte einen nichts mehr großartig schocken, wenn man im Leben sowieso schon tief gefallen war. Der Mann begann sich zu regen: "Ich habe
gestern eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Das kann doch nicht sein. Wer sollte so etwas tun?", langsam drang die Realität doch zu ihm über und seine Augen wurden feucht. "Wann haben Sie ihre Tochter das letzte Mal gesehen?", wollte Herr Laumann wissen. Nach kurzem Schweigen war es wieder der Vater, der antwortete: "Marika", bei dem Namen stockte er kurz. "Ist nach der Schule nicht Heim gekommen. Zuerst haben wir uns nichts gedacht, aber als sie abends immer noch nicht erschien, haben wir Ihre Kollegen verständigt." Nicolas nickte und machte sich Notizen. "Dürfen wir uns in ihrem Zimmer umgucken?" "Warten Sie, ich zeige es Ihnen." Marikas Zimmer strahlte eine ebensolche Trostlosigkeit aus, wie der Rest der ganzen
Wohngegend. Es war nur ein kleiner Raum, in dem ein Kiefernschrank und ein Kinderbett Platz gefunden hatten. Die Wände waren gelb gestrichen und mit zahlreichen Stickern überklebt. Auf dem Fensterbrett saß ein kitschiger Clown, der Marika nie wieder zum Lachen bringen würde. Ansonsten strahlte das Zimmer keine Persönlichkeit aus. Da keine Indizien zu finden waren, verließen die Polizeibeamten den Britzer Damm und kehrten zum Parkplatz zurück. Der Papagei konnte sich eine abfällige Bemerkung gegenüber den Plambecks nicht verkneifen: "Ich frag' mich, was der Mord an dem Kind überhaupt gebracht hat. Da ist doch nichts zu holen." Empört über diese Herzlosigkeit, ließ sich Nicolas in den Beifahrersitz
plumpsen. Der Papagei gehörte eindeutig zu der schlechten Sorte von Mensch. Doch ihm ging eine ähnliche Frage durch den Kopf: "Warum musste die kleine Marika sterben?" Anzeichen für ein Verbrechen aus familiären Gründen gab es nicht. Der Dienstwagen wurde vor das moderne Kommissariat gelenkt. Die Sonnenstrahlen reflektierten sich in der großen Glasfront und brachten die Scheiben zum Glitzern. Im Büro waren die Fenster geöffnet. Ein verzweifelter Versuch die stickige Luft nach draußen zu verbannen. Ellie saß an ihrem Schreibtisch und löffelte einen Fruchtsalat, als Nicolas den Raum betrat. Herr Laumann hatte noch eine Rechnung mit Doktor Baumert offen und war in Richtung Pathologie verschwunden. "Was
gibt's Neues?", erkundigte sich Ellie und begutachtete ihre knallroten Fingernägel. "Nicht viel. Die Eltern schienen ganz gefasst von der Todesnachricht zu sein, aber das soll nichts bedeuten." Ellie gab ein langgezogenes "Mhm" von sich und piekte ein letztes Stück Banane auf ihre Gabel. "Der Chef hat gesagt, dass wir uns noch einmal in der Schule umhören sollen." "Haben die denn noch auf? Es ist jetzt 14:00 Uhr", sagte Ellie. "Ganztagsschule", Nicolas schnappte sich eine kleine Wasserflasche aus der angrenzenden Teeküche und steuerte zusammen mit Ellie das Parkhaus an. Er hatte darauf bestanden, dass es Jessica im Sommer kühl und im Winter schneefrei hatte und sie dort unterbringen lassen. Die
Grundschule lag in Britz, einem kleinen Ortsteil von Neukölln. "Auf so einer Wippe habe ich als fleißige Schülerin auch immer geschaukelt", erzählte Ellie, als sie im Schatten der großen Lindenbäume den Schulhof betraten. Sie stellten sich bei der hilfsbereiten Sekretärin vor und konnten wenig später mit der Klassenlehrerin Frau Balzke sprechen. Im Gegensatz zu Marikas Eltern war die ältere Dame den Tränen nahe und brauchte einen Moment, um sich zu fassen. "Hatte Marika irgendwelche Freunde hier, die was gesehen haben könnten?", behutsam reichte Ellie der aufgelösten Lehrerin ein Taschentuch. Nicolas war froh nicht in Begleitung des Papageis hier erschienen zu sein. Sie wurden zum richtigen
