Schattenschwinge
Das Heulen der konkurrierenden Wolfsrudel hallte über die Talsenke, in der die Altstadt von Tarmania lag. Die alten Gebäude warfen ihre dunklen Schatten in die leeren Gassen. In der lauen Sommerbrise klapperten einige Fensterläden und die schwarzen Katzen der Stadt machten sich auf Beutejagd. Über dem Himmel bildeten die tiefschwarzen Wolken einen starken Kontrast zum leuchtend hellen Vollmond. Das grelle Licht viel durch die dünnen Scheiben einer kleinen Holzhütte am Rande der Stadt. Sie trafen direkt auf das friedlich, schlafende Gesicht von Magdalena. Die langen, wasserstoffblonden Haare lagen auf einem Lavendelkissen, was einen
beruhigenden Duft im ganzen Raum verströmte. Magdalena war gerade sechzehn Jahre alt geworden und half ihrer blinden Mutter so gut es ging mit der Hausarbeit. Das kehlige Krächzen eines großen Kolkraben schreckte das Mädchen aus seinem Schlaf hoch. Sie tappte durch die Dunkelheit des kleinen Raumes, stieß fast gegen den massiven Wandschrank und kramte aus einer kleinen Holzkiste eine Kerze heraus. Sie zündete die Kerze an, woraufhin die Geräusche draußen verstummten und nur das Lied des Windes zu hören war. "Lena, was machst du denn schon so früh auf den Beinen?", erschrocken drehte sie sich um, sodass das Kerzenlicht direkt in das ebenso bleiche Gesicht ihres Bruders schien. "Ich
konnte nicht schlafen und bin schließlich aufgestanden. Du weißt doch, bei Vollmond bekomme ich nie ein Auge zu." "Du musst dich trotzdem ein wenig ausruhen. Der lange Weg zum Marktplatz wird ziemlich anstrengend sein und da ich heute für die Stadtpatrouille herangezogen wurde, kann ich dich leider nicht begleiten." Maßius war drei Jahre älter als seine Schwester und seit dem Tod des Vaters Alleinverdiener für die ganze Familie. "Schläft Mutter denn noch?", wollte Magdalena wissen und schaute am Türrahmen vorbei in das Zimmer nebenan. Doch ihre Mutter hatte von der ganzen Sache nichts mitbekommen und schlief seelenruhig auf ihrem schmalen Holzbett. Durch eine unerklärliche Augenkrankheit, für
die auch der Doktor kein Hilfsmittel hatte, verlor sie vor zwei Jahren ihre Sehkraft. "Ich muss dann mal los. General Nikolaus sieht es nicht gerne, wenn jemand zu spät zum Dienst erscheint", Maßius nahm seine Schwester kurz in die Arme, packte seinen hellen Leinenbeutel und machte sich in der beginnenden Morgendämmerung auf den Weg. Magdalena vertrieb sich die restliche Zeit, bis es gänzlich hell war damit, eine neue Blüte für ihr Haar zu nähen. Da sie auf Grund der spärlichen Beleuchtung nicht deutlich sehen konnte, stach sie sich mehrmals mit der Nadel in ihre dünne Fingerspitze. "Autsch!", fluchte sie leise vor sich hin. "Magdalena? Was ist da los?", rief ihre Mutter aus dem Nachbarzimmer. "Alles in
Ordnung, Mutter. Ich komme sofort und werde anschließend das Frühstück anrichten." Ihre Mutter konnte zwar nichts mehr sehen, dafür aber umso besser Magdalenas Stimme hören. " Miau. Miau", maulte der kleine Kater Bonito, der noch zu klein war, nachts mit seinen Weggefährten auf Mäusejagd zu gehen. Magdalena bückte sich und hob das kleine, schwarze Tier auf. Behutsam strich sie Bonito über den Rücken. Maßius hatte ihr den kleinen Kater zum Geburtstag geschenkt und seitdem wich er ihr nicht mehr von der Seite. In der engen Holzküche bereitete sie sich und ihrer Mutter eine Schüssel Grießbrei zu. Dazu kochte sie einen Kräutertee auf der abgenutzten Herdplatte, unter der nur noch eine sehr
