März 2011. In Japan ereignet sich eine der größten Katastrophen in der Menschheitsgeschichte mit unabsehbaren Folgen... In diesem Text wird der Überlebenskampf eines kleinen Wesens geschildert, denn der Schrecken hat auch die Welt der Märchen erfasst...
An einem Tag im März, da schien alles so wie immer zu sein. Die ersten zarten Knospen waren auf dem Wege langsam aufzuspringen. Der Frühling hielt Einzug. Es war noch früh, aber die Anzeichen waren schon deutlich in der Natur zu spüren.
Eine Muse wandelte durch die landschaftlich schöne Gegend. Selbst das monströse Ding, das die Menschen da in der Nähe vor vielen Jahren gebaut hatten, konnte sie nicht davon abbringen, sich zu erfreuen.
Sie wollte langsam in ihre kleine Hütte zurückkehren, als sie das Grollen spürte. „Nicht schon wieder“, dachte sie sich. „Warum musste Mutter Natur gerade immer hier die Erde erbeben lassen. War nicht vor einigen Jahren ihrem Zorn nicht Genüge getan worden? Die Muse schüttelte ihren kleinen Kopf. Sie hoffte, dass es bald ein Ende haben würde.
Doch sie irrte. Das Grollen nahm an Stärke zu, dann erbebte die Erde unter ihren Füßen. Sie wackelte derart stark, dass sich die kleine Muse nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Sie kullerten mehr den Weg entlang, als sie ihn wirklich noch ging.
Zwar bemühte sie sich, immer wieder aufzustehen. Aber, kaum das sie wieder stand, da lag sie auch schon wieder. Sie hatte den starken Erschütterungen nichts entgegenzusetzen.
„Oh Mutter Natur“, dachte sie dabei, „warum zürnst du mit mir und diesem Land, das doch so schön und voller Wunder ist?“
Eine Antwort erhielt sie nicht.
Die Bäume und Sträucher schüttelten sich, manche drohten zu stürzen.
Es war ein ohrenbetäubender Krach, ein Inferno. Mutter Natur ließ die Erde so stark beben, dass der Muse alle Lust verging, sich an der Umgehung zu erfreuen.
Sie kämpfte darum, nicht erschlagen zu werden und wohlbehalten ihre kleine Hütte bei den Bergen zu erreichen. In diesen Momenten schien es unmöglich. Sie konnte sich einfach nicht auf den kleinen Beinchen halten.
Dann ebbte das Beben der Erde ab.
Die Muse schaute sich um.
In der Nähe sah sie in einer menschlichen Siedlung Feuer lodern, die Hälfte der Häuser war völlig zerstört, der Rest schwer beschädigt.
„Oh nein!“ klagte sie, „Mutter Natur, siehst du nicht das Leid, das du bringen wirst.“ Eine Antwort auf ihr Klagen erhielt die kleine Muse auch dieses Mal nicht.
So schnell sie konnte, rannte sie in Richtung ihrer kleinen Hütte. Und siehe da, sie hatte den Erdstößen standgehalten. Die Muse war erleichtert, als sie das sah. Nur einige kleinere Schäden hatte es gegeben, doch die ließen sich schnell reparieren. Sie besaß genug Geschick, jene selbst durchzuführen.
Das Land bis zur Küste hin dagegen sah anders aus. Hier hatte Mutter Natur eine zerstörerische Arbeit geleistet. Sie hörte in der Ferne ein Wehklagen der Menschen, die weitaus schlimmer als sie selbst dran waren. Manche hatten offenbar alles verloren, was sie besaßen. Bei einigen war es in ganzer Bescheidenheit, die dieses Land zierte, nicht sehr viel.
Am liebsten würde sie ihnen helfen, da aber die Menschen an sie nicht glaubten, hatte es wohl wenig Sinn. Sie beschloss dennoch zu ihnen zu gehen. Vielleicht würde sie ja doch helfen können.
So schritt sie langsam los, nachdem sie sich überzeugt hatte, weitgehend ohne schlimmeren Blessuren davongekommen zu sein.
In der Ferne sah die kleine Muse das Meer. Doch es war nicht so, wie sie es schon seit vielen Jahren kannte.
Denn da konnte sie das nächste Unheil kommen sehen.
Auf dem Meer war sie zu erahnen. Ganz deutlich mit ihrer weißen Schaumkrone. Eine Welle, die alles vernichten würde.
Mit Schrecken erinnerte sich das kleine Wesen an die Geschichte einer lieben Freundin, die vor einigen Jahren an der thailändischen Küste wohnte und von einer schrecklichen Tsunamiwelle heimgesucht worden war. Nur mit Mühe hatte sie damals überlebt und ihr von den schrecklichen Geschehnissen berichten können. Auch damals hatte ein Erdbeben ein grauenvolles Schrecken ausgelöst, dass unheimlich viele Todesopfer gekostet hatte.
