In einer Zeit, in der die Magie ihre Bedeutung verloren hat, stehen sich zwei mächtige Magiergilden gegenüber. Alison, eine junge Magierin der Gilde Crystal Moon, findet sich plötzlich inmitten eines Kampfes um die einzig wahre Macht wieder. Als sich die Situation zuspitzt, begibt sie sich auf die Suche nach ihrem Bruder und der Wahrheit über ein streng gehütetes Gildengeheimnis. Dabei wird sie viel mehr finden, als sie anfangs glaubt...
Die Dunkelhaarige leerte das Glas Whiskey in einem Zug und orderte sofort ein weiteres.
Der Alkohol half – zumindest ein bisschen. Sie fragte sich ununterbrochen, ob sie nicht etwas übersah. Ein kleiner Hinweis. Irgendwas, das sie auf der Suche nach ihrem Bruder weiterbrachte. In jedem gottverdammten Ort, an dem das kleine Team, dem sie unterworfen war, Rast machten, begab sie sich von neuem auf die Suche. Erfolglos. Nicht eine winzige Spur hatte sie in den vergangenen Monaten entdecken können.
Sie stellte das nächste Glas leer auf den Tresen.
Die Gildenmitglieder verloren langsam die Geduld, das wusste Alison genau. Irgendwann musste sie sich für ihre Alleingänge verantworten müssen und der Grund würde besonders dem Chef der Gilde überhaupt nicht gefallen.
„Schänken sie mir noch einen Whiskey ein!“, brummte sie den Wirt an.
Dieser warf ihr einen Blick zu, den sie nicht zu deuten vermochte. Vermutlich fragte er sich, wie eine junge Frau an einem Abend so viel Whiskey trinken konnte, ohne halbtot kotzend am Boden zu liegen. Die Antwort war denkbar einfach: In den letzten Monaten hatte Alison nach ihren erfolglosen Suchen so oft Bars und Kneipen aufgesucht, dass ihr Körper kaum noch auf den Alkohol, den sie sich einflößte, reagierte.
Nachdem Alison auch das letzte Glas ausgetrunken hatte, stand sie auf und legte etwas Geld auf den Tresen. Gestohlenes Geld. Sie rümpfte höhnisch die Nase. Was für ein Leben war das nur, das sie zu führen verdammt war. Verflucht. Abscheulich!
Seid die Gilde „Crystal Moon“ vor einiger Zeit als abtrünnig erklärt worden war, befand sie sich nun ununterbrochen in Geldnot. „Verdammte Scheiße!“, dachte sie sich, wenn sie daran dachte, wie die damals ehrenvolle Gilde sich in eine Bande aus Dieben gewandelt hatte. Sie hatte ihren einstigen Sinn verloren, zog nun durch die Lande, um ehrlose Aufträge zu erfüllen und nebenbei etwas Geld zu stehlen.
Als Alison die Tür der Kneipe öffnete, kam ihr ein Schwall frischer Luft entgegen. Es war eine sternklare Nacht und der volle Mond spendete genug Licht, um die Umrisse der Straßenzüge sichtbar zu machen. „Straßen... wohl eher Trampelpfade!“, grummelte Alison argwöhnisch.
Sie hatte es einmal so gut gehabt. Crystal Moon war eine angesehene Gilde gewesen, die ihren Mitgliedern ein angenehmes Leben hatte bieten können. Doch jetzt ging es bergab mit Crystal Moon. Was die Mitglieder führten, ließ sich kaum noch Leben schimpfen, jedoch war jeder einzelne von ihnen auf die Gilde angewiesen. Außer ihr hatten sie schließlich nichts. „Bis auf ihre Einstufung als abtrünnige Magier.“, stellte Alison genervt fest, während sie sich ihren Weg durch die verwinkelten Gassen der Kleinstadt bahnte.
Der Saum ihres Umhangs schlug ihr um die Fußgelenke, als sie in eine Gasse einbog, in der ein kühler Luftzug wehte. Alison vernahm aufgeregte Stimmen aus einem der dicht beieinander stehenden Gebäuden. Glas zerbrach und wenige Augenblicke später wurde die Tür der Kneipe von innen geöffnet. Ein Schrank von einem Mann schwankte betrunken ein paar Meter vor Alison auf die Gasse hinaus.
Jede andere wäre vermutlich ängstlich umgedreht und hätte sich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht, bevor der Betrunkene handgreiflich wurde – Alison nicht. Sie verlangsamte nicht einmal ihre Schritte. Warum auch? Sie war schließlich eine Magierin – und zwar eine verdammt mächtige. So mächtig, dass sie sogar den anderen Mitgliedern von Crystal Moon Angst einjagen konnte, wenn sie wütend wurde.
Es war daher üblich, dass man Alison aus dem Weg ging, ihre Entschlüsse nicht in Frage stellte und ihr nicht zu viel Macht überließ, damit niemand Schaden davontrug. So war sie in all den Jahren, die sie in der Gilde verbracht hatte, ein einfaches Mitglied geblieben, das die Aufträge auszuführen hatte, die der Gildenchef erteilte. Meist waren es die Aufträge, die sonst niemand machen wollte. Die, bei denen Alison keine Magie einsetzten musste.
Es kam, wie es kommen musste. Der Betrunkene schwankte auf die junge Frau zu, lallte unverständliche Worte vor sich hin und kam Alison bedrohlich nahe. Alles, was sie tat, war dem Mann direkt in die Augen zu schauen. Dieser blieb Sekundenbruchteile später wie versteinert stehen, während Alison ihren Weg fortsetzte.
Totenstille.
Ihr Ziel war ein kleines Lager, welches die kleine Gruppe aus Gildenmitglieder im nahegelegenen Wald aufgeschlagen hatten. Von dort aus sollten sie ihren bevorstehenden Auftrag planen und ausführen. Der Rest der Gilde befand sich unterdessen in ihrem Stützpunkt einige Meilen südlich von ihnen.
Während Alison sich durch das Unterholz schlug, setzte langsam die Dämmerung ein, wodurch sie den schmalen Pfad zwischen den Bäumen leicht erkennen konnte.
„Verdammt Alison!“, rief plötzlich eine Stimme – Johnnys Stimme.
Dieser war ein höher gestelltes Gildenmitglied als Alison. Sein Auftreten war unauffällig, er besaß dunkelbraune Haare, trug einen Drei-Tage-Bart und meist zerfetzte Jeans und ein einfaches, helles Hemd. Bei dem geplanten Auftrag sollte er im Hintergrund die Fäden ziehen und unterstand bloß dem Befehl des Gildenchefs.
Er kam eiligen Schrittes auf die Dunkelhaarige zu.
„Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Wir haben noch einiges zu besprechen.“, schimpfte er. „Reg dich ab!“, gab Alison zurück, „Ich bin jetzt da, okay?“ Er kam näher und musterte sie argwöhnisch. Alison verschränkte genervt die Arme. Er kannte sie doch. Wieso zum Teufel musste er sich trotzdem bei jedem Auftrag von neuem über sie aufregen?
„Du riechst nach Alkohol.“, stellte Johnny emotionslos fest. „Na und?“, fragte Alison abweisend.
Der Mann seufzte und ging anschließend noch einen Schritt näher auf sie zu. Sie standen sich nun unmittelbar gegenüber, so dass Alison ihren Vorgesetzten deutlich atmen hören konnte.
Vorsichtig fuhr er ihr mit der Hand durch ihre braunen Haare. Alison stand angespannt still. Sie hasste es, von Johnny berührt zu werden. Doch er war ihr Vorgesetzter. Es wäre unklug, ihn zu sehr zu verärgern.
„Warum tust du das nur, Alison.“, fragte Johnny leise, fast flüsternd, „Ein so schönes Mädchen, wie du, sollte sich nicht an den Alkohol verlieren.“ Sie gab keine Antwort. Zu groß war die Angst, die plötzlich in ihr aufstieg. Himmel! Johnny war der einzige Mensch, in dessen Gegenwart sie wirklich panisch wurde. Am Liebsten wäre sie weggerannt. Weit weg. Aber sie durfte nicht. Konnte nicht.
„Was ist los mit dir?“, fragte er noch einmal, „Was tust du immer, wenn wir in eine neue Stadt kommen?“ „Gar nichts.“, presste Alison hervor.
Johnny strich ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht. Dabei sah er so verträumt aus. Wenn Alison nicht gewusst hätte, wie falsch der Mann war, wäre sie glatt auf ihn hereingefallen – und das schon so oft.
