Der Brief
Der Morgennebel hatte sich gelichtet. Die Overden, die gewöhnlichen Vögeln nur entfernt ähnelten und sich in der Farbe ihres Gefieders kaum vom düsteren Graugrün der Bäume abhoben, sangen bereits ihre ersten Lieder in den Baumwipfeln und darüber. Auf einer kleinen Lichtung zwischen hohen Bäumen flackerte ein kleines Lagerfeuer. Eine Gemmo mit blauen Haaren lief zwischen der Feuerstelle und einem kleinen Wagen, der voll bepackt mit Taschen und Töpfen war, hin und her. In der Nähe waren wollene Decken auf dem Gras ausgebreitet, daneben lag ein Bündel Decken, an dessen Ende rote Haare hervorschauten. Ein seichter Windstoß blies über die Lichtung, brachte die Flammen unter dem Topf zum Flackern und zauste sanft an den roten Haarsträhnen.
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Rubi streckte sich und gähnte. Ein seltsamer Geruch drang von rechts zu ihm herüber. Er rümpfte die Nase und schüttelte sich. Weil er in der Nacht wieder schrecklich viel gezappelt hatte, waren die Decken um seine Beine verschlungen, und er fiel beim Aufstehen hin.
"Autsch!"
Das Summen, das den Geruch begleitet hatte, verstummte.
"Na, bist du endlich aufgestanden?"
Rubi schob die Decken mit einem Grunzen von sich und richtete sich auf. Der frühe Morgen war nicht seine Zeit. Er blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und wankte zum Lagerfeuer, über dem ein kleiner Topf hing. Das Gestell aus drei knorrigen Stöcken, an dem der Topf befestigt war, sah wacklig aus.
"Ich hab schon Frühstück gemacht", piepste Lassi, die am Feuer stand und in dem Topf rührte. "Unsere Pilze haben wir schon alle aufgegessen, aber ich habe ein paar Wurzeln gefunden." Lassi war so klein wie Rubi, doch aufgrund ihrer Breite sah sie mindestens eine Elle kleiner aus. Entgegen ihrer Körpermasse war ihre Stimme eher hoch und dünn, aber wenn sie wollte, konnte sie sehr laut werden. Rubi hatte diese Erfahrung bereits des Öfteren machen dürfen. Im Moment war sie glücklich und zufrieden, ihre Stimme die übliche Mäuseflöte. Rubi dagegen war gar nicht glücklich. Lassi war nämlich eine grausige Köchin.
"Was denn für Wurzeln", nuschelte er und linste in den Topf. Die Masse war grau und blubberte, und die Dämpfe rochen aus der Nähe noch schlimmer als aus der Ferne. Weil weder der frühe Morgen noch die abwesenden Kochkünste von Lassi seine Laune heben konnten, kroch Rubi zurück unter die Decken.
"Weck mich, wenn du fertig bist."
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Der Geruch der kochenden, schimmeligen Wurzeln wurde von der leichten Brise aufgenommen, die durch die Bäume auf die Lichtung wehte. Die Blätter raschelten, als die Luft an ihnen vorbeizog und sie sanft anstieß. Ein paar trockene Blätter wurden aufgewirbelt und wankten langsam wieder zu Boden. Die Brise fuhr in derselben gemächlichen Geschwindigkeit über einen großen Stein und in eine kleine Höhle hinein, die versteckt unter einem Busch in den Erdboden gegraben war. Im Innern regte sich etwas. Eine zitternde Nase witterte die Fetzen des Wurzeleintopfs und schnellte zum Eingang der Höhle vor. Die Pupillen der kleinen schwarzen Augen verengten sich ob des plötzlichen Wechsels von Dunkelheit und Licht. Das Tier, das wie eine Kreuzung aus Dachs und Eichhörnchen aussah, schnüffelte durch die herabgefallenen Blätter, tastet sich mit allen Sinnen stückchenweise vor und wuselt dann in irrer Geschwindigkeit davon.