Klassenzimmer geschickt und holten die Mädchen nach draußen. Vorsichtig versuchte Ellie den beiden die schreckliche Botschaft beizubringen. Doch die Trauer von Eva und Regina war nur schwer zu bändigen. Frau Balzke war zur Hilfe geeilt und unterstützte die beiden Kommissare. Nicolas fühlte sich bedrückt, hatte er doch als Kind eine ebensolche Mitteilung verkraften müssen. Eva war die Stärkere und am ehesten dazu in der Lage, den Fragen zu antworten. "Also, ihr habt mit Marika gestern auf dem Schulhof gewartet", fasste Ellie die Geschichte noch einmal zusammen. Das Mädchen nickte eifrig. "Ist euch noch etwas aufgefallen, was ungewöhnlich war?", Nicolas ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit dem Kind
reden zu können. Unsicher spähte Eva zu ihrer Freundin und bekam ein unterstützendes Nicken. "Sie wurde gestern von einem großen schwarzen Auto abgeholt. Dabei hat sie uns gar nicht erzählt, dass ihre Eltern jetzt so viel Geld haben." Beunruhigt schaute Nicolas seiner Kollegin in die Augen. Es waren ganz sicher nicht die Plambecks, die Marika abgeholt hatten.
Bis in die frühen Morgenstunden hatten Sophias Eltern, unzählige Freiwillige und auch die Polizei das Gelände des Strandbades abgesucht. Sophia kannte inzwischen jeden Winkel. Von der kleinen Julia fehlte nach wie vor jede Spur. Letztendlich waren die Lauers doch nach Hause gefahren. Man ging von einem schrecklichen Badeunfall aus, was Sophia jedoch nicht zu glauben schien. Julia war mit ihren jungen Jahren eine gute Schwimmerin gewesen. Am Sonntagmorgen erfüllte eine nie dagewesene Leere und Stille die alte Villa. Sophia hatte nur wenige Stunden geschlafen und quälte sich mit starken
Kopfschmerzen wieder aus dem Bett. Sie fühlte sich hilflos und im Stich gelassen. Ihre Eltern hatten kaum ein Wort geredet und ihr zu verstehen gegeben, dass sie an der ganzen Sache Schuld war. Bevor die Verzweiflung sie überkam, durchwühlte sie jede Ecke von Julias Zimmer. Doch zwischen den vielen Barbiepuppen und Kuscheltieren befand sich kein blonder Haarschopf. Die Minuten zogen sich in unendliche Längen und Sophia wusste nicht, was sie tun sollte. Sie mied den Kontakt zu ihren Eltern und erschien auch nicht zum gemeinsamen Frühstück. Im noch feuchten Gras, an dessen Spitzen blanke Wassertropfen schimmerten, machte sie sich auf den Weg in das Gartenhaus. Auch hier strahlte alles
voller Einsamkeit. Der morgendliche Gesang der Vögel, schien sich in alle Richtungen auszubreiten. Nur der Garten der Lauers lag unter einer schweren Decke des Schweigens. Sophia betrat ihren Lieblingsplatz. Die hellen Farben brachten etwas Leichtigkeit in ihr Inneres zurück. Die alte Holzbank lud auch in diesen schwierigen Stunden zum Verweilen ein. Als Sophia die Tür des Gartenhauses schloss, fühlte sie, dass ein Stück der zentnerschweren Last draußen geblieben war. Sie schnappte ihren iPod und versuchte sich in den Klängen der Folkmusik zu verlieren. Die Angst um Julia sollte für wenige Minuten vergessen sein. Je mehr sich Sophia auf das Lied, was abgespielt wurde konzentrierte, umso
schärfer kam ihr Julias Bild wieder vor Augen. Ihre siebenjährige Schwester, wie sie morgens immer Marmeladenbrot verspeiste oder stolz auf ihrem Fahrrad radelte und die lange Haarmähne im Wind flatterte, wie eine Fahne. Das helle Lachen, was jeden Anwesenden ansteckte, übertönte die Klänge, die aus den Kopfhörern drangen. Wütend schmiss sie das Gerät auf den Boden und stand trotzig auf. Sie fuhr erschrocken zusammen, als es an den Sprossenfenstern klopfte. Vielleicht war es Julia? Sophias Adrenalinspiegel schoss in die Höhe, als sie sich umdrehte. So schnell er gestiegen war, so schnell sank er wieder in die Tiefe, als sie nur Milena und André entdeckte. Widerwillig öffnete sie die Tür und