Daran fühlte sich die kleine Muse erinnert, als sie die Welle mit ihrer brachialen Gewalt kommen sah. Nun galt es, das nackte Leben zu retten. Denn an ihrem Leben hing die kleine Muse naturgemäß sehr.
Doch die vernichtende Kraft kam schneller, als sie gedacht hatte. Sie versuchte sich auf ein höher gelegenes Gebiet zu retten, aber die kleinen Beine waren nicht sehr schnell. Ihr wurde schnell klar, dass sie das unmöglich schaffen konnte.
Da sah sie den großen Baum. Er schien die einzige Möglichkeit zu sein, sich kurzfristig zu retten. Also kletterte die kleine Muse ihn hinauf.
Im Baumerklettern galten alle Musen als sehr geschickt. Da machte auch sie keine Ausnahme.
Sie schaffte es gerade noch, dann war das zerstörerische Wasser da. Eine eklige Brühe, in der alles Mögliche schwamm, was die Welle in ihrer grausamen Kraft mitgerissen hatte. Die Muse musste mit Tränen in den Augen sich abwenden. Sie konnte den Anblick nur sehr schwer ertragen. Zu schlimm war es, was sie dort erblickte. Dann es gab nicht nur teils brennende Trümmer in den Fluten. Dort waren auch Menschen, tote Menschen, kleine Menschen, Kinder...
Der Baum hielt der unbändigen Wucht der Welle stand. Die grässliche Flut zog weiter ins Landesinnere, verlor jedoch langsam an Geschwindigkeit. Allzu lange brauchte die Muse nicht auf dem Baum ausharren, dann hatte sich das Wasser dorthin zurückgezogen, woher es gekommen war. Doch was sie zurück ließ, war ein Trümmerfeld wie nach einem Krieg. Die Muse konnte es kaum fassen, was sie dort sah.
Langsam begriff sie aber, dass für die Menschen diese beiden Ereignisse tiefe Einschnitte in das Leben bedeuten würden. Bei ihr selbst sah es nicht viel anders aus.
Der Flut hatte ihre kleine Hütte nicht standhalten können. Sie war hinfort geschwemmt worden, lag irgendwo zwischen den anderen Trümmern.
Mit Tränen in den Augen durchwanderte die Muse das Land.
Eine neue Hütte würde sich schnell bauen lassen, doch den Menschen erging es viel schlechter. Zudem kam es immer wieder zu kleineren Erdstößen. Mutter Natur hatte immer noch keine Ruhe. Der Muse schien es so, als würden die Menschen für ihren Hochmut auf das Grausamste bestraft.
Nach einigen Tagen des Wanderns fielen ihre Blicke wieder auf das monströse Ding, dass die Menschen Kernkraftwerk nannten. Just im gleichen Moment hörte sie eine Explosion und sah Rauch aufsteigen.
Das Ding der Menschen schien nicht mehr unter Kontrolle zu sein. Mutter Natur hatte dem Kraftwerk in ihrem Zorn sehr schwer zugesetzt.
Die Muse dachte sich nichts dabei, dann gab es dort weitere Knallgeräusche und weiteren Rauch. Irgendwie drohte das ganze Ding kaputt zu gehen.
Als ob nicht schon Erdbeben und Flut nicht genug Schaden angerichtet hatten, hatte sie den Eindruck, als ob jetzt auch noch dieses Ding Probleme verursachte. Denn an dem gleichen Tag schienen die übrig gebliebenen Menschen aus der zerstörten Gegend zu entfliehen. Sie konnte ihnen das nur schwer verdenken: Wer wollte schon in einer solchen zertrümmerten Welt ohne Hoffnung leben. Sie hatte ja auch schon überlegt, diesem Landstrich den Rücken zu kehren und sich woanders eine neue Existenz aufzubauen.
Die eilig fliehenden Menschen bestätigten sie in ihrer Entscheidung, diesen Schritt zu tun. Sie schloss sich ihnen unbemerkt an und kehrte dem verwüsteten Landstrich den Rücken.
Einige Tage später sah sie dann in einer Menschensiedlung, dass sie gut daran getan hatte. Die Explosionen bedeuteten Tod, einen schleichenden Tod, der noch schrecklicher als das Beben und die Fluten war. Einen Tod, den die Menschen Verstrahlung nannten.
In der Muse entzündeten sich Trauer und Wut. Warum konnte Mutter Natur so furchtbar sein und warum konnten die Menschen dermaßen gefährliche Dinge in ihrer Nähe dulden?
Eine Antwort darauf wusste sie nicht. Aber der Verlust ihrer Heimat zehrte an ihr. Wie schlimm war es wirklich, was dort vorgegangen war?
Die Muse war froh, mit ihrem nackten Leben davongekommen zu sein. Alles Weitere würde die Zeit ergeben. Aber ob die Wunden jemals verheilen würden, die sich in ihre Seele eingebrannt hatten, vermochte sie im Moment nicht zu sagen. Sehr wohl aber, dass jener Tag im März sie für ihr Leben geprägt hatte.