Verwurzelte Herzen
Regungslos stand ich da. Mit geschlossenen Augen. Die Welt um mich herum war nichts als ein unwichtiger Gedanke in meinem Hinterkopf, den ich zur Seite schob. Das Gedränge der Menschen um mich herum, die schubsenden Körper, spürte ich kaum.
Ich fühlte nichts. Ich hörte nichts. Doch trotz meiner geschlossenen Augen sah ich. Gebilde, die die Form zweier schlagender Herzen hatten, eng umschlungen von einer Wurzel, die sie zusammen hielt, unzertrennlich verbunden. Und obwohl ich wusste, dass ich so etwas noch nie zuvor gesehen hatte, wusste ich, dass das Bild real war.
Wieder der Junge.
Abrupt öffnete ich die Augen und sah ihn. Ich wusste nicht, wie das möglich sein konnte, aber immer spürte ich seine Anwesenheit, noch bevor ich ihn sah. Diesmal grinste er von dem Dach eines Doppeldeckerbusses auf mich herunter, während er munter mit den Beinen in der Luft schlenkerte. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch schon fuhr ein Lastwagen an ihm vorbei, und als der Lastwagen vorüber war, war der Junge verschwunden.
Ich wusste nicht, wer er war. Ich wusste nicht, wie er hieß. Und doch kannte ich ihn. Mein ganzes Leben lang schon. Er erschien immer wieder in meiner Umgebung und war dann im nächsten Moment – wenn ich versuchte, mich ihm zu nähern – verschwunden. Wie ein geheimnisvoller, schöner Engel mit seinem blondem Haar, den blauen Augen und dem hinreißenden Lächeln. Genau wie seine Angewohnheit, immer hoch oben auf einem Dach zu sitzen, wenn ich ihm begegnete. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, spürte das Band, diesen drängenden Sog zu ihm hin, wenn ich ihn sah. Selbst dann, wenn ich ihn nicht sah.
Wie die verbundenen Wurzeln zweier eng umschlungener Herzen, schoss es mir durch den Kopf.
So schnell wie dieser Gedanke gekommen war, schüttelte ich ihn auch wieder ab, während ich in Richtung Bus eilte. Lächerlich, dachte ich, vollkommen lächerlich.
" Ach ja? Also bin ich in Wirklichkeit nur eine Schöpfung deiner Fantasie? "
Der Junge. Grinsend stand er da. Dann kehrte er mir den Rücken zu und rannte davon. Entsetzt schaute ich ihm hinterher, war für einen kurzen Moment ratlos, ob ich mich für den Jungen oder den Bus entscheiden sollte, den ich im Begriff war zu verpassen. Ich entschied mich für den Jungen. Mein Drang zu ihm zwang mich hinter ihm her zu rennen, als wäre nicht ich, sondern diese Verbindung, das Band, die Wurzel, Herr über meinen Körper. Wir rannten und sein Lachen klang in meinen Ohren, bis ich mit einfiel und zu dem Rhythmus unser beider Herzen tanzte. Denn mir fiel auf, dass mein Herz nicht allein schlug, sondern mit dem seinen im Takt. Mein Geist öffnete sich ihm und auf einmal fühlte ich das, was er fühlte, hörte das, was er hörte und dachte das, was er dachte.
Verwurzelt, dachte er und ich verstand ihn, ohne dass er es laut aussprach.
Endlich blieb er stehen und wandte sich zu mir um. Und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, verblasste das Lächeln auf seinem Gesicht. Seine Augen sahen zum Himmel und die Augen tausender von Menschen in unserer Nähe taten es ihm nach. Auch ich folgte ihnen und sah eine Sternschnuppe, eine wunderschöne, goldene, flammende Sternschnuppe vom Himmel fallen. Wie konnte eine Sternschnuppe, die vom Himmel fällt, am helllichten Tag zu sehen sein?, stellten wir uns beide die entscheidende Frage. Die Wahrheit erreichte uns, noch bevor die Sternschnuppe es tat.
Es war keine.
Wir liefen aufeinander zu. Nein, wir flogen. Während die Welt sich um uns herum in Trümmer auflöste, in flammendes Feuer, das alles fraß, was sich ihm in den Weg stellte. Der zitternde und bebende Boden unter mir zwang mich auf die Knie. Ich spürte einen Körper neben dem meinen. Seinen Körper. Unsere Herzen schlugen im Gleichtakt zu unserem Atem. Doch während sein Atem immer langsamer und schwerfälliger wurde, beschleunigte sich meiner, kämpfte, schrie darum, gehört zu werden. Versuchte, seinen Atem am Leben zu erhalten. Doch irgendwann war der seine nur noch ein Hauch, zu leise, um ihn noch wahrnehmen zu können.
Und mein Herz schlug allein.
Die pulsierende Wurzel um unsere Herzen erschlaffte, nur noch ein einzelner, dünner Ast hielt sie zusammen.
Und mein Herz schlug allein.
Alles in mir schrie, ich wollte nicht aufgeben. Es konnte nicht sein, dass der eine lebte, während der andere starb. Wir waren verwurzelt, unzertrennlich miteinander verbunden oder etwa doch nicht? Hatte ich mich nicht geirrt? Wie konnte ich wissen, ob wir verbunden waren, wenn ich doch noch nicht einmal seinen Namen kannte? Wie konnte ich wissen, ob dieses Bild real war? Der Schmerz in mir, ihn am Leben erhalten zu wollen, verzerrte mich, verdrängte meine anderen Schmerzen, die mich am Boden fesselten. Also suchte die Wurzel in mir nach dem letzten bisschen Leben in ihm und … fand es. Die Wurzel zog sich zusammen, umschlang unsere beide Herzen wieder fest und zwang das seine, die Arbeit aufzunehmen, bis es einfiel in den gewohnten Rhythmus, im Gleichtakt zu meinem Herzen.
Er sprang auf, ergriff meine Hand und zog mich hoch. Dann gingen wir Hand in Hand der zertrümmerten Welt entgegen, dem blutenden Aufgang der Sonne.
Da war dieser Junge. Und da war dieses Band zwischen uns; diese unbezwingbar, verbundenen Herzen.
Verwurzelt.