fuhr ihre Freunde ruppig an: "Was wollt ihr denn hier? Wie ihr seht, Julia ist nicht wiedergekommen!" Von der unfreundlichen Begrüßung ließen sich die beiden Besucher nicht beeindrucken. "Wir haben einen Korb frischer Erdbeeren dabei. Auf dem Weg zu dir waren wir noch im Supermarkt." Es war deutlich zu erkennen, welche Mühe sich Milena machte, um ihre Freundin auf andere Gedanken zu bringen. Ihr heiliges Gartenhaus wollte Sophia nicht teilen und so gingen die drei wieder nach drinnen. In ihrem Zimmer machten sie es sich auf dem großen Bett bequem. Ein Freund der Familie hatte es vor ein paar Jahren selbst gebaut. Auch Julia besaß so ein Bett. "Du darfst nicht die ganze Zeit an sie denken, das wird dich noch
verrückt machen", ging es Sophia durch den Kopf. Sie hatte gerade ein paar Gläser aus der Küche geholt, damit sie ihren Freunden etwas zu Trinken anbieten konnte. Dabei hatte sie sich so leise wie möglich verhalten, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erregen. Oben in ihrem Raum, hatte sich André auf den Boden gehockt. Er stöpselte drei Wii-Controller ein und drehte sich mit einer akrobatischen Bewegung zu Sophia um. "Tanz' dir den Frust von der Seele!", forderte er sie auf und sie konnte nicht anders, als zuzustimmen. Die Drei duellierten sich in einem Tanzbattle und Sophia ging als Siegerin des Kopf-an-Kopf-Rennens hervor. Gekonnt simulierte sie mit den richtigen Bewegungen die Choreographien und ohne
es zu merken, rückte die Sorge um Julia für einige Zeit in den Hintergrund. Die Freunde lieferten sich noch zahlreiche andere Wettkämpfe, ehe sie völlig erschöpft und außer Atem auf dem Laminatboden liegen blieben. Durch die immer noch heißen Temperaturen des Sommerwetters klebten ihnen die Haare im Nacken fest. Zur Erfrischung gönnten sie sich eisgekühlten Orangensaft. Milena und André hatten es geschafft, Sophia abzulenken. Kurz bevor die beiden sich wieder auf den Heimweg machten, genossen sie noch den süßlich-sauren Geschmack der letzten Erdbeeren, die übrig geblieben waren. "Danke", mehr brachte Sophia an der Haustür nicht heraus und drückte ihre Freunde stattdessen in einer
festen Umarmung. Die Tür schloss sich und die Stimme des Nachrichtensprechers drang aus dem angrenzenden Wohnzimmer. Sophia wurde neugierig und tapste in den freundlichen Raum. Das zarte Beige der Wände strahlte ein beruhigendes Gefühl aus. Ihre Eltern saßen auf dem weißen Leinensofa und schauten ihre Tochter mit großen Augen erwartungsvoll an. Verärgert wollte Sophia fast wieder gehen, als das Fotos eines jungen Mädchens über den Bildschirm flackerte. Das Pochen ihres Herzen wurde schneller und jegliche Nerven spannten sie an. Auch ihre Eltern hatten ruckartig den Blick wieder auf den Fernseher gerichtet. "Die Polizei musste heute Morgen einen grausigen Fund am Rolandufer
machen. Laut Angaben der Mordkommission wurde die Leiche der kleinen Marika P. in einem verlassenen Industriegebäude entdeckt." Der Bericht ging noch weiter, aber Sophia hörte nicht mehr hin. Wie ihre Eltern, hatte sie für einen kurzen Augenblick geglaubt, in die Augen ihrer Schwester zu blicken. Während der Nacht wurde sie von Albträumen geplagt. In den Lokalnachrichten erschien das Bild von Julia und der Sprecher teilte ihr mit: "Rücksichtslose Jugendliche schickte ihre Schwester in den Tod." Mit einem lauten "Nein, das wollte ich nicht!", schreckte Sophia aus ihrem Schlaf hoch. Von ihrer Stirn tropften kleine Schweißperlen, die ihr in den Augen brannten und schließlich in dem softeisfarbenen Kopfkissen