Als es auf die Lichtung gelangte, wo der Duft am Stärksten war, war von den Wanderern nichts mehr zu sehen. Der Topf war ausgekippt worden, das ungenießbare Frühstückssüppchen versickerte bis auf die Wurzelbrocken, die nicht weich zu kochen waren, langsam im Boden. Im Gegensatz zu denen, die noch vor wenigen Minuten hier gerastet hatten, war das Dachshörnchen ganz wild auf die zurückgelassene Nahrung. Endlich etwas anderes als diese Nüsse und Waldameisen. Es stürzte sich auf die Wurzeln und knabberte gemütlich die essbaren Teile von den kernigen Stängeln.
Die Schmatzgeräusche des Tierchens waren so laut, dass es nicht bemerkte, wie sich etwas anderes, etwas Großes, auf die Lichtung schlich. Was aus den Schatten der knorrigen Fichten und hoch aufragenden, Eichen und Pappeln ähnelnden Bäume hervorkam, war nicht so niedlich wie das Dachstier. Von den nadelspitzen, ellenlangen Zähnen tropfte Speichel. Dort, wo die dicken Tropfen auf den Boden trafen, zischte die Erde und wurde schwarz. Der dabei aufsteigende Rauch ließ die Blumen und Gräser, die er umwölkte, verdorren. Schwere Pfoten mit drahtigen Haaren und scharfen Krallen näherten sich vorsichtig der Beute.
Einen Wimpernschlag später durchzogen rote Spritzer die graue, noch dampfende Wurzelbrühe. Bis auf
das Zwitschern eines unbeeindruckten Vogels war die Lichtung war leer.
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Der Waldweg war licht, obwohl sich die Sonne, wie immer, hinter einem Wolkenschleier versteckte. Rubi und Lassi kannten die Sonne nicht, hatten sie nie gesehen, daher kümmerten sie sich nicht darum. Der kleine Wagen, beladen mit Decken, Töpfen und den wenigen Habseligkeiten der beiden Gemmos, klapperte hinter ihnen über die Wurzeln und Steinchen.
Rubi, noch ein wenig schlaftrunken vom frühen Aufbruch, blieb stehen. Seine kirschroten, dichten Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab.
"Hast du den Brief?" Er wandte sich mit fragendem Blick an Lassi.
"Du hast ihn doch eingepackt." Lassi sah ihn tadelnd an, ohne den Takt ihrer Schritte zu verringern.
"Gütiger Stawon!" Rubi hielt das Seil fest, an dem sie den Wagen zogen. Lassi verlor durch den Ruck das Gleichgewicht und landete auf dem weichen Waldboden. Rubi ignorierte ihr Quieken und machte sich daran, die Taschen auf dem Wagen zu durchsuchen.
"Wo ist er? Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt, er muss sicher verwahrt werden." Er zog einen löchrigen Schuh aus einem Beutel und warf ihn beiseite.
"Aber ich habe ihn doch gar nicht in der Hand gehabt", quengelte Lassi und mühte sich auf die kurzen Beine. "Vielleicht hast du ihn ja in die Hose gesteckt."
"Was? Hose?" Weitere Kleidungsstücke, Holzlöffel und sogar kleine Töpfe flogen durch die Luft. Ein Löffel traf Lassi mitten auf der Stirn. Sie quiekte wieder und stapfte dann auf den Derwisch zu.
"Heh!"
"Hier." Sie griff Rubi in die Hosentasche und zog eine kleine Pergamentrolle hervor. Eine rote Kordel, sorgsam verknotet und mit einem dunklen Wachstropfen versiegelt, sorgte dafür, dass die Rolle nicht aufging. Oder jemand die Nachricht las, für den sie nicht bestimmt war.
Rubi atmete hörbar aus und ließ die Schultern sinken.
"Puh. So ein Glück. Ich dachte schon ..."
"Nix da, wir haben noch nie einen Brief verloren. Und nun komm, wir wollen keine Zeit verlieren."
Sie begann, die verstreuten Sachen zuruck auf den Wagen zu befördern.
"Nun hilf mir doch, ich bin nicht deine Sklavin."
