Eine Kinderseele trauert
Auch Kinder sollen trauern dürfen.
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Eine junge selbständige Mutter rief mich in der Praxis an. Verzweifelt erzählte sie mir, das Ihre 9jährige Tochter seit nunmehr einem halben Jahr nachts in das Bett einnässte. Ihre Tochter sei aufsässig und zu keiner Einsicht bereit. Sie war mit ihrer Tochter auch schon in Psychotherapie gewesen, die aber keinen Erfolg brachte.
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Schon am Telefon, während ich die Geschichte von diesem kleinen Mädchen hörte, fühlte ich das Leid des Kindes. Ich machte mit der Mutter einen Termin für den nächsten späten Nachmittag, weil ich schon ahnte, dass dieser Fall viel Zeit brauchte.
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Die Mutter kam mit ihrer kleinen Tochter am nächsten Nachmittag in meine Praxis. Mein Sprechzimmer ist sehr hell und freundlich eingerichtet. Eigentlich fühlt sich jeder Patient gleich wohl, wenn er in dieses Zimmer kommt und in einem runden gemütlichen Sessel, der mit einem fein geblümten grünen Stoff bezogen ist, Platz nimmt.
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Anders war es bei meiner kleinen Patientin. Ich bat sie bewusst in dem großen runden Sessel Platz zu nehmen, um ihr damit zu zeigen, dass es nur um sie geht und sie wichtig für mich ist. Aber anscheinend machte das keinerlei Eindruck auf sie. Sie setzte sich mir gegenüber in den Sessel und verschränkte ihre Arme. Sie sagte kein Wort. Ich fragte sie nach ihrem Namen, aber sie sah mich nur mit ihren großen braunen Augen trotzig und angreifend an. Ihre Lippen fest zusammen gepresst, zeigte sie mir damit, dass sie nicht bereit war mit mir zu reden.
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Ich fühlte ihre Abneigung mir gegenüber und wusste sie wollte von mir in Ruhe gelassen werden.
Ich schwieg auch minutenlang und sah sie nur an. Sah in ihr zartes schmales Gesichtchen, aus dem mich zwei große braune Augen trotzig und feindlich ansahen. Wie viel quälende Gedanken und Gefühle mussten in diesem kleinen Mädchen toben. Was war passiert und was hatte sich in dieser kleinen Seele aufgestaut. Ich wünschte mir so sehr das Vertrauen von meiner kleinen Patientin zu gewinnen, um ihr helfen zu können.
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Die Mutter wurde langsam ungeduldig und forderte ihre Tochter auf, endlich brav zu sein und mir zu antworten.
Ich beobachtete meine kleine Patientin und sah wie sich ihr Gesicht langsam rötete und mit einer Wucht von Wut platzte es aus ihr raus. Sie brüllte die Worte in den Raum: Ich weiß genau, wie es hier abgeht, erst geht es blah, blah, blah, und sie wollen alles aus mir rauskriegen, dann ist die Stunde um und meine Mutter kann bezahlen.
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Ich war so geschockt über diesen Ausbruch. Ein Menschlein gerade mal 9 Jahre alt
und schon so verzweifelt. Hatte denn bisher keiner erkannt, wie sehr dieses Kind unter irgendeinem Erlebnis litt. In den vergangenen Behandlungen wurde nur gebohrt und gebohrt, um einen Grund für ihr Bettnässen zu finden.
Keiner hatte sich bisher die Zeit genommen mit Geduld und Gefühl auf das Kind einzugehen. Die Mutter die einfach überfordert war und selbst Hilfe brauchte, konnte nicht ahnen, was ihrer Tochter fehlte.
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Nach diesem Wutausbruch wurde es still im Raum. Ich sagte kein Wort und dachte nur, wie kann ich diesem Kind helfen. Dann kam mir eine Idee und ich sagte zu meiner kleinen Patientin: du hast ja recht. Immer wollen die anderen etwas von dir.
Wir beide drehen den Spieß jetzt mal einfach um. Du kommst jetzt mal hinter meinen Schreibtisch und setzt dich auf meinen Platz. Und ich setze mich vor den Schreibtisch in deinen Sessel und du stellst jetzt mal hier die Fragen.
