Die Katastrophe und die Menschen
Ich erinnere mich noch genau an diesen 11. März 2011. Damals war ich in Berlin, es war später Abend, und ich musste an einer roten Ampel halten. Im Autoradio dudelte Musik, es folgten die Nachrichten. Plötzlich vernahm ich das Wort Fukushima und horchte auf. Es war die schreckliche Meldung über die Katastrophe. Zutiefst geschockt fuhr ich weiter. Zuhause angekommen rannte ich die Treppe hoch, riss die Tür auf, griff sofort zum Telefonhörer und wählte mir die Finger wund. Natürlich kam die folgenden Tage keine Verbindung mit meiner Freundin Hiroko zustande.
Ich machte mir wahnsinnige Sorgen um die japanischen Freunde. Die Nachrichten wurden immer fürchterlicher und die Bilder, die ich im Internet oder Fernseher sah, grausamer. Es war das schwerste Erdbeben in der Geschichte Japans, ihm folgte eine riesige Flutwelle, die Menschen, Schiffe, Autos und Häuser mit sich riss, und schließlich rief die Regierung den atomaren Notfall aus. Es kam zu Wasserstoffexplosionen in den Reaktoren des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi, die Lage war kritisch.
Mit Freunden, einer Familie, die in der Nähe von Tokyo wohnt, bekam ich
sofort Kontakt. Ich war erleichtert, mit ihnen zu sprechen. Auch sie hatten zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Informationen über Fukushima und machten sich große Sorgen um ihre Eltern, die an der vom Tsunami betroffenen Küste wohnten. Lange bekamen sie keine Verbindung. Unser Freund Seiji war froh, als er später erfuhr, dass sie überlebt hatten und ihr Haus noch steht.
Die nächsten Tage rief ich immer wieder in Tokyo an.
Seiji befand sich während des Erdbebens in seiner Wohnung. Tokyo ist etwa 270 km von Fukushima entfernt; die Entfernung zum Epizentrum des Bebens
betrug 350 km. Trotzdem waren die Erschütterungen in der Hauptstadt Japans deutlich zu spüren. Seiji musste seinen Schrank mit aller Kraft festhalten, da dieser umzukippen drohte. Das fand er als Japaner noch ganz normal. Von Tsunami und Radioaktivität erfuhr er erst später.
Bald darauf war das Trinkwasser auch von Tokyo deutlich radioaktiv belastet sowie Blattsalate, Milch und andere Lebensmittel. Meine Freunde waren verunsichert und verstört.
„Kommt nach Deutschland“, drängte ich immer wieder. Das wäre für sie kein Problem gewesen, da sie lange Zeit in Deutschland studiert und gelebt hatten.
Doch so einfach ist das nicht. Das Kind geht zur Schule. Was wird mit der Arbeit, den Haustieren, was mit der Wohnung, den Eltern ...?
Endlich kam eine telefonische Verbindung nach Fukushima zustande, ich konnte mit meiner Freundin sprechen. Ich freute mich, ihre Stimme zu hören. Hiroko versicherte mehrfach, dass es ihr den Umständen entsprechend gut gehe und sie ihr Haus nicht verloren habe.
Sie erzählte, wie sie wegen der Strahlung mehrere Tage in der Wohnung bleiben musste und ängstlich vor dem Fernseher saß, der ihre einzige Informationsquelle
war. Später wurde das Trinkwasser knapp. Die japanische Regierung hatte der Bevölkerung empfohlen, das dortige Leitungswasser nicht zu trinken. Es könnte belastet sein. Hin und wieder kam ein Wassertank. Das Wasser wurde zugeteilt und reichte nicht für die körperliche Hygiene. Erleichtert hörte ich, dass ihre Freunde, die auch ich kannte, die Katastrophe relativ unbeschadet überstanden hatten.
Hiroko hatte Angst vor der Strahlung, keiner wusste sie richtig einzuschätzen. Die Informationen der Regierung und der AKW-Betreibergesellschaft Tepco nahm sie schon damals kritisch auf.