geringe Flamme brannte. Bald füllte sich der Raum mit einem Geruch aus Pfefferminze, Salbei, Rosmarin und Lorbeerblättern. Ihre Mutter tappte verschlafen über den Holzfußboden und setzte sich an den runden Küchentisch. Mittlerweile kannte sie jeden Winkel der kleinen Hütte auswendig und konnte sich ohne Probleme alleine zurechtfinden. "Hast du die Kartoffeln schon auf den Karren geladen?", fragte sie und strich ihre ebenfalls blonden Haare aus dem Gesicht. "Ja, Mutter das habe ich gestern Nachmittag bereits erledigt". "Hast du Fallada gefüttert und gestriegelt?". "Nein, aber das werde ich nach dem Frühstück machen", ärgerlich schaufelte Magdalena sich einen Löffel Brei in den Mund. "Dann wird es aber
auch Zeit, meine Liebe!". Ein paar Minuten später stand Magdalena im angrenzenden Stall und fütterte den alten Hengst mit ein paar Karotten und etwas Heu. Dieser ließ sich sein Frühstück genüsslich schmecken und legte dem Mädchen seine Kinngrube auf die schmalen Schultern. "Lass dich ruhig verwöhnen, mein Guter", sagte Magdalena zärtlich, während sie anfing den Mähnenkamm zu flechten. Zum Schluss eilte sie noch einmal in das Haus zurück und holte eine der selbstgemachten Blumen aus ihrem Zimmer. Bevor sie die Türschwelle erreichte, ertönte die laute Stimme ihrer Mutter aus der Sitzecke: "Kind, wann willst du denn endlich losreiten? Die anderen Verkäufer haben bestimmt schon die besten Plätze ergattert
und ihr halbes Sortiment verkauft, während du hier rumtrödelst!". "Ich mache mich sofort auf den Weg. Bis später", rief Magdalena und lief mit ihren dünnen Lederschuhen über den Sandweg zum Karren, auf dem sich drei volle Kisten Kartoffeln stapelten. Eine weitere hatte sie mit den unterschiedlichsten Blumen wie Sommervergissmeinnicht oder Dahlien beladen, deren Blütenköpfe um die Wette strahlten. Ihre Mutter sah das Pflanzen-und Kräuterzüchten als reine Zeitverschwendung. Sachten Schrittes galoppierte Fallada über den Hof und unter einem leisen Miauen Bonitos machte er sich zusammen mit Magdalena auf den Weg in die Innenstadt. Schon von Weitem war das Klappern des Pferdegeschirrs und das Poltern der vielen
Karren zu vernehmen, die sich alle auf dem Marktplatz einfanden. Einige hoben grüßend die Hand, als Magdalena an ihnen vorbeiritt. Ihr Stammplatz befand sich abseits der vielen anderen Stände, da die Gebühren einfach zu teuer waren. Mitten durch die Stadt verlief ein kleiner Fluss, deren Wasseroberfläche im Sonnenlicht glitzerte und jedem ein Spiegelbild schenkte, der einen Blick hineinwarf. Fallada schritt über eine Steinbrücke und kam in nahe der hohen Stadtmauer zum Stehen. Magdalena entlud den Karren und bereitete alles für den langen Verkaufstag vor. Ihr erster Kunde war wie jedes Mal der freundliche, recht beleibte Bäckermeister Mühlherr, der sein Geschäft nur unweit ihres Verkaufsplatzes hatte. Seit
vielen Jahren führte er zusammen mit seiner Frau und den beiden Söhnen eine kleine Bäckerei. "Guten Morgen Magdalena! Ich hätte gerne zwei Pfund Kartoffeln". "Gerne Herr Mühlherr", Magdalenas glockensüße Stimme brachte den Mann zum Lächeln. Sie packte alles in einen Weidenkorb, den er ihr hinhielt. "Ach, was sind das denn für wunderschöne Blumen?" Hast du die selbst gezüchtet?", fragte der Bäcker, woraufhin Magdalena nur bescheiden nickte. Sie band ihm einen herrlichen Strauß aus den Sommervergissmeinnicht und legte ihn zu den Kartoffeln. Neben ein paar Goldtalern, drückte er ihr immer zwei Laib Graubrot in die Hand. "Ich wünsche dir noch einen schönen Tag", verabschiedete sich Herr Mühlherr und