„Hast du nicht gesagt, wir haben nicht viel Zeit?“, fragte Alison, „Sollten wird nicht...“ Ihre Worte verstummten, als er seinen Finger auf ihre Lippen legte. „Sch...“, machte er, „Du machst dir zu viele Sorgen.“ Sie drückte seinen Arm vorsichtig, jedoch bestimmt von sich und erwiderte: „Der Auftrag hat oberste Priorität. Wir sollten jetzt zu den anderen gehen und alles vorbereiten. Immerhin steht einiges auf dem Spiel.“ Sie zwinkerte ihm zu und setzte ein falsches Lächeln auf. Er fiel darauf hinein.
Trotzdem wusste Alison zu gut, dass er innerlich vor Wut kochen musste. Er hatte schon oft versucht, sie zu verführen und jedes Mal hatte sie Johnny abblitzen lassen. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis er die Geduld verlor? Er war zu stolz, um ihre Abfuhren schweigend über sich ergehen zu lassen. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem Alison sich nicht mehr wehren könnte, ohne dabei größeren Schaden zu vermeiden.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte Alison in Gedanken, während sie voraus zum Lager lief, „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann!“ Sie hatte längst beim Gildenchef einen Teamwechsel beantragt, doch auch das würde ihr nur wenig Zeit verschaffen. Johnny würde sie nicht einfach so gehen lassen. Er schien irgendetwas zu wissen, wodurch er das Mädchen an sein Team zu binden vermochte. Ein streng gehütetes Geheimnis, über welches nur er und der Gildenchef Bescheid wussten.
So lebte sie Tag für Tag mit der Angst vor Johnny und sie konnte nicht weg. Er würde sie überall hin verfolgen.
Die Anspannung fiel von Alison ab, als sie das Lager erreichten. Außer Bill war niemand da. Mike und George hatten wohl schon mit dem ersten Teil zur Erfüllung des Auftrags begonnen. Alison setzte sich daher schweigend zu Bill ans Lagerfeuer.
Dieser war schon um die 70 Jahre alt und somit eines der ältesten Mitglieder von Crystal Moon. Er kannte alle Geschichten und sollte sogar bei der Gründung der Gilde beteiligt gewesen sein. Noch immer war er ein beeindruckender Magier, klug und erfahren.
„Unser heutiges Ziel ist das Diadem von Riverside.“, erklärte Bill, „Die beste Möglichkeit, da heran zu kommen, ist der Ball heute Abend. Wir wissen bereits, dass 'Golden Fog' damit beauftragt wurde, unser Vorhaben zu verhindern.“ „Du meinst diese Gilde, die direkt dem König unterstellt ist?“, fragte Alison. Sie hatte schon oft von Golden Fog gehört, war jedoch niemals mit Mitglieder dieser Gilde zusammengestoßen.
Bill nickte.
„Offensichtlich hat das Königshaus Wind von unserem Vorhaben bekommen.“, erklärte er, „Deshalb müssen wir unseren Plan noch einmal überdenken. Alison, deine Aufgabe wird es sein, Golden Fog abzulenken.“ „Was meinst du?“, hakte Alison nach. „Wir werden dich wie geplant getarnt als Prinzessin Elizabeth einschleusen.“, fuhr Bill fort, „Doch statt die Situation zu überwachen, wirst du den Anführer von Golden Fog in ein Gespräch verwickeln, bis Mike und George an ihren Positionen sind und dann...“ „Dann lassen wir den Dingen einfach ihren Lauf.“, beendete Johnny Bills letzten Satz. „Wie soll ich das bitte verstehen?“, fragte Alison misstrauig, „Was hast du vor?“ „Das brauchst du nicht wissen.“, gab Johnny zurück.
Es war offensichtlich, dass er sauer war, weil er wieder eine Abfuhr von Alison kassiert hatte. Diese wusste allzu gut, dass sie sich dadurch in einer äußerst schwierigen Situation befand. Nicht zu wissen, was sie im Verlauf des Auftrages erwarten würde, könnte unter Umständen verheerende Folgen mit sich ziehen.
Alison sah hilfesuchend in Bills Richtung, doch der alte Magier schwieg. Er wusste, dass es gefährlich war, Johnnys Entscheidungen in Frage zu stellen. Außerdem vertraute er Johnny als Anführer des kleinen Teams.
Sie gingen den Plan mehrmals genau durch. Bill erzählte Alison alles, was er über Prinzessin Elizabeth, deren Rolle die junge Magierin annehmen sollte, wusste. Es vor von allergrößter Wichtigkeit, dass Alison kein Fehler unterlief, denn das würde den ganzen Auftrag gefährden. Elizabeth war eine recht unbekannte Prinzessin, deren Aussehen und Verhalten dem von Alison ähnelte. Deshalb eignete sie sich perfekt dafür, die junge Magierin in ihre Rolle schlüpfen zu lassen.
Nach der Besprechung wusch Alison sich im nahegelegenen Fluss sauber und Bill kümmerte sich darum, dass sie eine für den Ball taugliche Hochsteckfrisur erhielt, was sich als zeitaufwendiger als erwartet herausstellte.
Am Nachmittag kehrten Mike und George mit einer prunkvollen Kutsche, die von zwei Schimmeln gezogen wurde, zurück. Der kleinwüchsige Mike kletterte schwungvoll vom Kutschbock, während der stämmige George versuchte, die Tür der Kutsche von innen zu öffnen.
„Jungs, ihr habt ganze Arbeit geleistet!“, stellte Alison erstaunt fest, als sie das Gefährt begutachtete. „Für unsere Prinzessin nur das Beste!“, rief George, bevor Bill ihm half, die Tür zu öffnen und er tollpatschig ins Freie stolperte. Dabei hätte er um ein Haar das hellblaue Kleid, welches er in den Armen hielt, fallen gelassen.
„Was habt ihr mit der echten Elizabeth und ihren Begleitern gemacht?“, fragte Alison besorgt. Mike, der gerade die Räder der Kutsche kontrollierte, antwortete: „Die schlafen tief und fest und wenn sie morgen aufwachen, werden sie sich an nichts erinnern.“ Alison nickte. „Gut so.“, sagte sie.
Jeder wusste, dass Alison Gewalt verabscheute. So hatte es für sie oberste Priorität, dass während ihrer Missionen niemand zu Schaden kam.
„Genug gequatscht!“, herrschte Johnny sie nun an, „George, du bleibst hier bei Alison und hilfst ihr bei den Vorbereitungen. Bill, Mike, wir machen uns auf den Weg zum Schloss. Ich erwarte von euch vollen Einsatz. Wir treffen uns dann auf halber Strecke an der Brücke.“
So wie er es sagte, wurde es getan. Während Johnny, Bill und Mike sich zu Fuß auf den Weg zum Schloss machten, blieben Alison und George alleine zurück, worüber die Magierin sehr froh war. Die beiden hatten ein freundschaftliches Verhältnis zueinander und gerade jetzt brauchte Alison eine Person, mit der sie reden konnte.
Während George sich alle Mühe gab, des Korsett des Kleides fachgerecht zu verschnüren, fand Alison die Gelegenheit, ihm ihr Herz auszuschütten. Sie erzählte ihm, dass sie noch immer keinen Hinweis über den Verbleib ihres Bruders gefunden hatte und von Johnnys Verhalten ihr gegenüber.
„Ich fürchte, ich kann dir weder in der einen, noch in der anderen Angelegenheit helfen.“, stellte George enttäuscht fest, „In Bezug auf deinen Bruder, kann ich dir bloß den Rat geben, nicht aufzugeben. Du hast selbst einmal gesagt, dass du es gespürt hättest, wäre ihm etwas zugestoßen. Und das hast du doch nicht, oder?“ Alison seufzte, bevor sie antwortete: „Da hast du Recht, das habe ich nicht. Aber es ist zum Verzweifeln. Ich suche schon so lange und trotzdem bleibt er wie vom Erdboden verschluckt.“
Alison hatte das Gefühl, in dem Korsett nicht atmen zu können, trotzdem zog George es noch etwas enger. Die echte Prinzessin Elizabeth hatte leider die Angewohnheit, es so eng wie möglich schnüren zu lassen – ganz zu Alisons Leidwesen, denn Johnny hatte verlangt, dass die Tarnung perfekt sein sollte.