versickerten. Die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Morgens mogelten sich durch die Jalousien. Sophia war hellwach und stürmte in das Nachbarzimmer. Hier war die Bettdecke unberührt und traurige Teddyaugen schauten ihr entgegen, mit nur einer Frage: "Wo ist Julia?" "Ich kann sie euch leider nicht beantworten", Sophia schluchzte und machte sich auf den Weg in die Küche. Ihre Eltern hatten verlangt, dass sie trotz der schwierigen Umstände in der Schule erscheinen sollte. "Schwierige Umstände! Typisch meine Eltern, die immer den Schein eines perfekten Familienlebens wahren wollen", dachte sie verbittert und lief fast in die Arme ihres Vaters. "Was machst du denn schon hier?", wollte er wissen,
schnappte sich den Arbeitskoffer und war auf dem Weg zur Haustür. "Konnte nicht schlafen", murmelte Sophia, woraufhin ihr Vater nur ein kurzangebundenes Nicken von sich gab. Entmutigt holte sie sich eine Müslischale aus dem Schrank. Ein angenehmer Luftzug strömte durch die geöffnete Haustür in die aufgeheizten Räume. Sophia war überrascht, wieder Schritte hinter sich zu hören. Ihr Vater war in die Küche zurückgekehrt, wie versteinert öffnete er einen ausgeblichenen Briefumschlag. Seine Hände zitterten und das Papier glitt ihm aus den Fingern und segelte sachte zu Boden. Schief angeordnete Zeitungsschnipsel waren mühelos aufgeklebt worden. Ehe Thomas
Lauer seiner Tochter den Briefbogen wieder entreißen konnte, begann sie zu lesen: "Ich habe Ihre Tochter in meiner Gewalt. 1000.000 Euro für ihr Leben. Keine Polizei. Weitere Anweisungen kommen. Mit freundlichen Grüßen der Erpresser." Sophias dunkelste Vorahnungen hatten sich bestätigt. Auch sie ließ das Schreiben auf den Boden fallen. Auf den weißen Fliesen brannten sich die Buchstaben noch einmal in ihre Netzhaut.
ImiLovesEils sehr gut geschrieben, weiter so :)! |
Julietta Re: - Zitat: (Original von Scooray am 01.06.2013 - 16:43 Uhr) Die Story hört sich nach mehr an ;) Wirklich gut geschrieben, gut durchdacht und lässt sich flüssig lesen. Ich freue mich auf die Fortsetzung lg, Kathi Erst einmal vielen Dank für deine netten Worte! Ich habe mich sehr darüber gefreut ;)) Und ich werde versuchen meine Urlaubszeit auch fürs Schreiben zu nutzen. Lg Julietta |
Julietta Re: - Zitat: (Original von BigMama2505 am 17.04.2013 - 12:04 Uhr) Ein toller Krimi, der Spaß macht auf mehr! Ich freue mich schon jetzt auf die Fortsetzung. Vielen lieben Dank für den netten Kommentar, ich versuche sobald es geht, weiterzuschreiben ;))) Lg Julietta |
BigMama2505 Ein toller Krimi, der Spaß macht auf mehr! Ich freue mich schon jetzt auf die Fortsetzung. |
Julietta Re: - Zitat: (Original von LukasTetzlaff am 23.03.2013 - 20:48 Uhr) Klasse gemacht. Klar, hier und da kann man sich immer noch verbessern, aber 4 Sterne erachte ich für ausreichend. Super geschrieben, spannend. Ich kann nur sagen: Mach weiter so! danke für deinen Kommentar und die Bewertung ;) Ich werde auf jeden Fall weiterschreiben.... Lg Julietta |
LukasTetzlaff Klasse gemacht. Klar, hier und da kann man sich immer noch verbessern, aber 4 Sterne erachte ich für ausreichend. Super geschrieben, spannend. Ich kann nur sagen: Mach weiter so! |
Julietta Re: - Zitat: (Original von petjula007 am 17.03.2013 - 22:20 Uhr) Hört sich ganz gut an. Flüssig geschrieben. Geht ja sicherlich weiter? LG petjula007 danke für deinen Kommentar ;)) ja,es ist erst der Anfang meiner Geschichte-es geht also auf jeden Fall weiter Lg Julietta |