steuerte auf die nächst gelegenen Stände zu. Magdalena genoss das rege Treiben auf dem Marktplatz, dazu ertönte von irgendwoher fröhliche Musik. Leise summte sie mit und erschrak, als plötzlich eine alte Frau vor ihr stand. Die Stimmen um sie herum verstummten und auch die Musiker hatten aufgehört zu spielen. Alle Augen waren auf ihren Platz gerichtet. "Was kann ich für Sie tun?", fragte Magdalena unsicher und blickte in das wettergegerbte, faltige Gesicht, welches ihr gegenüber trat. Ihr fiel auf, dass die Frau nicht ganz gerade stand und ein Kopftuch ihr Haupt bedeckte. Ohne die Lippen zu bewegen, schien die Alte zu ihr zu sprechen: "Heute um Mitternacht, wenn die Turmuhr Zwölf schlägt, erwarten wir dich
dort". Magdalena überlief ein Schauder und wich einen Schritt zurück. Vorsichtig schaute sie nach links und rechts, doch die Leute hatten sich wieder ihrer Arbeit zugewendet. Als sie wieder nach vorne blickte, war die Frau verschwunden. Ihre unheimliche Nachricht beschäftigte Magdalena noch den restlichen Tag und ging auch nicht aus ihrem Kopf, als sie wieder nach Hause ritt. Inzwischen hatte sich der Himmel zugezogen und kleine Regentropfen vielen wie Perlen auf ihr hellblondes Haar. "Da bist du ja endlich!, rief ihre Mutter, als sie die Küche betrat. "Hoffentlich hast du diesmal mehr verkauft. Den Beutel mit den Einnahmen kannst du mir gleich dalassen!", fordernd hielt sie ihre zierlichen Hände auf und bekam
von ihrer Tochter den schwarzen Lederbeutel mit den wenigen Goldmünzen überreicht. "Ich habe heute sogar mehr verkauft als sonst, Mutter. Ein paar Kartoffeln sind noch über, aus der ich uns heute eine Suppe kochen werde", antwortete sie und verschwieg, dass sie lediglich eine Kiste und ein paar Blumen verkauft hatte. Schweigend wurde die Suppe geschlürft und anschließend der Abwasch getätigt. Mit Einsetzen der Dämmerung kam auch Maßius zurück, und half seiner Schwester das Pferd und den Garten zu versorgen. Aus den wenigen Regentropfen war mittlerweile ein ganzes Orchester geworden, das vom aufkommenden Wind an die Fensterscheiben gepeitscht wurde. Die beiden Geschwister beeilten sich nach
drinnen zu kommen und machten ein kleines Feuer in dem gusseisernen Ofen der Stube, um die nassen Sachen zu trocknen. "Ich bin hundemüde und werde mich jetzt hinlegen", Maßius unterdrückte ein Gähnen und trottete aus dem Zimmer. "Du solltest auch nicht mehr lange aufbleiben, Magdalena!", sagte die Mutter und ließ einen Moment von ihrem Stickzeug los. Trotz ihrer Erblindung war sie weiterhin in der Lage dieser Tätigkeit nachzugehen. Magdalena hatte den ganzen Abend unruhig auf einem alten Holzstuhl gesessen und immer wieder verstohlen nach draußen geguckt. Sie fragte sich, ob sie zu dem Treffen gehen sollte oder nicht. "Du hast Recht, ich werde jetzt auch in mein Zimmer gehen. Gute Nacht Mutter", sie verließ die
Stube und betrat in Begleitung von Bonito, der ihr maunzend um die Beine streifte, ihren kleinen Raum. Sie schlüpfte in ihr Nachthemd und versuchte anschließend irgendwie einzuschlafen. Doch ihr Körper schien noch hellwach zu sein und sie spürte jede einzelne Sehne, so als wäre sie elektrisch aufgeladen. Nach einiger Zeit hörte sie wie auch ihre Mutter zu Bett ging und aus irgendeinem Grund hatte sie den Drang aufzustehen. In dieser Nacht sollte etwas geschehen, was ihr Leben von Grund auf verändern würde. Leise tappte sie barfuß über den Boden und zog den langen Regenmantel, der ihrem Vater gehört hatte, über ihr weißes Nachthemd. Wie von einer anderen Hand geleitet, verließ sie das Haus und machte sich