„Und was Johnny angeht...“, fuhr George fort, „Mir ist der Kerl nicht ganz geheuer. Du solltest dich auf jeden Fall in Acht nehmen und ihn so wenig wie möglich verärgern.“ „Das ist leichter gesagt, als getan.“, stellte Alison fest und schnappte nach Luft.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte sie, „Wie kann man sich nur freiwillig so quälen? Das ist ja die reinste Folter!“ George klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Denke immer daran, dass du es für Crystal Moon tust.“, sagte er, „Irgendwann werden sie dir dafür dankbar sein.“ „Hoffentlich!“, jappste Alison, „Aber ich fürchte, daraus wird nichts, solange die Gilde nur noch um ihr eigenes Überleben kämpft. Crystal Moon hat längst ihre frühere Bestimmung verloren. Wofür sind wir denn noch gut? Wir sind Kriminelle, George. Daran wird sich auch in tausend Jahren nichts ändern.“
George lächelte, während er antwortete: „Vielleicht. Aber ich glaube daran, dass man sich irgendwann an Crystal Moon erinnern und uns für unsere Taten verehren wird.“
Alison rümpfte argwöhnisch die Nase. „Wir wurden für abtrünnig erklärt, weil wir uns geweigert haben, für das Königreich in die Schlacht zu ziehen. Erinnerst du dich?“, fragte sie, „Daran können wir nichts mehr ändern. Die königstreuen Magier sind zu stark und außerdem unsere Feinde. Man wird uns niemals eine zweite Chance geben, uns zuhören und unsere Meinung niemals akzeptieren. Deswegen wird man uns auch niemals 'verehren'!“
George seufzte, gab jedoch keine Antwort mehr. Bald war Alison vollständig bekleidet und George begutachtete stolz sein Werk. „Weißt du eigentlich, wie wunderschön du bist?“, fragte er, „Ich wünschte nur, dass du innerlich nicht so verbittert wärst.“
Diesmal war es Alison, die nicht auf seine Bemerkung einging, sondern zur Eile drang. Johnny würde sauer werden, wenn sie nicht pünktlich am vereinbarten Ort erschienen. George warf sich schnell die Klamotten des Kutschers über und half Alison anschließend ins Innere der Kutsche. Schließlich kletterte er selbst auf den Kutschbock und setzte die Schimmel in Bewegung.
Alison atmete auf. Während der kurzen Fahrt zur Brücke hatte sie endlich die Gelegenheit, sich zu entspannen.
Sie hasste sich dafür, in einem gestohlenen Kleid mit einer gestohlenen Persönlichkeit in einer ebenso gestohlenen Kutsche zu sitzen, doch solange sie so für diesen einen Abend vor ihrem eigenen Leben davonlaufen konnte, nahm sie dies klaglos in Kauf. Sie tauschte heute ihren elenden, verlogenen Alltag gegen einen unbeschwerten Ball am Hofe ein und freute sich auf die unbeschwerte Stimmung, die heitere Musik und die farbenfrohen Kleider der Gäste.
„Tut mir Leid, Prinzessin Elizabeth.“, sagte Alison leise, während sie aus dem Fenster blickte und den Wald an sich vorbeirauschen sah, „Ich stehle dir ein wunderbares Fest. Bitte verzeih mir.“
Natürlich würde die echte Prinzessin ihr niemals verzeihen. Alison war eine Verbrecherin. Abschaum. „Verdammte Scheiße!“, fluchte sie. Was war nur aus ihr geworden. Wenn nur ihr Bruder bei ihr gewesen wäre. Er hätte gewusst, was zu tun war.
Schnell schüttelte Alison den Gedanken von sich. Er war nicht da und daran konnte sie in der aktuellen Lage nichts ändern. An diesem Abend war sie Prinzessin Elizabeth. Sie würde ihren Auftrag ausführen und anschließend in ihr eigenes Leben zurückkehren. Punkt.
Die Kutsche wurde langsamer und kam kurz darauf zum Stehen. Ein Blick aus dem Fenster verriet Alison, dass sie den vereinbarten Treffpunkt an der Brücke erreicht hatten. Wortlos kletterte Johnny zu Alison in die enge Kutsche, setzte sich ihr gegenüber und wenige Augenblicke später ging die Fahrt weiter.
Alles verlief nach Plan. Während Bill und Mike den Weg zum Schloss zu Fuß fortsetzten, warf sich Johnny die Klamotten des Leibwächters über, um sich so ebenfalls im Laufe der Mission Zutritt zum Schloss zu verschaffen.
„Mir ist immer noch nicht ganz klar, was du vorhin meintest.“, bemerkte Alison, während sie weiterhin aus dem Fenster starrte. „Hm?“, machte Johnny. „So ein Vollidiot!“, dachte Alison. Er wusste doch genau, was sie meinte. Sein ganzes Verhalten war so kindisch.
Genervt drehte sie sich zu ihm um. „Ich meine, was passieren soll, während ich den Anführer von Golden Fog ablenke.“, sagte sie, obwohl es wahrscheinlich sowieso zwecklos war, „Du hast gesagt, dass wir den Dingen einfach ihren Lauf lassen werden. Aber wie soll ich das verstehen? Auf was muss ich mich vorbereiten?“ Johnny bleib vollkommen ruhig, als er antwortete: „Das sollst du nicht wissen, weil unsere Mission sonst schief gehen würde.“ „Ach ja?“, hakte Alison nach, „Das glaube ich dir nicht.“
„Bleib ruhig.“, sagte Johnny, „Ich habe alles unter Kontrolle. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ „Tu' ich aber!“, schimpfte Alison, „Ich weiß nicht einmal, wie ich wieder aus dem Schloss rauskommen soll!“ „Sch...“, machte Johnny und legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Verdammter...!“, dachte sie und hielt angespannt die Luft an. Er konnte es nicht lassen. Er konnte einfach nicht die Finger von ihr lassen!
„Glaub mir, Alison.“, sagte er leise, „Ich würde dich niemals in Gefahr bringen, das kannst du mir glauben. Dafür habe ich noch zu viel mit dir vor.“
Alison wollte überhaupt nicht wissen, was er damit meinte. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung und gerade deshalb jagte er ihr so große Angst ein.
Zum Glück nahm er wenig später seinen Finger von ihren Lippen und lehnte sich lässig zurück. „Ich habe davon gehört, dass du beim Chef einen Teamwechsel beantragt hast.“, bemerkte er. „Na und?“, fragte Alison und starrte wieder aus dem Fenster. Sie hatte bereits befürchtet, dass Johnny früher oder später davon erfahren würde.
Alison hatte Glück. Johnny holte gerade Luft, um etwas zu sagen, als George von außen gegen die Wand der Kutsche klopfte – das Zeichen dafür, dass sie von diesem Zeitpunkt an ins Visier des Feindes geraten konnten und sich deshalb unauffällig verhalten mussten. Johnny zischte bloß noch: „Überlege dir gut, was du tust.“, dann schwieg er.
Für die junge Magierin war sofort klar, dass das eine Drohung war. Trotz ihrer Angst bemühte sie sich, so entspannt wie möglich zu wirken. Sie musste jetzt die Rolle von Prinzessin Elizabeth annehmen und so überzeugend wie möglich spielen. Das war alles, worauf sie sich konzentrieren durfte.
Sie war eine Prinzessin auf einem Ball.
Fröhlich und heiter.
Die Kutsche polterte auf den prunkvollen Innenhof des Schlosses, wo George die Gangart der Schimmel verlangsamte und vor dem Eingangstor zum Stehen brachte. Sofort öffnete ein Angestellter des Schlosses die Tür der Kutsche, woraufhin Johnny ins Freie kletterte und Alison eine Hand reichte, um ihr ebenfalls hinaus zu helfen.
Diesmal störte sie seine Berührung kaum, immerhin spielte er für diesen einen Abend die Rolle ihres Leibwächter. Nicht mehr und nicht weniger.
Für einen Moment lang ließ sie sich dazu hinreißen, einfach nur da zu stehen und das königliche Schloss zu bewundern. Neben diesem gewaltigen Gebäude fühlte sie sich so winzig, doch gleichzeitig verspürte es ein Gefühl von Unbeschwertheit. Wer hier ein und ausging, brauchte sich keine Sorgen um Geld oder Arbeit zu machen. Das Schloss symbolisierte ein Leben im Luxus.
Johnnys Räuspern riss Alison aus ihren Gedanken. Sie atmete tief durch und ging voraus zum Eingang, wo zwei weitere Angestellte standen und Alisons Einladung sehen wollten, als Beweis, dass es sich bei der Frau vor ihnen tatsächlich um Prinzessin Elizabeth handelte.