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Meine kleine Patientin war so verdutzt. Mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. Aber wie ein Kind nun einmal ist, sie war auch neugierig und kam um den Schreibtisch herum. Wir tauschten unsere Plätze. Im stillen dachte ich, was geht jetzt wohl in ihrem Köpfchen vor. Denn sie war ja jetzt, in der fragenden Position.
Sie schaute mich ratlos an, aber ich erkannte hinter ihrer Ratlosigkeit ein kleines Lächeln und ich spürte, dass etwas wunderbares geschehen wird.
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Da saß sie nun vor mir und wusste nicht weiter. Ich sah ihr süßes Gesicht vor mir. Der Trotz und die Wut waren fort aus diesem kleinen zarten Gesicht. Aus ihren großen braunen Augen, sahen mich viele Fragezeichen an.
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Ich baute ihr eine Brücke und nahm das Wort wieder an mich. Ich sagte zu ihr: frage mich doch einmal, ob ich schon Großmutter bin, ob ich Enkelkinder habe. Ich hatte eine Lücke gefunden mit meiner kleinen Patientin zu sprechen. Sie wurde zugänglich und fragte mich: haben sie Enkelkinder! Mit leichter Traurigkeit in meiner Stimme, sagte ich zu ihr, dass ich noch keine Enkelkinder hätte, aber mir so ein Enkelkind wünschte. Ein Enkelkind so wie meine kleine Patientin. Meine kleine Patientin antwortete darauf, sie haben ja auch keine Zeit und würden ihr Enkelkind ja doch immer abschieben. Ich antwortete, du hast Recht. Ich habe nicht so viel Zeit, aber doch würde ich mir die Zeit nehmen, um mit meiner Enkelin zu spielen oder andere schöne Sachen machen.
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Ich sah das dieses Gespräch in meiner kleinen Patientin Erinnerungen aufwühlte. Erinnerungen wurden wach, die mit großen seelischen Schmerzen verbunden waren. Ich sah das ihre Augen feucht wurden und dann brach es aus diesem kleinen Kind heraus. Als hätte der Himmel alle seine Pforten geöffnet, weinte dieses kleine Menschlein und weinte, sie schluchzte so sehr, dass es mir im Herzen weh tat.
Ich dachte, was war im Leben dieses kleinen süßen Mädchen geschehen, das soviel Kummer verursacht hatte.
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Ich deutete der Mutter meiner kleinen Patientin an, ihr Kind einfach in den Arm zu nehmen, nichts zu sagen sondern ihre kleine Tochter in dem Arm nehmen und ganz fest halten.
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Wir hatten den Schlüssel gefunden und das Kämmerlein aufgeschlossen. Ich ließ meiner kleinen Patientin Zeit sich den Kummer von der Seele zu weinen und nach dem die Tränen langsam weniger wurden. Erzählte meine kleine Patientin von ihrem geliebten Großvater, der immer Zeit für sie hatte. Sie erzählte was sie mit ihrem Großvater alles unternommen hatte und wie sehr sie ihren Großvater vermisste. Dieser geliebte Großvater lebte nicht mehr, der Großvater war vor einem halben Jahr gestorben. In der Trauer der Erwachsenen, war der Schmerz des Kindes unbemerkt geblieben. Aber die Seele sucht sich immer einen Weg, um sich vom Kummer zu befreien. Bei meiner kleinen Patientin war es das Bettnässen.
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Dieser Fall hat mein Herz so sehr berührt und ich war glücklich, hier das Richtige getan zu haben. Ich hatte auf mein Bauchgefühl gehört und einem Menschlein helfen können.
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Ich bat die Mutter mit ihrer kleinen Tochter in ein Eiscafé zu fahren und sich über alles auszusprechen. Eine Woche später rief mich die Mutter freudig an und berichtete, dass ihre Tochter nicht mehr in Bett genässt hätte und es der Kleinen wunderbar ginge.
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Nicht immer hat man die Chance, so schnell zu helfen. Es sind die kleinen Erfolge die mich motivieren nicht aufzugeben, sondern immer wieder nach einer Lösung zu suchen.
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Angelique
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