auf den Weg in die Stadt. Draußen war mittlerweile ein richtiger Gewittersturm entstanden, dessen Blitze unaufhörlich vom Himmel zuckten und das Grollen der Donner, bis in Magdalenas Knochenmark eindringen ließ. In der Dunkelheit fiel es ihr schwer, dem Wegverlauf zu folgen und sie verfluchte sich dafür, keine Laterne mitgenommen zu haben. Nach unendlichen Minuten des orientierungslosen Herumirrens konnte sie endlich die ersten Lichter der Stadt sehen, über der der Kirchturm wie ein riesiges Ungeheuer hervorragte." Dong, dong, dong", zwölf Mal hatte die Turmuhr geschlagen, als Magdalena zu ihren Füßen ankam. Weit und breit war aber niemand in den Gassen zu sehen. Leichte Enttäuschung und Wut über
ihre Naivität überkamen sie. Das Rascheln der Büsche, deren Blätter vom Wind abgetragen wurden und auf die Pflastersteine fielen, bereiteten ihr eine Gänsehaut. Ein lautes Krachen ließ sie zusammenzucken und entpuppte sich als ein altes Weinfass, das dem Wind zum Opfer gefallen war. Dieser blies ihr die Haare aus dem Gesicht und ließ sie am ganzen Körper frösteln. Plötzlich waren von irgendwoher Schritte zu vernehmen und in einigen Metern vor ihr war eine dunkle, geduckte Gestalt zu erkennen. Das musste die Frau vom Markt sein. Fast erleichtert wollte Magdalena einen Schritt auf sie zu machen, als mindestens zehn andere, ebenso schwarze Schatten vor ihr auftauchten. Unfähig sich zu bewegen,
stieg Panik in dem jungen Mädchen auf. Wie konnte sie nur so unvorsichtig und gutgläubig sein, sich mitten in der Nacht aus dem Haus zu schleichen um sich mit einer völlig fremden Frau zu treffen. Aber irgendetwas in ihrem Inneren hatte sie hierher geführt und nun stand sie da, die Arme um den Oberkörper geschlungen und starrte ins Nichts. "Wir wussten das du kommen würdest, Magdalena! Wir haben dich auserwählt. Du bist jetzt auch eine Schattenschwinge". Magdalena wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und nahm aus ihren Augenwinkeln war, wie sich die Gestalten bewegten und einen Kreis um sie herum bildeten. "Ich bin Dorothea, du brauchst keine Angst haben. Wir werden dir
nichts Böses tun", sagte die Alte mit ihrer dunklen Stimme und stellte sich ebenfalls in den Kreis, um ihn zu vollenden. Wie aus einem Mund begannen die Gestalten zu sprechen: "Kann der Kreis geöffnet sein, noch ungebrochen. Möge die Liebe der Göttin jemals in deinem Herzen sein. Fröhlich zu erfüllen, fröhlich zu teilen und fröhlich wiederzutreffen." Ein greller Blitz zuckte vom Himmel und für einen Moment konnte Magdalena in die Gesichter der anwesenden Frauen sehen. Es waren insgesamt elf und alle schienen unterschiedlichen Alters zu sein. Ein leichter Schmerz durchzuckte ihren Rücken, ihr wurde schwindelig und sie fiel zu Boden. Als Magdalena wieder aufwachte, befand sie sich zu Hause in ihrem Bett. War
das Ganze nur ein Albtraum gewesen, aber wieso hatte es sich dann so real angefühlt? Langsam stand sie auf und stellte fest, dass es schon hell draußen war. Die ersten Vögel zwitscherten um die Wette und die Sonne hatte sich durch die Wolken gekämpft. Magdalena trat vor ihren Standspiegel und begutachtete sich. Sie war immer noch so bleich wie vorher und auch sonst schien nichts ungewöhnlich zu sein. Sie war gerade im Begriff sich wieder umzudrehen, als etwas auf ihrem Nacken aufblitzte. Magdalena ging wieder näher an den Spiegel heran und erkannte einen türkisfarbenen Schlangenkopf. Erschrocken zog sie sich das Nachthemd weiter nach unten. Auf dem gesamten Rücken war das Bild einer riesigen
Schlange gezeichnet, deren Schuppen die Farben des Regenbogens trugen. Plötzlich spürte Magdalena etwas über ihren Rücken streichen und konnte im Spiegel erkennen, dass sich das Reptil auf ihrer nackten Haut bewegte. Grüne verengte Schlangenaugen starrten sie an und unter einem leisen Zischen sprach eine Stimme: "Es gibt kein Zurück mehr, Magdalena."