Alison tat so, als sei sie davon genervt und wandte sich mit einem fordernden Gesichtsausdruck Johnny zu. Dieser zückte die Einladung, welche George und Mike der echten Elizabeth abgenommen hatten. und den beiden wurde der Zutritt zum Schloss gewährt.
„Es ist so einfach.“, dachte Alison, „Fast so, als wäre ich tatsächlich auf diesem Ball geladen.“
Die Eingangshalle übertraf den Prunk der äußeren Fassade noch um ein Vielfaches. Der Marmorboden spiegelte den Schein der Kerzen an den Wänden und des Kronleuchters. Die Wände waren mit purem Gold besetzt und von den decken-hohen Fenstern aus wurde der Saal vom warmen Licht des Sonnenunterganges durchflutet.
Alison hielt den Atem an, während sie anmutigen Schrittes durch die Halle hindurch in Richtung des Stimmengewirrs und der Musik ging. Johnny folgte ihr mit einigen Schritten Abstand. Sobald sie denn Ballsaal erreicht haben sollten, würde er sich an einen Platz stellen, von dem aus er das Geschehen gut überblicken konnte. Niemand würde Verdacht schöpfen, denn die meisten geladenen Gäste reisten mit einem oder mehreren Leibwächtern an.
Alison brauchte sich nicht weiter um Johnny zu kümmern. Von hier aus gingen sie getrennte Wege. Jeder hatte seine Aufgabe, die es so gewissenhaft wie möglich zu erfüllen hatte. Sie mussten einander blind vertrauen, denn sobald sich ein Mitglied des kleinen Teams einen Fehler erlaubte, war die ganze Mission in Gefahr.
Alison würde den Anführer der gegnerischen Gilde ablenken, Bill hatte im Vorfeld Informationen beschafft und war nun damit beschäftigt, den genauen Ort und die Sicherheitsvorkehrungen des gesuchten Diadems auszukundschaften, George sollte dafür sorgen, dass der Weg dorthin frei war und Johnny verfolgte unauffällig das Geschehen, damit Mike im richtigen Moment das Diadem verschwinden lassen könnte.
Der Plan war perfekt durchdacht. Johnny hatte wie schon so oft eine lückenlose Strategie entwickelt, um das Risiko soweit wie möglich zu minimieren.
Alison hatte bloß nicht erfahren, wie sie das Schloss verlassen sollte, nachdem angesichts des verschwundenen Diadems Unruhe aufgekommen sein würde. Die junge Magierin wusste, dass man das Schloss sofort abriegeln würde, sobald man den Diebstahl bemerkte. Dann wäre eine unbemerkte Flucht unmöglich und es würde nicht lange dauern, bis man sie enttarnte.
Sie verdrängte diese Ungewissheit aus ihrem Kopf und betrat den Ballsaal, in dem schon sehr viele Festgäste versammelt waren. Alison war tatsächlich eine der letzten, die noch auf dem Ball eintrafen.
Es war das erste Mal, dass sie an einem solchen Ball teilnahm. Alles, was sie darüber wusste, hatte sie zuvor von Bill erzählt bekommen. So war ihr auch bekannt, dass sie den für Prinzessin Elizabeth reservierten Platz an einem der Tische finden musste, um dort das Essen serviert zu bekommen.
Sie wurde beinahe von einem schlechten Gewissen geplagt, wenn sie daran dachte, dass sie sich an diesem Abend den Magen vollschlagen durfte, während ihre Teamkameraden konzentriert arbeiteten und dabei hungerten.
Bill hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Alison wusste nicht, wie er das geschafft hatte, aber er hatte ihr zuvor den genauen Standort ihres Tisches verraten können und zu ihrer Überraschung entdeckte sie am Nachbartisch sogar ihre Zielperson.
Offensichtlich verfolgte die gegnerische Gilde Golden Fog eine Strategie, die der von Crystal Moon recht ähnlich war. Der Anführer des Teams, welches die Mission ausführte, hatte sich als Gast getarnt unter die feiernden Adeligen gemischt. Hätte Bill ihn nicht zuvor genau beschrieben, wäre er Alison nicht sofort aufgefallen.
Sie erkannte ihn an den strahlend blauen Augen, welche als einziges auffallend an ihm waren, denn sonst besaß er durchschnittliche hellbraune Haare und eine unauffällige Gestalt. Jedoch spürte Alison die Magie, die von dem Jungen Teamführer ausging, was bedeutete, dass er mit seinem Team in Kontakt stand.
Die junge Magierin war sich noch nicht sicher, wie sie ihn in ein Gespräch verwickeln sollte. Während gespeist wurde, konnte sie ohnehin nichts tun. Später würde jedoch heiter getanzt werden und dann würde die Zeit kommen, in der Alisons Team in Aktion trat.
Die Leute an Alisons Tisch nahmen kaum Notiz von ihr, was dieser gerade recht kam. Man sprach über Politik, den neusten Klatsch und den eigenen Reichtum – Themen, mit denen die junge Magierin ohnehin kaum vertraut war. Sie überlegte sich gut, wann sie etwas sagte und hielt sich weitgehend zurück. Offensichtlich schöpfte niemand verdacht, dass es sich bei dem Mädchen vor ihnen nicht um die echte Prinzessin Elizabeth handelte.
Als es immer mehr auf die Tanzfläche zog, wurde die Lage ernst.
Alison schaute sich um und entdeckte ihre Zielperson an der Theke, wo Getränke ausgegeben wurden. Sie erhob sich, ging ebenfalls dorthin und ließ sich ein Glas Wein aushändigen. Der Rest ging wie von selbst. Im richtigen Moment stand Alison dem Magier im Weg, so dass dieser ungeschickt sein Weinglas fallen ließ. „Was für ein Trottel!“, dachte Alison, unterdrückte jedoch ein Schmunzeln und schreckte zurück.
„Das tut mir schrecklich Leid!“, entschuldigte er sich sofort, „Wie kann ich das nur wieder gut machen?“ Alison schaute hinab auf ihr Kleid. Ein großer Weinfleck war darauf zu erkennen. Sie tat so, als sei sie genervt, stellte ihr Weinglas zurück auf die Theke und sagte: „Zuerst könnten Sie sich etwas einfallen lassen, woher ich jetzt ein neues Kleid bekommen soll.“
Klang das zu freundlich? Nein, er hatte nichts bemerkt.
„Ich mach das schon.“, versichertet der Trottel völlig durch den Wind, „Kommen Sie mit. Ich kann das nicht hier in der Öffentlichkeit machen.“ „Was soll das denn heißen?“, fragte Alison überrascht, folgte ihm jedoch aus dem Ballsaal hinaus in die Vorhalle.
Jede Faser ihres Körpers war angespannt. Hatte sie sich etwa doch verraten?
Der gegnerische Teamführer machte jedoch nicht den Eindruck, als führe er etwas im Schilde. Mit einem einfachen Zauber ließ er den Weinfleck von dem Kleid verschwinden. „Ein Magier?“, stellte Alison fest und bemühte sich, so überrascht wie möglich zu klingen, „Darf ich denn auch Ihren Namen erfahren?“ „Gray.“, stellte sich der Trottel vor, „Und Sie sind...“ „Ali- zabeth.“, korrigierte sie sich schnell, „Prinzessin Elizabeth.“
Überrascht stellte Alison fest, dass Gray sogar die Verbindung zu seinem Team aufgegeben hatte. Er machte es ihr so einfach – beinahe etwas zu einfach.
„Was hat den ein Magier auf einem solchen Ball zu suchen?“, fragte Alison, um ihn für längere Zeit in ein Gespräch zu verwickeln, „Ich kenne keinen Herzog oder Prinzen, der über Magie verfügt.“
Gray fuhr sich hilflos durch die Haare. „Das darf ich Ihnen nicht verraten.“, sagte er nervös, „Befehl von ganz oben.“ „Oh.“, machte Alison und legte einen besorgten Gesichtsausdruck auf, „Ich kann mich in Ihrer Gegenwart aber doch hoffentlich in Sicherheit wiegen?“
„Klang das zu schnulzig?“, fragte sie sich augenblicklich.
