Beschreibung
Jeder kennt sie, jeder glaubt sie - wahr ist keine von ihnen. Was hinter Wandersagen steckt und wie sie auf Reisen gehen.
Geschichten werden auch heute immer noch gerne erzählt,vor allem, wenn sie fast unglaublich und doch «absolut wahr» sind. Die Rede ist von Wandersagen. Eine ist in derzeit gerade wieder auf Reisen.
Die Arbeitskollegin hat, kaum ist sie im Büro, eine unglaubliche Geschichte zu erzählen. «Wisst Ihr, was der Schwester meines Schwagers passiert ist? Der hat man das Velo gestohlen. Am gleichen Abend stand es wieder vor dem Haus, zusammen mit einem Entschuldigungsbrief mit zwei Kinokarten. Als sie und ihr Mann am selben Abend aus dem Kino zurückkamen, war ihr Haus leer geräumt!»
Die Geschichte hat alles, was eine gute Geschichte haben muss: Sie ist auf den ersten Blick glaubwürdig, dreht sich um ein Verbrechen, das jedem passieren könnte, hat eine unerwartete Wendung und eine grosse Überraschung zum Schluss. Die Story hat allerdings einen Pferdefuss: die ganze Sache ist wohl kaum der Schwester des Schwagers der Arbeitskollegin passiert. Denn bei der Erzählung handelt es sich um eine klassische Wandersage, die zurzeit gerade in verschiedenen Regionen kursiert.
Es ist eine alte Geschichte, die aber offenbar irgendwo wieder in Umlauf gebracht worden ist und nun plötzlich an fast jeder Party und in jeder Beiz in der Umgebung zu hören ist. Genau so schnell wird sie auch wieder verschwinden, um dann andernorts wieder aufzutauchen. Wie bei einem guten Witz ist es kaum möglich, herauszufinden, wo seine Ursprünge liegen; durch den Multiplikatoreneffekt macht die Geschichte innerhalb weniger Tage eine Reise durch das ganze Land - und zurück.
Wer dennoch daran glaubt, die Geschichte sei wahr, weil sie ihm so überzeugend erzählt worden ist, sollte sich vielleicht das Buch «Die Ratte am Strohhalm» zulegen und auf Seite 127 nachschauen. In der Geschichte «Dreifacher Reinfall» ist es zwar ein Mercedes, der gestohlen wird, und ausgetrickst werden die Besitzer mit - gefälschten - Tickets für ein Musical, aber es ist doch nicht zu übersehen, dass es dieselbe Erzählung ist. Schon vor 20 Jahren wurde zudem eine praktisch identische Episode in einem Buch der deutschen Jugendromanserie «TKKG» erzählt. Ein Zeichen dafür, wie lange die Geschichte - wenn auch mit Pausen - bereits unterwegs ist.
Autor von «Die Ratte am Strohhalm», «Die Spinne in der Yucca-Palme» und weiteren Büchern zum gleichen Thema ist der deutsche Volkskundeprofessor Rolf Wilhelm Brednich. Er ist im deutschsprachigen Raum der unbestrittene Experte für «urban legends», wie die Wandersagen auf Englisch heissen.
Brednich sammelt seit vielen Jahren Wandersagen, vergleicht sie und sucht auf der ganzen Welt Parallelen. Ist eine Geschichte gleichzeitig auch in Amerika, England und anderen Ländern aufgetaucht und hat dort die Runde gemacht, dann ist klar: Möglicherweise ist irgendwann irgendwo etwas Vergleichbares geschehen, aber inzwischen hat die Story eine Eigendynamik erhalten.
Das Ausgangsbeispiel ist klassisch: Im Lauf der Zeit wird die Geschichte leicht modifiziert, zum Teil, weil sie nicht richtig wiedergegeben wird, zum Teil bewusst, um sie etwas zu dramatisieren. Vielfach werden Geschichten auch der neuen Technik angepasst. Statt des Velos ist es wie erwähnt plötzlich das Auto, das gestohlen wurde, in ferner Zukunft vielleicht der Raumgleiter.
