Du fehlst mir so sehr ...
Wir wussten es beide, damals, an jenem Abend auf La Palma.
Ich stelle mir oft die Frage, warum wir nicht geredet haben, wo wir doch sonst immer Worte hatten – tröstende Worte, heitere und leichte, ironische oder auch banale, klärende, sachliche, verrückte, spielerische. Wenn einem von uns mal die Worte fehlten, der andere fand sie unter Garantie. Wir hatten Worte für das Leben, für Gefühle, für Gedanken, für die Liebe. Nur für den Tod und das Sterben hatten wir keine – damals nicht, nicht in diesem letzten
Sommer.
Im Zimmer warfen die Möbel lange Schatten, das schwächer werdende Licht der Abendsonne tauchte den Raum in eine Atmosphäre, die geheimnisvoll anmutete. Wir saßen uns fern gegenüber, doch die Nähe war, wie so oft, fast mit Händen greifbar. Nicht, dass wir schwiegen, jedoch waren es die falschen Worte oder zumindest nicht solche von Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, die wir uns zuwarfen.
Mitten im Rekapitulieren unseres Erlebnisses vom Vormittag – ein junges Pärchen hatte eine Katze mit an den Strand gebracht und das Tier steckte im
Rucksack, es fühlte sich unbehaglich, du regtest dich furchtbar auf – mitten in deinen ärgerlichen Worten tönte der Satz „Ich bin müde“ wie ein Donnerschlag in meinen Ohren und ich hörte nur heraus: „Ich kann nicht mehr“. Und nach einer kleinen Pause: „Ich möchte so viel tun, möglichst auf einmal, schade, dass man nicht in parallelen Spuren leben kann. „Ich – habe – keine – Zeit – mehr – ich - habe – keine ...", wie in einer Endlosschleife hörte ich hier nur diese Übersetzung.
Ich hielt es nicht mehr aus, nicht das schwache Licht, die Schatten im Raum, die falschen Worte, deine ferne Nähe. Wortlos verließ ich das Zimmer und ging
hinaus, langsam erst, dann schneller werdend. Ich rannte, rannte, bis ich keinen Atem mehr hatte, meine Beine nicht mehr spürte.
Du fehlst mir so ...
Tagebuchaufzeichnungen
Nun sitze ich hier an unserem Strand, fast allein. Wenige Menschen, wie hingetupft auf ihren bunten Handtüchern in weitem Abstand um mich herum. Hinter mir erhebt sich die monströse Felswand, deren bizarr zerklüftete Nase in das Meer hineinragt. Hier branden die Wellen meterhoch gegen das schwarze Gestein.
Ich warte. Worauf? Dass sich alles auflöst in ein Gespinst aus Irrtümern?
Gleich wird die Sonne im Meer versinken, immer war ich begierig,
dieses Schauspiel zu erleben, oft mit dir gemeinsam, als die Sommer noch lebendig waren. Nun bin ich allein und ich weiß, ich muss mich daran gewöhnen.
Der gelbe Ball am blassblauen Himmel wechselt die Farbe im Zeitraffer – dunkler werdend, orange, rot. Und dann ist er da, der ersehnte Moment. Das Meer sprüht Funken, die vom Horizont in einer langen Bahn zum Ufer hintanzen und sich in den Schaumkronen der Wellen verlieren.
Am Horizont ein schwacher Dunststreifen, in den der Feuerball hinabsinkt, um gleich darunter wieder aufzutauchen, dort, wo Himmel und
Wasser sich berühren.
Mein Gesicht ist nass – von der aufspritzenden Gischt oder von Tränen, die so lange ungeweint. Es spielt keine Rolle.
Die Glut versinkt allzu schnell im Meer. Ein zartes Rotgold breitet sich auf der Wasseroberfläche aus, dann wird das Meer grau wie mein Herz.
Du fehlst mir ...
Der Wind frischt auf und mich fröstelt. Zögernd ziehe ich das weiße Hemd über, das mir so viel zu groß ist. Ich habe jetzt eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen wird, ohne dich zu sein, und die Angst kriecht durch jede Zelle meines Körpers.
Ich bohre meine Zehen in den Sand, heftig, tief, um einen Widerstand zu spüren, aber die lockeren Körnchen bieten keinen Halt. Bodenlos, das Gefühl.
Und dann schreibe ich deinen Namen in den Sand, wieder und wieder und ich spüre dich mit jeder Faser meiner Seele. Deinen Namen werden die Wellen
auslöschen, du aber bist mir eingebrannt.
In diesem Moment kommt ein Lächeln so absichtslos und natürlich in mir hoch, und ich spüre, es malt sich in mein Gesicht, als sei es schon immer da gewesen. Meine Tränen sind getrocknet, die Zeit zum Weinen wird noch kommen. Ich fühle mich so viel jünger, als meine Jahre es sind, wie ein Kind, das sich nach einer starken Hand sehnt. Aber ich weiß, dass ich diesen Weg allein gehen muss.
Es ist Zeit, dir zu begegnen.
Ich laufe am Strand entlang, ein letzter Blick auf das kleine Boot, gegen dessen rot-weiße Planken die heranrollenden Wellen in gleichförmigem,
wiederkehrendem Rhythmus klatschen. Ich warte, bis mein Pulsschlag diesen Rhythmus aufgenommen hat. Dann gehe ich.
Du fehlst ...
Du standest in der Tür, als ich zurückkam. Schautest mich in diesem Moment nicht an, sondern dein Blick verlor sich in der Ferne irgendwo hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um, konnte aber nicht das sehen, was du sahst.
Mein Panzer ist brüchig in solchen Momenten, ich bin weicher dann. Als ich dir näher kam, spürte ich mit jedem Schritt die Zärtlichkeit wachsen. Ich wusste: Die Nacht wird kommen und keine Lügen zulassen.
Später saßen wir am Tisch, aßen, tranken wie gewohnt ein wenig Wein. Das Licht
der Kerzen umarmte unsere Haut, und es erfüllte mich mit Wärme.
„Kann man lernen, in den Schatten das Licht zu sehen?“, fragtest du plötzlich.
Worte, die ich nicht bereit war anzunehmen in diesem Moment. Ebenso wenig wie meine Worte „Ich ertrage es nicht, wenn du gehst“, die ich nicht einmal in meinen Gedanken haben wollte und sie bis zum Abgrund trug und ungesagt hineinwarf.
Und so blieb ich stumm, sah meine Worte nur in deinen Augen.
Die Nacht war endlos, ohne Schlaf, und unser Schweigen wenigstens ehrlich.
Die nächsten Tage waren erfüllt von Urlaubsroutine. Ich fand dich oft im
Sand liegend, ausgebreitete Arme und in deinen Augen spiegelte sich der Himmel. Ich konnte dir nicht folgen, zum ersten Mal in all den Jahren.
Wir wussten es beide, damals an jenem Abend.
Ich spüre noch deine Hand an meiner Wange, und deine Worte klingen in mir nach:
„Das Leben ist eine bittersüße Sinfonie, die du aber noch für dich komponieren musst.“
Ich musste dich gehen lassen. Werde leben, dieses bittersüße Leben mit all seinen Facetten. Du wirst nicht verblassen, aber ich spüre, dass der stechende Dorn seine Macht verliert und
die Erinnerung an dich mir nicht nur in meinen Träumen ein Lächeln in die Augen zaubert.
DU …
Du ...
"Du darfst weinen, wie bei jedem Abschied.
Diesmal werden deine Tränen ein Fluss sein, der mich sacht hinüberträgt."
(Lara)