Es war wirklich nicht einfach, ihre Rolle perfekt zu spielen, dafür kannte sie die Umgangsformen des Adels zu wenig. Gray machte allerdings nicht den Eindruck, als habe er etwas bemerkt. Statt dessen legte er ein Grinsen auf und sagte: „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Hier kommt niemand unbemerkt rein oder raus, dafür sorgt mein Team schon.“
„Wissen Sie.“, sagte Alison, „Ich finde es ziemlich aufregend, mit so jemandem wie Ihnen zu sprechen. Die ganzen Leute dort im Ballsaal sind doch alle gleich. Arrogant, selbstverliebt und engstirnig.“
Gray lachte kurz auf, woraufhin Alison sagte: „Ich meine das ernst! Im Prinzip geht es doch immer nur darum, wer das größte Vermögen hat und den neusten Klatsch erzählen kann. Aber bei euch in den Magiergilden, da geschehen noch wirklich aufregende Dinge.“
„Nun ja.“, machte Gray verlegen, „Es wäre ruhiger, wenn wir nicht so viel Ärger mit den abtrünnigen Gilden hätten.“ „Ach ja?“, hakte Alison nach und tat interessiert. Warum auch nicht? Vielleicht konnte sie Gray ja ein paar nützliche Informationen entlocken. Das war an diesem Abend zwar nicht ihre Aufgabe, Johnny würde es dennoch akzeptieren.
Johnny... Hoffentlich blieb er ruhig, obwohl Alison und Gray längst aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Er durfte jetzt nur nicht versuchen, Kontakt zu ihr aufzunehmen, sonst würde sie sofort auffliegen. Obwohl der Golden-Fog-Idiot vor ihr vermutlich sowieso nichts bemerken würde.
„Sind die Abtrünnigen denn wirklich so gefährlich?“, wollte Alison wissen, als Gray nicht reagierte. Ob er überlegte, wie viel er verraten durfte? Insgesamt wirkte er wenig professionell. Wenn der Teamführer schon so wenig von seinem Fach verstand, wie konnte es dann sein, dass Golden Fog ihrer eigenen Gilde immerzu im Weg stand?
Irgendwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. War er etwa der Falsche? Aber warum hatte Johnny dann nicht reagiert. „Weil ich ihm keine Chance dazu gegeben habe.“, schoss es Alison durch den Kopf. Nein, Gray musste der richtige sein. Auf jeden Fall.
„Bis jetzt nicht, nein.“, antwortete Gray und Alison musste sich kurz daran erinnern, was sie als letztes gefragt hatte. Für einen Augenblick hatte sie sich zu sehr ihren Gedanken hingegeben. „Es ist nur schwierig, weil wir nicht genau wissen, was sie vor haben. Besonders Crystal gibt uns Rätsel auf.“
Er nannte ihre Gilde einfach Crystal. Das taten die wenigsten und in der Gilde war es nicht gerne gesehen. Nur ihre schlimmsten Feinde nannten sie so.
„Crystal Moon?“, fragte Alison interessiert, „Warum das?“
„Sie widersprechen sich selbst, sind schlecht organisiert und stellen sich gegen die Regierung, obwohl sie behaupten, nur das Beste für das Land zu wollen.“, erklärte Gray, „Crystal ist einfach schwer einzuschätzen und das macht sie so gefährlich.“
Seine Aussage war für Alison wie ein Schlag ins Gesicht. Sie musste sich ziemlich zurückhalten, um nicht wütend auf Gray loszugehen. Er kannte Crystal Moon überhaupt nicht. Seine Behauptungen wurden bloß von Gerüchten gestützt, die das Königshaus in die Welt gesetzt hatte, um Crystal Moon zu schaden. Weil es Angst vor der Gilde hatte und das nur, weil Crystal Moon ursprünglich einmal den alten Sinn der Magie und der Gilden zurückgefordert hatte.
Momentan fiel die Gilde auseinander, aber im Kern verfolgte sie noch immer ein edles Ziel. Auch wenn Alison es zuvor vor George geleugnet hatte, glaubte sie daran, dass Crystal Moon mit etwas Glück irgendwann einmal im alten Glanz zurückkehren würde – jedoch nicht aus eigener Kraft.
„Dazu ist nur mein Bruder in der Lage.“, überlegte Alison.
„Was ist los?“, fragte Gray.
Erst jetzt merkte Alison, dass sie zu sehr damit beschäftigt war, seine Anschuldigungen gegenüber Crystal Moon zu verarbeiten.
„Ich habe nur nachgedacht.“, gestand sie schnell, „Ich verstehe nicht ganz, warum eine schlecht organisierte Gilde Golden Fog so zusetzten kann. Ihr untersteht doch direkt dem König und geltet als stärkste Magiergilde des Landes. Solltet ihr nicht leichtes Spiel mit Crystal Moon haben?“
„Ich kann mich nicht daran erinnern, erwähnt zu haben, dass ich zu Golden Fog gehöre.“, überlegte Gray laut.
„Verdammt!“, schoss es Alison durch den Kopf, „Jetzt wird es gefährlich!“
Zum Glück fiel der jungen Magierin sofort eine Antwort darauf ein. „Ich dachte bloß, dass ein solcher Ball wie dieser nur den besten Schutz verdient.“, log sie, „Ich wüsste keine andere Gilde als Golden Fog, die besser dafür geeignet wäre.“
Alison war sich nicht sicher, ob Gray ihr die Lüge abkaufte. Er machte jedenfalls nicht den Eindruck, als mache er sich Sorgen. Im Gegenteil. Er setzte ein Lächeln auf und sagte: „Da könnten Sie Recht haben. Trotzdem ist es schwer, Crystal aufzuspüren. Aber wir haben es immerhin mittlerweile geschafft, einen Spion einzuschleusen.“
Das war glatt gelogen. Alison vertraute jedem in der Gilde blind – außer Johnny, aber der hasste Golden Fog zu sehr, um für sie zu spionieren. Warum erzählte Gray ihr so etwas? Was war sein Ziel? Wollte er einfach nur vor Prinzessin Elizabeth gut dastehen oder den schlechten Eindruck von Crystal Moon insgesamt bestärken?
Die Situation wurde zusehend komplizierter. Am liebsten hätte Alison Gray mit einem bestimmten Zauber bewegungsunfähig gemacht, doch sobald sie Magie einsetzte, würde ihre Tarnung auffliegen und die gesamte Mission gefährden. Sie musste sich so schnell wie möglich etwas einfallen lassen, um auf ein anderes Thema zu sprechen zu kommen. Lange würde sie einem Gespräch über Crystal Moon nicht mehr standhalten, ohne auszurasten.
„Wollen wir nicht wieder hinein gehen?“, fragte sie, um sich etwas mehr Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, „Ehrlich gesagt bin ich recht durstig.“
„Oh, ich habe eine bessere Idee.“, rief jedoch Gray. „Und die wäre?“, hackte Alison nach. Der Magier setzte ein Lächeln auf und sagte: „Kommen Sie mit! Sie werden es nicht bereuen.“
Sich noch weiter von Johnny entfernen? Wie sollte Alison dann herausfinden, wann die Mission abgeschlossen war und sie sich zurückziehen musste? Ihr war gar nicht wohl dabei, Gray die breite Marmortreppe hinauf in eines der oberen Stockwerke zu folgen. Irgendwo dort oben war Mike gerade damit beschäftigt, das Diadem verschwinden zu lassen. Hoffentlich war Gray dumm genug, um nichts zu bemerken.
Nur sehr zögerlich ging Alison die Treppe hinauf. „Nun kommen Sie schon.“, rief der Teamführer von Golden Fog, „Das ist schon in Ordnung. Wir dürfen hier hinauf gehen.“ „Ich wüsste einfach gerne, was Sie vorhaben.“, gab Alison zu. Gray grinste. „Das werden Sie schon sehen.“, antwortete er und verschwand in einem der Flure, die vom oberen Treppenabsatz in alle Richtungen verliefen.
„Gray?“, rief Alison und sah sich verängstigt um, „Sind Sie sicher, dass es in Ordnung ist, hier herum zu wandern?“ Dieser antwortete jedoch nicht, sondern lief voraus.
Alison schimpfte innerlich über die schwierigen Umstände. Gleichzeitig verfluchte sie Johnny dafür, sie in diese Lage gebracht zu haben. Nicht zu wissen, ob Gray ihre Tarnung durchschaut hatte oder er einfach nur dämlich war, machte sie wahnsinnig.
Was sollte sie tun? War die Mission bereits beendet, so dass sie unauffällig aus dem Schloss verschwinden konnte, oder musste sie den Teamführer weiterhin ablenken. Wie lange würde sie zweites überhaupt noch durchhalten?
