Kurzgeschichte
Grüne Augen

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"Grüne Augen"
Veröffentlicht am 12. März 2013, 4 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Das Schreiben hat mittlerweile Ausmaße erreicht, bei denen ich es nicht mehr als Hobby abtun kann. Es ist zur Krankheit geworden und ist gleichzeitig die Medizin. Problem und Therapie. Ich bin süchtig nach meinem Methadon, es ist mir mittlerweile wichtiger geworden als das Heroin. Die Worte sind Hunger und Brot zugleich. Sie halten mich nachts wach und machen mich tagsüber müde. Nichts liebe und hasse ich so sehr, wie das geschriebene Wort. Ich ...
Grüne Augen

Grüne Augen

Wegen der feuchten Nebelluft, knistern die Stromkabel über dem Gleis. Dieses Geräusch hallt bis zum Bahnsteig und hinterlässt ein Gefühl in mir, dessen Echo in der Stille immer wieder nachklingt.

 

Montag  8.30 Uhr

Der Zug in die Stadt ist fast leer. Ein paar Menschen fahren zur Arbeit, ein paar Schüler gehen zur Schule. An den Fenstern läuft eine Dia-Show, bestehend aus immer schneller wechselnden Landschaftsbildern und nur die Brandlöcher bleiben im Gedächtnis. Das Mädchen gegenüber hat dunkles Haar und grüne Augen, in welchen noch die letzte Müdigkeit des Wochenendes liegt.

 

Dienstag 8.30 Uhr

Jeden Morgen sind wir fast allein im Zug. Sie hat weiche, volle Lippen und blättert in einem Buch von Sartre. Der Ekel. Aber sie liest nicht, man sieht es in ihren Augen, sie ist mit ihren Gedanken ganz wo anders. Der Kaffee in ihrem Becher dampft noch. Ich mag keinen Kaffee, aber sie hat wunderschöne, unglaublich traurige, grüne Augen.

 

Mittwoch 8.35 Uhr

Sie schaut nervös auf ihre Uhr, der Zug hat Verspätung und ihre Haare sind noch feucht vom Herbstnebel. Eine einzige, einsame Träne tropft auf das Glas ihrer Armbanduhr und wäre es nicht da, dann würde die Zeit ihre Tränen verwischen.

 

Donnerstag 8.30 Uhr

Ich denke mir etwas Neues aus, will die Trauer mit einem Lächeln vertreiben. Als sie zurück lächelt, sehe ich für einen kurzen Augenblick, nur das klare, ungetrübte Grün ihrer Regenbogenhaut, das jetzt noch viel schöner ist, als jemals zuvor. Getragen von einer Welle der Euphorie, will ich ihr sagen, wie wunderschön sie ist. Morgen werde ich es tun, werde versuchen für immer ihre Tränen zu trocknen.

 

Freitag 9.00 Uhr

Der Zug wird nicht fahren. Personenschaden am Gleis. Sie sagen es sei ein junges Mädchen, mit dunklen Haaren und wunderschönen, grünen Augen, in den bis zuletzt eine stille, unüberwindbare Trauer lag. Ich stehe hier am Bahnsteig. Bitte komm. Ich will die Trauer von dir nehmen, dir tief in deine grünen Augen sehen und dir sagen, dass du das wunderschönste bist, das ich jemals gesehen habe. Und wegen der feuchten Nebelluft, knistern die Stromkabel über dem Gleis. Dieses Geräusch hallt bis zum Bahnsteig und hinterlässt ein Gefühl in mir, dessen Echo in der Stille, immer wieder nachklingt.

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Hörbuch

Über den Autor

weltenweiterw
Das Schreiben hat mittlerweile Ausmaße erreicht, bei denen ich es nicht mehr als Hobby abtun kann. Es ist zur Krankheit geworden und ist gleichzeitig die Medizin. Problem und Therapie. Ich bin süchtig nach meinem Methadon, es ist mir mittlerweile wichtiger geworden als das Heroin. Die Worte sind Hunger und Brot zugleich. Sie halten mich nachts wach und machen mich tagsüber müde. Nichts liebe und hasse ich so sehr, wie das geschriebene Wort. Ich kann nicht anders als es als meine Berufung zu sehen. Hermann Hesse trifft es mit seinen Worten am besten. Ich will Dichter werden oder Nichts.-Kerim Mallée

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Gast Wunderbar berührend!
Vor langer Zeit - Antworten
EllaWolke Sehr berührende Zeilen.
Gern gelesen.
LG Ella
Vor langer Zeit - Antworten
mynameismaddie Ich kann nur sagen: - Ich liebe es! Total bewegend! ich wünschte ich könnte auch so gut schreiben. (:
Vor langer Zeit - Antworten
VictoriaS Ich hab mir.... - mal Deinen Text audgeliehen und ihn umformuliert (also nicht im Sinne einer Belehrung, sondern eher im Sinne der Ausbeutung einer schönen Idee):

Die etwas Andere

Es ist März und die noch immer schneebedeckte Straße verhindert die Gedanken an Sonne und Frühling. Schmutziger Schnee, der wohl das ganze Jahr über liegen wird. Warmer Atem lässt Nebelwände steigen. Lebenszeichen.

