Beschreibung
Virtuelle Staaten im Internet ermöglichen es jedem, mal schnell Premierminister, Oppositionsführer oder Präsident zu werden.
Staatspräsident, Minister, Oppositioneller, Wirtschaftsführer oder gar Terrorist: Wem das eigene Leben zu wenig spannend erscheint, der kann im Internet eine neue Identität annehmen in virtuellen Staaten, so genannten Micronations. Sie spriessen derzeit wie Pilze aus dem Boden.
Wenn die Kollegen bei der Grossbank Kaffeepause machen, bleibt Enrico Anders brav vor seinem Computer sitzen. Allerdings nicht, weil er arbeitswütig wäre, sondern weil er sich auch tagsüber hin und wieder um seinen Nebenjob kümmern muss. Zurzeit beispielsweise gilt es, internationale Verträge auszuarbeiten und mit anderen Staaten über Freihandelszonen zu verhandeln. Denn immerhin ist Enrico Anders Aussenminister der Vereinigten Staaten von Astor. Wer Astor nicht kennt, kann sich den Griff zum Atlas sparen. Es handelt sich um einen fiktiven Staat, der nur im Internet existiert (www.astor.exit.de). Im deutschsprachigen Raum gibt es rund 50 solcher fiktiver Gebilde, in denen das Geschehen in einem realen Staat simuliert wird. Man kann sich als Bürger einschreiben, an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen, Unternehmen oder Parteien gründen oder eine Zeitung herausgeben. Dabei ist für jeden Geschmack etwas dabei. Ob eingefleischter Demokrat, nostalgischer Kommunist oder gar Anhänger der Monarchie: Das Verzeichnis der deutschsprachigen virtuellen Staaten (www.micronations.de) hält all das und mehr bereit.
Wer in einer Micronation aktiv ist, der ist in der Regel interessiert an gesellschaftlichen Fragen. «Mich reizte die Vorstellung, die Prozesse in einer Demokratie, Wahlen, Parteien, Regierungsarbeit und so weiter zu simulieren, besser, neu oder einfach nur anders zu gestalten, oder vielleicht einfach zu lernen, wie schwer politische Arbeit tatsächlich sein kann.» Das sagt Alex Laemmle, Gründer der Freien Republik Tir Na nòg, einer anderen bedeutenden Micronation. Dieser virtuelle Staat mit rund 50 Bürgern besteht seit September 1999 und hat damit die erste kritische Phase überstanden.
Das gelingt nicht vielen. Denn gegründet werden neue Micronations fast wöchentlich, doch gehen die meisten davon ebenso schnell wieder ein und bleiben höchstens als Homepage-Leiche irgendwo im weltweiten Netz bestehen. Der Aufwand, ein wirklich funktionierendes Staatssystem aufzuziehen, ist gewaltig, der Spass geht zudem schnell verloren, wenn sich dort über längere Zeit nur drei oder vier Bürger tummeln. Im Unterschied zu einer echten Staatsbürgerschaft kann man aus einem virtuellen Staat einfach verschwinden. Das macht deren Zukunft schwer berechenbar, und die Führungen der virtuellen Staaten versuchen alles, um ihre Bürger bei der Stange zu halten. Die Vereinigten Staaten von Astor beispielsweise sind in neun Provinzen gegliedert und bieten selbst Neulingen die Möglichkeit, als Gouverneur selbstständig einen solchen eigenen Bundesstaat zu übernehmen.
Doch zurück zu Enrico Anders, dem Aussenminister von Astor. Er muss sich am Arbeitsplatz wie im Freundeskreis aufgrund seines aussergewöhnlichen Hobbys so einiges anhören. Aber er hat eine Antwort bereit. «Wie viele Leute spielen Computerspiele wie ? Auch dort simuliert man Politik, aber wir tun das nicht allein gegen den PC, sondern im Austausch mit anderen Menschen.»
In einem Punkt haben die virtuellen Staaten ihre realen Vorbilder längst eingeholt. Manche Staaten sind verfeindet, und sogar «Kriege» lassen sich führen. Nicht selten legt ein Staat das Forum und damit die Kommunikationszentrale einer anderen Nation mit technischen Mitteln lahm. Während Anders es sich zum Ziel gesetzt hat, im Schnitt wöchentlich einen Friedensvertrag mit einem Staat abzuschliessen, haben sich andere Nationen der Unterwerfung von Kleinstaaten verschrieben. Auch das scheint ein Bedürfnis zu sein. Eine Geschlechterquote wäre in Micronations ein Ding der Unmöglichkeit, fast ausschliesslich sind es Männer, die einen Staat führen wollen - und sei es eben nur im Internet.