Alison und Gray erreichten bald einen mittelgroßen Saal. Die Fenster waren von Vorhängen verhüllt, einzig einige Kerzen, die an der Wand angebracht waren, spendeten etwas Licht. Sonst war der Saal leer, bis auf eine Vitrine an der gegenüberliegenden Wand.
Neugierig ging Alison auf die Vitrine zu, während Gray an der Tür stehen blieb. Einige Schritte davor stellte sie jedoch fest, was sich hinter dem Glas befand. Nichts.
Sie ging näher heran, um ihren Verdacht zu bestätigen.
Da stand es, in Gold eingraviert am unteren Rand der Vitrine: Das Diadem von Riverside.
„Er weiß Alles!“, stellte Alison erschrocken fest und fuhr herum.
Die schwere Holztür fiel ins Schloss und verursachte dabei einen lauten Schlag, der bestimmt durch das ganze Gebäude hallte. Gray, der zuvor so unbeholfen und naiv gewirkt hatte, kam nun zielstrebig auf sie zu und rief abfällig: „Raus damit! Was habt ihr mit dem Diadem vor?“ „Woher...“, stammelte Alison und wich zurück. Dabei trat sie mit dem Absatz ihrer Schuhe auf den Saum des Kleides, wodurch sie ins Straucheln geriet und rücklings auf den kalten Marmorboden stürzte.
Die junge Magierin konnte deutlich spüren, dass Gray Kontakt zu seinem Team aufnahm. Jetzt wurde es gefährlich. Wenn sie nicht schnell wieder auf die Füße kam, konnte sie ihn nicht durch einen Blick in seine Augen außer Gefecht setzten.
Doch es war zu spät. Mit einer unsichtbaren Fessel hielt er sie am Boden fest. „Verflucht!“, schimpfte sie innerlich, „Es wird schwierig, hier wieder raus zu kommen.“
„Habt ihr Trottel von Crystal tatsächlich geglaubt, ihr würdet mit der Nummer durchkommen?“, fragte Gray höhnisch. „Sind wir doch!“, zischte Alison, „Das Diadem ist inzwischen weit weg. Das werdet ihr niemals wiedersehen!“
Seine Magie war stark. Sobald sie sich bewegte, zogen sich die Fesseln noch enger zu. Auch die komplizierten Entfesselungszauber, die Alison beherrschte, wirkten nicht gegen Grays Kraft. Alison saß in der Falle.
„Das glaubst du!“, gab Gray zurück, „Immerhin haben wir dich. Crystal gibt das Diadem zurück und dafür lassen wir dich gehen. Ist das nicht ein guter Deal?“ Alison setzte ein Grinsen auf. „Hältst du Crystal Moon für so naiv? Das Schicksal des Einzelnen ist wichtig, ja. Aber wir dürfen unser eigenes Leben nicht über eine Mission stellen.“, konterte sie sofort.
„Du willst dich für ein dämliches Diadem opfern?“, fragte Gray verständnislos.
Alison aber schüttelte den Kopf und erklärte genervt: „Man wird mich nicht eintauschen, aber befreien werden meine Kameraden mich trotzdem.“
Dann passierten plötzlich zwei Ereignisse gleichzeitig. Vom Flur aus waren eilige Schritte vernehmbar, die das Eintreffen von Grays Team ankündigten. Nahezu im selben Augenblick zersprangen die Fensterscheiben. Das zerbrochene Glas fiel klirrend auf den Marmor, während der Wind die Vorhänge weit in den Saal hineinblies.
Nachdem der erste Windstoß abgeklungen war, standen sie sich gegenüber: Crystal Moon und Golden Fog.
Bill löste die unsichtbare Fessel und half Alison auf, während George, Mike und Johnny sich dem Feind in den Weg stellten. Hinter Gray hatte sich sein Team versammelt. Eine Hand voll Magier, die keinen sonderlich schwachen Eindruck machten.
„Was hast du vor, Johnny?“, schrie Alison, die sofort erkannte, dass sie gegen die Truppe königlicher Magier keine Chance hatten, „Lass uns hier verschwinden!“ „Nein.“, sagte Johnny kalt, ohne die gegnerischen Gildenmitglieder aus den Augen zu lassen, „Ich möchte das hier ein für alle Mal beenden.“
Erschrocken stolperte Alison einen Schritt rückwärts. Das war also sein Plan. Hatte er nicht versprochen, dass bei dieser Mission niemand zu Schaden kam? Klar, es handelte sich um Golden Fog, ihren größten Feind. Aber was Johnny plante, war schlichtweg nicht vertretbar.
Es blieb jedoch keine Zeit zum Diskutieren, denn im nächsten Augenblick brach der Kampf los.
Johnny beschwor ein Schwert aus Feuer, mit dem er auf Gray losging. Dieser ließ Wasser aus seinen Handflächen spritzen und wehrte so Johnnys Schläge ab. Zwischendurch versuchte er mit Dolchen aus Eis Gegenangriffe, doch das Eis schmolz angesichts der großen Hitze sofort.
Mike stellte sich unterdessen einem Schrank von Mann entgegen, der bestimmt doppelt so groß war, wie der Kleinwüchsige. Beide konzentrierten all ihre Magie in den Fäusten, wodurch ein schneller, heftiger Schlagabtausch zu Stande kam.
George versuchte derweilen, seinen wendigen Gegner durch gezieltes Aufblasen und anschließendes Wind freisetzten auf Distanz zu halten, was sich allerdings als äußerst schwierig erwies, da das Mitglied von Golden Fog kaum Angriffsfläche bot. Wenn er zu nah kam, teile George fleißig Fausthiebe aus, doch auch diese hatten kaum den gewünschten Effekt. Der Angreifer konterte geschickt.
Bills Kampftechnik unterschied sich hingegen stark von denen seiner jüngeren Kameraden. Er formte Gestalten aus Schatten und versuchte mit diesen, seinen Gegner festzusetzen, doch dieser erzeugte ein helles Licht, welches Bills Schatten vertrieb.
Alison musste sich einem Mann stellen, der die zerbrochenen Glasscherben zum Schweben brachte, um diese anschließend auf die junge Magierin zu jagen. Damit hielt er sie auf Distanz, so dass sie keinen Augenkontakt herstellen konnte. Verärgert beschwor sie ein Schwert herauf, mit welchem sie auf ihren Gegner losging. Dabei versuchte sie, die Scherben abzublocken, indem sie Magie in ihrer freien Hand bündelte und so ein Schutzschild erzeugte.
Ihr Gegner griff daraufhin aus mehreren Richtungen gleichzeitig an, was Alison stark in Bedrängnis brachte. Sie konnte sich kaum wehren, denn ihr Korsett schnitt ihr die Luft ab. Alison bekam kaum Luft, während sie verzweifelt versuchte, an ihren Gegner heran zu kommen.
Es war offensichtlich, dass Golden Fog im Voraus über Johnnys Team Bescheid gewusst haben musste. Sie waren perfekt auf diesen Kampf vorbereitet und ihre Chancen auf einen Sieg über die Crystal Moon Mitglieder waren unverschämt hoch.
„Johnny, wir müssen hier verschwinden!“, presste Alison noch einmal hervor. Sie war am Ende. Die Scherben hatten ihr in kürzester Zeit einige tiefe Schnittwunden zugefügt und sie war nicht einmal nah genug an ihren Gegner herangekommen, um diesen zu verletzten.
Verzweifelt warf sie ihr Schwert beiseite und schützte sich nun mit beiden Händen. Ihr Gegner verstärkte seinen Angriff jedoch noch einmal. Alisons Kräfte ließen nach. Sie wusste, dass sie sich etwas einfallen lassen musste.
„Alison!“, rief plötzlich George, „Wechsel!“
Die junge Magierin wusste sofort, was er meinte. George wollte gegen Alisons Gegner antreten, während diese seinen Angreifer übernahm. Erleichtert löste sie ihre Schutzschilder und sprintete zu ihrem Kameraden hinüber, der seinerseits den Wind abklingen ließ und sich dem Scherbenmann in den Weg stellte.
Nun kämpfte Alison gegen einen Mann, der sie nicht auf Distanz halten würde – zumindest glaubte sie dies, denn kaum hatte er begriffen, dass er nicht mehr gegen George kämpfte, änderte er seine Strategie und griff nun seinerseits mit den Scherben an.
Ebenso erging es Bill und Mike, als diese versuchten, ihre Gegner zu tauschen.