Brednich führt in seinen Büchern aus, dass eine solche Geschichte beim näheren Hinsehen an Glaubwürdigkeit verliert: Einbrecher kaufen keine Kino- oder Musicalkarten für ihren Coup, und der Aufwand, zuerst ein Fahrrad oder einen Personenwagen zu stehlen, um es dann zurückzugeben, dürfte den meisten ebenfalls zu gross sein. Auch die Dramatisierung, wonach das Haus «leer geräumt» worden sei, ist laut Brednich durchschaubar. In der Regel haben es Einbrecher nur auf Bargeld und kleine Werte wie Schmuck abgesehen. «Die Geschichten sind so beliebt, weil sie einen Überraschungseffekt auslösen», glaubt Rolf Wilhelm Brednich, «denn man hat sie ja irgendwo gehört und vielleicht jahrelang für wahr gehalten.»
Warum aber hat die Arbeitskollegin aus dem Beispiel die Geschichte nicht einfach als «irgendwo gehört» erzählt, sondern sie konkret mit einer Person aus ihrem Umfeld verknüpft? Der Volkskundeprofessor Brednich ist auch dieser Frage nachgegangen. Er glaubt, dadurch solle die Geschichte mit einer grösseren Nähe ausgestattet werden, was ebenfalls dazu beiträgt, dass die Story besser «ankommt». Eine Geschichte aus einem Buch nachzuerzählen, habe nicht denselben Effekt, glaubt Brednich. Zudem seien Menschen aus dem persönlichen Bekanntenkreis grundsätzlich glaubhafter, also seien sie als «Paten» geeignet.
Den grössten Effekt könnte man natürlich mit der Behauptung erzielen, die Geschichte sei einem selber widerfahren. Davon ist laut Brednich allerdings strikt abzuraten, denn es kann peinlich werden. Die Geschichte mit dem gestohlenen Fahrrad hat sich in den letzten Wochen in der Ostschweiz rasant verbreitet; gross ist also die Gefahr, dass sie ein eifriger Zuhörer bereits kennt und dann spöttisch nachfragt: «Ach, dir ist das also auch passiert?»
Eine solche Peinlichkeit hat sogar ein Schriftsteller von Weltruf in einem Buch verarbeitet. In «Der Idiot» von Fjodor M. Dostojewskij erzählt ein etwas wichtigtuerischer Mann, er habe kürzlich in einem Zugabteil eine Zigarre geraucht und sei dabei von einer Dame mit kleinem Schosshündchen strafend beobachtet worden. Plötzlich habe die Frau seine Zigarre gepackt und sie aus dem Fenster geworfen. Daraufhin habe er das Hündchen genommen und der Zigarette nachgeschmissen - «wenn Zigarren im Zug verboten sind, dann sind es auch Hunde», ist der Erzähler überzeugt. Eine Zuhörerin macht ihn vor versammelter Runde auf den Umstand aufmerksam, dass sie die identische Geschichte eine Woche zuvor in der Zeitung gelesen habe...
Stichwort Zeitungen: Diese lassen sich hin und wieder auch nur zu gerne mit Wandersagen hereinlegen. Alle Jahre wieder veröffentlichen Agenturen Geschichten, die schon einige Jahre vorher die Runde gemacht haben, und nicht selten finden diese Aufnahme in die Zeitungsspalten.
In regelmässigen Abständen - durchaus auch in seriösen Blättern - veröffentlicht wird beispielsweise folgende Begebenheit: Ein Mann zieht sich für das Liebesspiel mit seiner Frau ein Batman-Kostüm an - gelegentlich ist es auch ein Superman- oder Spideman-Kostüm - und will von einem Kasten aufs Bett springen, stürzt aber unglücklich und bleibt bewusstlos liegen. Weil sich die Frau zuvor hatte ans Bett fesseln lassen, kann sie ihm nicht zu Hilfe kommen und kann sich nur durch Schreien bei den Nachbarn bemerkbar machen. Eine fesselnde Lektüre, sicherlich - aber doch bloss eine Zeitungsente.