Die Nachbeben belasteten die Japaner
zusätzlich. Hirokos Schwester, die auch in Fukushima lebt, hat seitdem schwere Schlafstörungen. Sie fürchtete erneute Beben und legte sich viele Folgenächte im Eingangsbereich des Hauses zum Schlafen nieder, um es im Notfall schnell verlassen zu können.
Ich war so froh, dass meine japanischen Freunde überlebt hatten und entsetzt über die dortigen Geschehnisse. Ich liebe Fukushima, den Nordosten Japans, auch Tohoku genannt. Ich habe das Meer und das Gebirge kennengelernt. Diese herrliche Natur ist für mich immer mit Menschen verbunden, Menschen, die sie mir gezeigt oder die mir geholfen hatten,
mich bei meinen alleinigen Ausflügen zurechtzufinden.
„Fukushima, das ist mein Garten.“ Dieser Satz setzt mich in eine Zeit zurück, wo mein japanisches Weltbild noch in Ordnung war. Jetzt machen mich diese Worte traurig. Ein Bekannter von Hiroko sprach sie aus. Er hatte mich mit seinem Toyota-Transporter durch den Bandai-Asahi-Nationalpark gefahren. Das ist ein wunderschönes vulkanisches Hochgebirge mit einer Durchschnittshöhe von etwa 2000 m. Er liebt seine Heimat und ganz besonders die Berge.
Ein Obstfarmer schenkte mir saftige Nashi (japanische Birnen) und zeigte mir stolz seine Obstbäume. Fukushima ist
eine ländliche Region und das größte Obstanbaugebiet Japans. Äpfel, Nashi, Pfirsiche und Pflaumen aus Fukushima sind im ganzen Land bekannt. Die vulkanische Erde ist sehr fruchtbar, die Bauern hängen an ihrem Boden. Reis und Gemüse gedeihen hier prächtig. Jetzt haben sie große Probleme, ihr Produkte zu verkaufen.
Viele Japaner meiden seit dem Unglück Lebensmittel aus Fukushima, obwohl sie von den Behörden täglich kontrolliert werden. Die gemessenen Strahlenwerte sollen ungefährlich sein. Die Ergebnisse werden in den Zeitungen oder im Fernsehen veröffentlicht, sodass sich jeder informieren kann. Doch das
Misstrauen ist groß. Meine Freundin verzichtet sogar auf frischen Fisch und bevorzugt gefrosteten Fisch aus dem Ausland. Was das für einen Japaner bedeutet, kann sich ein Europäer kaum vorstellen.
Endlich war es soweit. Meine Freundin aus Fukushima besuchte mich im Jahr 2012 in Deutschland. Die Freude war groß, als wir uns in den Armen lagen.
Die Katastrophe lastete auf ihr. Sie berichtete viel, doch weniger von den persönlichen Erlebnissen. Sie zeigte Ausschnitte aus japanischen Zeitungen, Grafiken über die Verteilung der Strahlung in der Region, zerstörte
Häuser und Landschaften, Berichte über die gegenseitige Hilfsbereitschaft der Menschen vor Ort. Auf einem Foto sah ich die Aula einer Schule. Auf dem Boden lagen ordentlich aufgereiht jede Menge gebrauchter Schulranzen. Die Bevölkerung spendete diese für bedürftige Kinder, damit sie wieder gut ausgerüstet in die Schule gehen konnten.
Ein Bild hatte mich beeindruckt. Es zeigte einen Hund, der in der Lage war, verschüttete Menschen zu orten. Sein Gesichtsausdruck suggerierte, alles Leid der Welt gesehen zu haben. So müde und gebrochen schauten mich seine Augen an.
Hiroko deutete auf eine Tabelle, deren
Zahlen bewiesen, dass sich die Einwohnerzahl von Fukushima seit der Katastrophe sehr verringert hat. Immer noch ziehen viele Familien weg, sogar bis nach Okinawa (südlichste Insel in Japan). Etwa 15.000 Personen sind durch den Tsunami ums Leben gekommen, 3000 werden noch vermisst. Mehr als 340 000 Betroffene mussten ihre Heimat verlassen. 87 000 Menschen flohen vor der Gefahr einer Verstrahlung durch das vom Tsunami zerstörte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Große Gebiete nahe dem Atomkraftwerk sind noch immer verstrahlt. Eine Rückkehr der Menschen wird wahrscheinlich nicht mehr möglich sein.