Offensichtlich beherrschten die Mitglieder von Golden Fog vielseitige Kampftechniken, während sich die Mitglieder von Crystal Moon jeweils auf eine konzentrierte, um diese besonders stark auszuprägen.
Die Lage schien ausweglos, doch dann begann plötzlich der Boden zu beben.
Die Kämpfenden hielten in ihren Bewegungen inne, um herauszufinden, wieso dies geschah. Bloß Johnny nutzte die Gelegenheit, Gray einen Stoß zu versetzten, der heftig genug war, um diesen außer Gefecht zu setzen. Ohne weiter auf die bebende Erde zu achten, brach der Kampf erneut aus, doch nun war Crystal Moon in der Überzahl.
Johnny eilte zuerst Mike zur Hilfe, dessen Gegner sie gemeinsam schnell bewusstlos schlugen. Während sie nun Bill und George unterstützen, stand Alison noch immer alleine einem Magier gegenüber, der sie mit Glasscherben attackierte.
Sie bekam keine Luft mehr, wich kraftlos zurück, stolperte von neuem über den Saum ihres Kleides und stürzte. Das letzte, was sie wahr nahm, war ein schmerzvoller Stoß gegen ihren Hinterkopf, dann verschwamm ihre Sicht und sie wurde bewusstlos.
Als Alison aus ihrem tiefen Schlaf erwachte, glaubte sie, ihr Kopf müsse jeden Augenblick explodieren. Mühevoll öffnete sie die Augen und setzte sich auf.
Man hatte die tiefen Wunden an ihrem Körper verbunden und das Korsett aufgeschnürt, so dass sie wieder frei atmen konnte. Der Ort, an dem sie sich befand, war ihr unbekannt. Es war eine Lichtung im tiefen Nadelwald. Um sie herum herrschte Dunkelheit, nur ein Lagerfeuer spendete etwas Licht. Und dort saßen sie: Johnny, George und Mike.
Vorsichtig rappelte Alison sich auf und ging zu ihren Kameraden hinüber. Was wohl geschehen war, nachdem sie bewusstlos wurde? Wie waren sie aus dem Schloss entkommen? Was hatte das Erdbeben verursacht und vor allem: Woher wussten die Golden-Fog-Mitglieder von ihrer Anwesenheit?
So viele unbeantwortete Fragen schwirrten durch ihren Kopf, dass sie kaum saß, als Alison begann, ihre Kameraden auszuquetschen.
„Wo sollen wir anfangen?“, überlegte George, der einen sehr niedergeschlagenen Eindruck machte. „Ihr fangt nirgendwo an.“, fuhr Johnny dazwischen, „Bewacht ihr den Gefangenen! Der ist gerade aufgewacht, glaube ich. Ich werde Alison alles erzählen.“ „Ein Gefangener?“, rief Alison und wusste nicht, ob sie überrascht oder entsetzt sein sollte, „Was geht hier vor, Johnny?“
„Die haben Bill umgebracht! Das geht hier vor.“, rief Johnny. Der Schock war Alison wie ins Gesicht geschrieben. „Was...?“, presste sie ungläubig hervor, „Aber... nein... nicht Bill!“ „Oh, doch!“, rief Johnny wütend, „Und soll ich dir noch was sagen? Bill hat für Golden Fog spioniert. Er hat zu denen gehört.“
Nein, dass konnte nicht sein. Bill hatte immer zu Crystal Moon gehört. Wieso sollte er die Seiten gewechselt haben? Und hatte er nicht immer das Team mit nützlichen Informationen versorgt?
„Aber...“, stammelte Alison, „Das ergibt keinen Sinn.“
„Klar doch!“, fuhr Johnny fort, „Unser lieber Bill hat uns verraten, so sieht es aus. Er hat Golden Fog von unserer Mission erzählt. Nur deshalb ist die Situation außer Kontrolle geraten. Er hat uns alle in Lebensgefahr gebracht – vor allem dich.“
Ungläubig starrte Alison ins Feuer. Sie wollte nicht glauben, was Johnny ihr erzählte. Sie wehrte sich dagegen, doch alles, was er sagte, machte Sinn. Es erklärte, warum Gray sie enttarnt und wieso Golden Fog über ihre Fähigkeiten Bescheid gewusst hatte.
„Ich habe es bemerkt, als dieser Gray mit dir den Saal verlassen hat.“, erklärte Johnny, „Daraufhin hab ich das Team sofort zusammengerufen und das Diadem verschwinden lassen. Dann erst hat Bill begriffen, dass man dich womöglich umbringen wird und ist mit uns gekommen, um dich zu befreien.“
„Was ist danach passiert?“, stammelte Alison. „Wann?“, fragte Johnny nach. „Nachdem ich bewusstlos wurde.“, antwortete sie, „Was ist dann passiert?“
„Ach so.“, machte Johnny, „Dein Gegner hätte dich um ein Haar umgebracht. Bill hat sich ihm in den Weg gestellt.“ „Aber dann war er ja doch auf unserer Seite!“, stellte Alison fest, „Er hat mir das Leben gerettet. Das tun nur echte Freunde!“
Johnny schüttelte höhnisch lachend den Kopf. „Du warst die einzige von uns, die ihm etwas bedeutet hat.“, sagte er abfällig, „Ich weiß nicht warum, aber er hat nur mit uns gekämpft, um dich zu beschützen.“
Alison wandte ihren Blick wieder von Johnny ab, um von Neuem ins Feuer zu starren.
Bill hatte sein Leben gegeben, um sie zu retten. Obwohl er zuvor Zeuge von ihrer unheimlichen Macht geworden war. Zeuge davon, wie gefährlich Alison eigentlich war. Sie wusste nicht, ob Johnny ahnte, dass sie die Ursache der Erdbebens gewesen war. Eine unheimliche Kraft, die in der Magierin schlummerte und immer dann zum Vorschein trat, wenn sie in allergrößter Gefahr schwebte.
„Das war verantwortungslos von dir.“, sagte sie, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden, „Wir hätten fliehen sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten.“
„Hast du mal daran gedacht, dass ich Crystal Moon damit einen Gefallen getan habe?“, fuhr Johnny sie an. Seine Stimme wurde laut. „Wir haben vier Mitglieder von Golden Fog ausgeschaltet und eins gefangen genommen. Weißt du, wie viele Vorteile uns das bringt?“
„Aber doch nicht so!“, gab Alison zurück und stand ruckartig auf. Sie war wütend. Wütend auf Johnny, wütend auf Gray und die anderen Mitglieder von Golden Fog. „Man nennt uns Verbrecher, dabei wollten wir immer nur das Beste für die Menschen.“, schimpfte sie, „Und soll ich dir was sagen? Verdammte Scheiße. Mittlerweile sind wir Verbrecher. Verstehst du das denn nicht? So wird man uns nie akzeptieren!“
„Du denkst doch nicht etwa immer noch wie dein verfluchter Bruder?“, stellte Johnny argwöhnisch fest, „Friedlich kommen wir nicht weiter. Wir müssen kämpfen, wenn wir an die Macht wollen.“ „Aber es geht doch überhaupt nicht um Macht!“, verteidigte Alison sich, „Es ging immer nur um die Magie! Man darf sie nicht einsetzten, um Macht zu erlangen. Hast du das etwa vergessen?“
Auch Johnny war inzwischen aufgestanden und baute sich nun vor Alison auf. „Die Dinge ändern sich, Alison.“, fuhr er sie an, „Sogar dein Bruder hat sich geändert. Erinnerst du dich? Er ist bei dem Versuch verreckt, den König zu ermorden. Aber er war ja so ein toller Kerl. Ich bitte dich, Alison. Du glaubst doch nicht etwa immer noch, dass er überlebt hat.“
„Ich werde solange daran glauben, bis man mir das Gegenteil bewiesen hat.“, zischte Alison.
Johnny lachte abfällig.
„Du bist einfach viel zu naiv.“, stellte er fest, „Sieh der Wahrheit endlich ins Gesicht.“ „Das tu' ich. Darauf kannst du dich verlassen.“, gab Alison zurück und wollte sich gerade umdrehen, um alleine durch den Wald zu streifen. Die beste Möglichkeit, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, doch Johnny sagte: „Du wirst jetzt den Gefangenen bewachen. George und Mike haben sich etwas Schlaf verdient.“
Alison antwortete nicht darauf, wusste aber genau, dass sie lieber tun sollte, was Johnny sagte. Schweigend ging die in die Richtung, in die ihre Kameraden verschwunden waren. Einige Meter weiter erkannte sie die Umrisse von George und Mike. Sie standen vor einem Baum, an dessen Stamm eine weitere Person gefesselt war. Alison vermutete, dass es eine Fessel war, die Magie unterdrückte.