Montag,
ich fahre an Dir vorbei. Aus den Augenwinkeln sehe ich Dich an der Bushaltestelle stehen. Im geblümten Kleid. Viel zu dünn für diese Jahreszeit. Viel zu bunt für dieses Jahreszeitgefühl. Mein Gefühl.
Im Rückspiegel sehe ich, wie sich links und rechts ein Halbkreis zu Dir gebildet hat. Neugierige Blicke auf einen bunten Vogel. Unterernährte Sehnsucht nach Farbe.

Dienstag,
ich warte nicht auf Dich, aber ich sehe Dich wieder. Kein geblümtes Kleid, aber wieder ganz viel Farbe. Widerspiegelnd im schmutzigen Schnee. Ich suche Dein Gesicht, ohne das Tempo zu verlangsamen. Blasses, fahles Gesicht in buntem Rahmen.

Mittwoch,
ich habe mir vorgenommen, Dich genau zu betrachten. Im Fluss der anderen Fahrzeuge fällt es mir schwer, mein Tempo so zu verlangsamen. Aber ich will Dich betrachten. Du stichst wieder von weitem hervor. Bunt, bunt, bunt. Wieder halten die anderen Wartenden Abstand zu Dir. Mir gelingt ein Blick in Deine Augen, Du erwiderst ihn nicht. Du blickst wie der schmutzige Schnee.

Donnerstag,
ich erwarte Dich schon auf meiner Fahrt. Der Bus ist vor mir da. Ich muss anhalten. Dies gibt mir die Zeit, Dich aus sicherem Abstand zu betrachten. Deine Kleidung schreit nach Leben. Ein roter Rock mit gelben Blumen. Sicherlich hat er schon fröhlichere Zeiten erlebt. Gelbe Schuhe und gelber Mantel. Zwei Zöpfe zeichnen Dein Profil. Es war mir bisher entgangen, dass Du lange Haare hast.
Und wieder fällt mir auf, wie wenig sich Dein Gesicht von dem Schnee unterscheidet. Fahl, grau, leblos einfach. Bevor ich Deine Augen finden kann, bewegt sich die Autokolonne weiter und ich mich mit ihr im Gleichklang davon.

Freitag,
ich werde heute den Bus benutzen. Es interessiert mich, wer dieser Farbfleck in diesem vergessenen Frühling ist. Vielleicht spreche ich Dich an und frage nach dem Frühling. Die Neugier macht mich kribbelig. Vielleicht ist es aber nur die Sehnsucht nach Frühling.

Der Bus fährt heute nicht.

Sie sagen, ein junges Mädchen hat sich vor dem Bus in den schmutzigen Schnee geworfen. Man konnte nichts mehr für sie tun.
Ganz viele Farben auf dem tristen Bordstein. Jetzt ist der Schnee noch nicht mal rot.

***
Ich finde, Du hast hier einen richtig tollen Text geschrieben (hab ich ja auch so schon kommentiert), der viele Bilder entstehen läßt.
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Es stimmt, - die traurigen Texte sind oft besonders berührend,
das ist auch bei Gedichten so....

Mir gefällt sie auch sehr.

Liebe Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
weltenweiterw Re: Sehr bewegend -
Zitat: (Original von Damballah am 13.03.2013 - 15:01 Uhr) evrständlich und klar formuliert, wunderschön.

LG


Danke.
Freut mich, wenn die Geschichte gut ankommt.
Liebe Grüße
Kerim
Vor langer Zeit - Antworten
weltenweiterw Re: traurig -
Zitat: (Original von rumpi am 12.03.2013 - 14:31 Uhr) und dennoch gut geschrieben!!!

lg,karsten


Ein paar der besten Geschichten, die ich jemals gelesen habe, sind ziemlich traurig. :D
Liebe Grüße
Kerim
Vor langer Zeit - Antworten
Damballah Sehr bewegend - evrständlich und klar formuliert, wunderschön.

LG
Vor langer Zeit - Antworten
weltenweiterw Re: Grüne Augen -
Zitat: (Original von heinztoelle am 12.03.2013 - 14:12 Uhr) Schön geschrieben Kerim,

Kurze, knappe Story über ein verlorenes Mädchen, dem man noch am Donnerstag helfen konnte.
Es ist eine sehr traurige Geschichte und insofern nicht so meine Richtung, aber du hast sie schön geschrieben. Darum : Daumen hoch !

V.G. Heinz


Wenn die Geschichte dir trotzdem gefällt, freut mich das umso mehr.
Liebe Grüße
Kerim
Vor langer Zeit - Antworten
weltenweiterw Re: Hammer - Vielen lieben Dank. Die Geschichte ist schon ein bisschen älter. Ich bin erst seit kurzem bei myStorys und veröffentliche nach und nach meine ganzen alten Texte. Es kommt also bald noch mehr.

Liebe Grüße
Kerim

Zitat: (Original von VictoriaS am 12.03.2013 - 14:04 Uhr) ...eine wirklich tolle Kurzgeschichte, raffiniert geschrieben.

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