„Besonders die älteren Menschen finden sich schwer mit der neuen Situation ab“, sagte Hiroko. Seit dem Unglück ist deren Sterblichkeitsrate um das 3fache gestiegen.
Es herrscht Ärztemangel in Fukushima. Viele haben die Region verlassen. Und wer zieht schon nach Fukushima, um dort zu arbeiten? Jedenfalls kommen keine neuen Ärzte.
Der Schmerz um die alte Heimat, die sie teilweise nie wieder betreten dürfen, ist sehr groß. Eine Unterkunft haben alle Betroffenen gefunden. Sie wohnen jetzt in kleineren Wohnungen, die nach der Katastrophe errichtet wurden, oder sind vorübergehend in Hotels untergebracht.
Viele Menschen kommen von der Küste und müssen jetzt im Hochgebirge wohnen. Dort herrscht ein kälteres und raueres Klima, das ältere Menschen nur schwer vertragen und sie krank werden lässt.
Meine Freundin erzählte weiter: „Die psychischen Auswirkungen des Atomdesasters sind immens. Immer mehr Menschen leiden an Depressionen und verüben Selbstmord. Sie haben Angst, an Krebs zu erkranken und schauen hoffnungslos in die Zukunft.“
Die Zahl der Ehescheidungen nimmt zu. Familien leben getrennt, da es aufgrund der Probleme viel Zank und Streit gibt. Die Seele ist sehr belastet, das innere
Gleichgewicht gestört. Viele sehen ihr großes Haus, ihre Felder und Obstbäume oder ihr Fischerboot nie wieder.
„Sie haben alles verloren, keine Arbeit und keine Träume mehr“, wiederholte meine Freundin immer wieder.
Sie wühlte in den Zeitungsausschnitten und fand das Gewünschte. Die Bilder darauf kamen mir bekannt vor. Ich erkannte die buddhistische Tempelanlage Chusonji von Hiraizumi. Ich hatte sie bei meinem ersten Besuch in Japan besichtigt. Hiraizumi liegt etwa in der Mitte der Region Tohoku. Dort befand sich ab Ende des 11.Jahrhunderts unter dem Geschlecht der Fujiwara das Machtzentrum des Nordens, ein Reich, in
dem 100 Jahre Frieden und Harmonie herrschten. Die Epoche war von einer einzigartigen Kultur geprägt. Hiroko musste mir den dazugehörigen Text, dessen Schriftzeichen ich nicht übersetzen konnte, erklären. Die UNESCO hatte drei Monate nach der Katastrophe, die prachtvollen buddhistischen Tempel und die Gartenanlagen von Hiraizumi in die Liste der Welterbestätten aufgenommen. „Das ist gut für die dort lebenden Menschen, eine kleine Anerkennung“, meinte Hiroko.
Die Stimme meiner Freundin wurde wütend, als sie auf die japanische Regierung zu sprechen kam. Die meisten Japaner haben kein Vertrauen in ihre
Staatsführung, die immer viel verspricht, beschönigt und nichts ändert. Es sind der Bürgermeister und die örtlichen Behörden von Fukushima, die handeln und Pläne für die Zukunft machen. Niemand weiß, was kommen wird. Werden viele Menschen an den Folgen der Strahlung erkranken? Wer soll deren Behandlung bezahlen? Sie müsste kostenlos sein. Doch darüber spricht die Regierung nicht.
Hiroko faltete die Zeitungsausschnitte zusammen und schenkte sie mir mit den Worten: „Es ist wichtig, dass die Menschen von Fukushima nicht ihrem Schicksal überlassen bleiben, dass immer wieder über die Katastrophe und die
Betroffenen berichtet wird. Wir fühlen uns allein gelassen. Von unserer Regierung haben wir nicht viel zu erwarten. Wir allein müssen die Folgen der atomaren Katastrophe, die wir nicht zu verantworten haben, überwinden.“
Sie schweigt und fügt hinzu:
„Japan und die Welt dürfen Fukushima nicht vergessen.“
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