Der Fluch der Stimme
„Traue dich nicht in jenes Tal, denn der Fluch der Stimme wird dich auch dort erreichen, wo du es nicht vermutest oder glaubst. Sie ist unerbittlich gegen jeden, der es wagt, das Tal zu betreten wagt. Gnade ist ihr ein Fremdwort. Glaube mir jedes Wort, denn ich wäre fast durch sie aus meinem Leben gerissen worden. Nur mit sehr viel Mühe hatte ich überleben können. Dieses Glück wird nicht jedem zuteil.“
Die Worte des Alten mahnten mich, doch ich gab nur wenig auf sie. Gerne werden Schauergeschichten erzählt, um die Menschen von etwas abzuhalten. Aber das Körnchen Wahrheit in den Monologen muss man schon sehr genau suchen.
„Vielen Dank für ihren Rat“, antwortete ich höflich. „ Aber ich glaube nicht an derartige Schauergeschichten.“
„Oh mein Junge, das solltest du aber. Glaube ihnen nur. Begebe dich nicht in das zu erwartende Unglück.“
„Nichts für ungut! Auf Wiedersehen!“
„Ja, auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen in der Hölle!“ erhielt ich als makabre Antwort auf meinen Gruß. Dann war ich schon außer Sichtweite und wandte mich den Bergen zu.
Das Tal meiner Begehren würde bald erreicht sein.
Ich wanderte in das schmale Felsental, vor dem mich der Alte durch seine merkwürdigen Worte gewarnt hatte. Doch noch war nichts von einer Stimme zu hören oder ein Fluch zu spüren. Der Alte hatte sich mit mir ganz offensichtlich einen makabren Scherz erlaubt, der bar jeder Grundlage war. Eine Schauermär halt, wie sie gerne Fremden gegenüber erzählt wurde.
Ich war das bereits gewöhnt, denn ich hatte diese Art eines Scherzes nicht zum ersten Mal in den Bergen erlebt. Und das letzte Mal würde es ganz gewiss auch nicht sein. Darüber war ich mir völlig im Klaren.
Der Weg selbst war nicht allzu beschwerlich, obwohl der Pfad fast zugewachsen war und ich ab und zu die Hände mit zur Hilfe nehmen musste. Aber die ausgesetzten Stücke waren nicht sehr groß und immer noch recht gut passierbar.
Drei Stunden war ich bereits unterwegs und würde in einer guten weiteren Stunde das Tal durchwandert haben. Auf einem Wanderparkplatz am anderen Ende würde dann ein guter Freund warten, der mich zurück zu meinem Ausgangspunkt bringen würde. Von dort gab es einen herrlichen Weg in eine Klamm, der ein touristischer Massenanziehungspunkt war und die Besucher immer wieder von Neuem begeisterte. Ich hatte sie mir auch schon angesehen und konnte die Begeisterung verstehen. Es war wirklich eine einmalige Naturschönheit.
Ganz im Gegenteil dazu stand das Tal, in dem ich im Moment wanderte. Ich war völlig allein unterwegs. So hatte ich meine Ruhe und konnte in vollen Zügen das genießen, was mir an Pracht dargeboten wurde.
Plötzlich schien es mir so, als würde es raunen.
Mir war fast so, als würde mein Name leise gerufen werden, um mich irgendwo hinzulocken. Aber vielleicht täuschte ich mich auch nur und das Rauschen des Windes durch die Felsen spielte mir einen akustischen Streich.
Doch andererseits spürte ich keinen Wind im Tal. Besonders, wenn er so auffällig rauschte, müsste auch ich ihn spüren. Das war dann schon sehr merkwürdig.
Ich beschloss, mich auf das Geräusch etwas näher zu konzentrieren. Doch mehr als meinen Namen konnte ich dabei nicht heraushören. Wie ich mich auch anstrengte, es blieb dabei. Mein Name wurde gerufen. Und nach und nach schien es fordernder zu werden.
Der Weg durch die Schlucht wurde zweitrangig. Die mysteriöse Stimme hatte Priorität.
Eine Folge davon war, dass ich immer weniger auf den Weg achtete. Ich wurde unvorsichtig in meinem Tun, benahm mich zunehmend wie ein Trampel.
Eigentlich war ich wie von Sinnen, nicht mehr Herr der Lage. Das Säuseln der Stimme brachte mich zunehmend in Trance. Sie bestimmte von nun an mein Tun.
Der Fluch der Stimme ereilte mich. Mit Entsetzen musste ich mir eingestehen, dass der Alte Recht gehabt hatte. Ich hätte besser auf ihn hören sollen. Ich Narr …
Mittlerweile stolperte ich mehr und mehr dahin. Ab und zu landete ich dabei unsanft auf dem felsblockübersäten Boden. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich. Mein gesunder Menschenverstand schien durch die Stimme ausgeschaltet worden zu sein. Die Stimme und ihr Fluch hatten mich fest im Griff.
Und ich konnte nichts dagegen unternehmen.
Und dann …
Dann war alles zu spät.
Ich trat daneben, knickte um, sah noch den plötzlich auftauchenden tiefen Abgrund. Und fiel einer tiefen Schwärze entgegen. Ich Narr …
Ein Schrei ertönte aus meinem Mund und hallte schaurig wieder. Dann war alles zu spät. Der felszackenübersäte Boden war nahe …
Der Alte lachte sich ins Fäustchen!
Wieder hatte er einen ahnungslosen Menschen in sein düsteres Totenreich gelockt. Die Versuchung, das Tal trotz Warnung zu betreten, war den meisten Menschen einfach zu groß.
Darauf baute er. Das war die Masche, mit der er seine Opfer gewann.
Der Fluch der Stimme war nur Mittel zum Zweck. Nicht mehr und nicht weniger. Es war die Kraft seiner eigenen Stimme, verstärkt durch die Magie des Tales.
Herausgefunden hatte es bisher noch niemand. So konnte er ungestraft seinem Tagwerk nachgehen. Und die Toten taten ihm gut. Sie gaben ihm die Energie, die er benötigte. Und das genoss er in allen Zügen.
„Seit dem 30. Juni wird Peter Langleder vermisst. Er gilt seit einer Bergwanderung als verschollen, konnte trotz intensivster Suche nicht gefunden werden. Wie ein Freund mitteilte, wollte Peter Langleder ...“