„Ich soll euch ablösen.“, brummte die junge Magierin. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte eine Stimme – George. Alison nickte. Sie wusste nicht, ob er es in der Dunkelheit gesehen hatte. Jedenfalls klopfte er ihm im Vorübergehen auf die Schulter.
Wenig später waren George und Mike außer Hörweite.
Seufzend ließ sich Alison auf den Boden sinken und lehnte sich gegen einen der Baumstämme. Beinahe hätte sie vergessen, dass sie nicht alleine war, hätte der Gefangene nicht auf sich aufmerksam gemacht: „Das gibt es doch nicht. Sie haben dich tatsächlich am Leben gelassen?“
Alison brauchte einen Augenblick, um die Stimme zuzuordnen, klang sie doch viel ernster, allerdings auch kraftloser als zuvor. Es war Gray.
„Oh nein!“, machte sie, „Warum gerade du?“ „Diese Frage stelle ich mir ebenfalls.“, stellte Gray argwöhnisch fest. Seufzend raufte Alison sich die Haare. Jetzt konnte sie also die ganze Nacht über bei dem Golden-Fog-Idioten herumsitzen. Das hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt.
„Verdammte Scheiße!“, sagte sie und merkte erst danach, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte. Aber wen störte es schon? Immerhin musste sie jetzt nicht mehr die Rolle von Prinzessin Elizabeth spielen.
„Ich sag dir eines.“, meinte Gray ernst, „Ihr werdet noch bereuen, was ihr meinem Team angetan habt.“ Alison ging nicht auf seine Drohung ein, sondern sagte: „Hat schon etwas Ironisches, oder? Es ist noch nicht lange her, da war ich die Gefesselte. Vielleicht ist Crystal Moon doch nicht so schlecht organisiert, wie du behauptet hast.“ „Ansichtssache.“, konterte Gray argwöhnisch.
Eine ganze Weile lang saßen sie einfach schweigend da. Johnny, Mike und George waren bald eingeschlafen, das fand Alison heraus, indem sie kurz versuchte, mithilfe von Magie Kontakt zu ihnen aufzunehmen.
Es war totenstill im Wald. Nicht ein wildlebendes Tier gab einen Laut von sich.
Irgendwann durchbrach Gray die Stille: „Ein interessantes Gespräch war das vorhin.“ „Was meinst du?“, fragte Alison desinteressiert. Eigentlich hätte sie gar nicht antworten sollen. Vermutlich wollte er sowieso nur irgendwas sagen, um Alisons Laune zu verschlechtern.
„Ich meine deinen Streit mit eurem Anführer.“, erklärte Gray. „Das hast du gehört?“, fragte Alison ungläubig, woraufhin Gray herzhaft lachte, wenig später jedoch wieder einen ernsten Gesichtsausdruck annahm. „Ich bin vielleicht gefesselt, aber leichte Zauber kann ich immer noch einsetzten.“, sagte er. Gray hatte also seine Magie dazu verwendet, um ihr Gespräch mit Johnny zu belauschen. Mistkerl.
„Von welchem Mordversuch habt ihr gesprochen?“, wollte er im nächsten Augenblick wissen, „Ich kann mich nicht daran erinnern, in den letzten zehn Jahren einen Anschlag erlebt zu haben. Dazu ist Crystal doch überhaupt nicht in der Lage.“ „Ach ja?“, machte Alison genervt. Sie wollte bloß ihre Ruhe haben. Warum musste der Idiot nur so gesprächig sein?
„Wenn du mich fragst, ist dein Bruder abgehauen.“, überlegte Gray laut, „Wahrscheinlich hatte er genug von Crystal. Ist ihm nicht zu verdenken.“
Wütend ballte Alison die Fäuste. Er wusste überhaupt nicht, wovon er da sprach. Andererseits bestätigte er ihren Verdacht, dass ihr Bruder noch lebte. Alison war hin und hergerissen. Einerseits verspürte sie das dringende Bedürfnis, Gray das Maul zu stopfen, andererseits wollte sie gerne mehr über seinen Verdacht wissen – nur zugeben würde sie das niemals. Nicht vor Gray.
„Wie heißt er eigentlich?“, fragte Gray schließlich. „Wer?“, fragte Alison, als sie merkte, dass sie wieder einmal in Gedanken versunken gewesen war. „Dein Bruder.“, antwortete Gray, „Oder hat er keinen Namen? Hat er gar einen gestohlenen Namen, so wie du?“ „Ich hab gar keinen gestohlenen Namen.“, verteidigte sich Alison und verdrehte genervt die Augen, „Und der Name meines Bruders geht dich nicht an. Das alles geht dich nichts an!“
Die Mitglieder von Crystal Moon nannten ihren Bruder nie beim Namen. So war es üblich, wenn ein Mitglied sich gegen die Gilde stellte. Ihr Bruder, der übrigens den Namen Ben trug, hatte dies getan. Er hatte als einziger erkannt, wie Crystal Moon den Boden unter den Füßen verloren hatte. Sie hatten ihm bloß nicht zugehört und schließlich auf eine Mission geschickt, die er nicht bestehen gekonnt hatte-
Alison merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen und hoffte, dass Gray dies nicht bemerkte.
Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als Ben zu der Mission aufgebrochen und nicht zurück gekehrt war. Der Chef hatte gesagt, er sei umgebracht worden. Alison war die einzige, die noch immer daran glaubte, dass er am Leben war. Er hatte nur nicht länger mit der Gilde leben können.
Ben musste sich genauso gefühlt haben, wie Alison jetzt. Sie war am Ende. Zuerst hatte sie geglaubt, ihr Leben als abtrünnige Magierin hätte längst einen Tiefpunkt erreicht. Nun war ihr Team auch noch für den Tod vierer Mitglieder von Golden Fog verantwortlich. Mord war nie ein Mittel ihrer Gilde gewesen. Doch diese entfernte sich unaufhaltsam von ihren alten Zielen. Das neue Ziel war also Macht. Damit würde sich Crystal Moon ins Verderben stürzen, da war sich Alison sicher.
Eines stand für die Magierin fest: Sie konnte nicht mehr. Jede Minute, die sie mit Johnny und dem Rest des Teams verbringen musste, machte sie fertig. Crystal Moon stürzte sich immer weiter ins Unglück und niemand hörte ihr zu. Wenn sie jedoch ehrlich war, hatte sie George auch nie zuhören wollen, wenn er seine Träume von einer besseren Zeit geäußert hatte.
„Wo versteckt man sich, wenn man von niemanden gefunden werden will?“, überlegte Alison laut. „Warum willst du das wissen?“, fragte Gray. Alison seufzte, ehe sie antwortete: „Ist doch egal. Antworte einfach!“
Gray überlegte einige Augenblicke lang, dann sagte er: „Ich würde sagen, irgendwo in den Bergen. Hinter dem Tal, wo die Drachen leben.“ „Meinst du?“, fragte Alison nachdenklich. Grays Überlegung ergab Sinn, zweifellos. Die Drachen stellten den ultimativen Schutz dar. Man musste es bloß schaffen, an ihnen vorbeizukommen.
Alleine könnte Alison den Weg dorthin niemals bewältigen. Doch wer sollte sie begleiten? Johnny würde sie niemals unterstützen, außerdem wollte sie ihn sowieso nicht dabei haben. Nein, es durfte niemand aus der Gilde sein. Ihr Bruder galt als Verräter. Sie würden ihr nicht dabei helfen, ihn zu suchen.
„Du willst doch nicht wirklich dorthin gehen, oder?“, fragte Gray plötzlich.
Alison sah den Golden-Fog-Idioten nachdenklich an. Was wäre, wenn... Nein, sie würde sich niemals mit diesem Mistkerl verbünden. Selbst wenn dies bedeuten würde, auf ewig mit der Schande von Crystal Moon leben zu müssen.
„Vergiss es einfach.“, knurrte sie und wandte sich von ihm ab. Wieso hatte sie sich überhaupt zu einem Gespräch mit dem Vollidioten hinreißen lassen. Er gehörte zum Feind. Alles, was sie sagte, könnte man womöglich irgendwann gegen sie verwenden. Sie beschloss, von nun an zu schweigen, doch Gray machte ohnehin keine Anstalten, noch einmal ein Wort an sie zu richten.
(...)