Rubi sah auf das Siegel herab. Als er den Brief bekommen hatte, war es ihm nicht aufgefallen, da er zu beschäftigt war, mit dem Obsthändler die Konditionen fur ihre Botenreise zu verhandeln. Jetzt fiel ihm auf, dass das Zeichen auf dem Siegel ihm gänzlich unbekannt war. Er hatte mit Lassi schon viele Dinge durch das Land getragen. Aber dieses hier ... Er schaute genauer hin.
Ein Drachenkopf mit vier Hörnern, mit einer verschlungenen, kreisförmigen Verzierung. Nein, das Zeichen hatte er noch nicht gesehen.
"Bei allen Göttern und Trägern", beschwerte sich Lassi wieder, "pack den Brief wieder in deine Hosentasche und komm!"
Die Schriftrolle verschwand erneut in Rubis Hose, wo er sie sicher wiederfinden wurde. Das eigenartige Siegel ging ihm noch eine Weile im Kopf umher, während er und Lassi Seite an Seite durch das dämmrige Waldstück liefen.
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Den Brief hatten sie in Sasout ausgehändigt bekommen. Der Schmied, bei dem sie die letzte Nachricht abgeliefert hatten, erzahlte ihnen von einem Obsthändler, der Träger suchte. Der Obsthändler war ein unangenehmer Mann. Er tat so, als stünde sein Wagen von Käufern umringt und wollte Rubi und Lassi abweisen, bis er hörte, warum sie ihn ansprachen.
"Wir wurden vom Schmied geschickt. Er sagte uns, Ihr hättet Arbeit fur einen Träger."
Der Händler schaute sich die beiden Winzlinge genau an. Er selbst war fett und trug schmutzige Kleidung, die ihn weniger als Händler, sondern vielmehr als Bettler aussehen lies.
"Ihr könnt für mich eine Nachricht übermitteln?", grunzte er dann.
Rubi und Lassi nickten eifrig.
"Also dann, wartet hier. Und passt auf, dass keiner die Äpfel stiehlt. Obwohl, ihr kommt ja selbst nicht dran, wie sollt ihr dann jemanden aufhalten, der sie nehmen will?" Er lachte ein dreckiges Lachen und verschwand in einer Hütte, die schief hinter dem Wagen stand und wie ein zusammengeschusterter Hühnerstall anmutete.
Rubi trat von einem Bein aufs andere, Lassi knabberte an ihren Fingernägeln. Sie machten sich beide nichts aus seltsamen Auftraggebern, solange sie nur einen Brief zu überbringen bekamen. Das Tragen war ihre Bestimmung, und es war ihnen auch zur Leidenschaft geworden.
"Es ist von unbedingter Wichtigkeit, dass dieses Pergament seinen Bestimmungsort erreicht." Der Mann baute sich wichtigtuerisch vor den beiden auf und schaute streng auf sie herab, hielt den Brief aber noch fest mit der Hand umschlossen. "Er darf weder verloren gehen noch darf er in die falschen Hände geraten."
"Natürlich", sagte Rubi. Er wollte zwar den Auftrag, aber mögen musste er denn Händler nicht. Vor allem, wenn dieser ihre Integrität und Sorgfalt anzweifelte. "Wir haben bis jetzt noch jeden Brief bis zum Ende getragen."
Der Händler dachte noch einige Augenblicke nach, wohl um festzustellen, ob er nicht selber den Weg auf sich nehmen sollte, entschied sich dagegen und händigte Rubi, der mit ausgestreckter Hand dastand, die Rolle.
"Ihr bekommt den Lohn vom Empfänger. Er heist Urukros. Ihr findet ihn im übernächsten Ort, wenn ihr dieser Strasse folgt." Mit einer schmierigen Hand zeigte er beifällig in eine Richtung.
"Ah, Mensota", sagte Lassi mit einem Nicken. Der Händler widersprach nicht. "Da sind wir vor einer Woche schon gewesen, nicht Rubi?"
"Ich danke Euch fur Euer Vertrauen. Wir werden den Brief in Windeseile ausliefern und weder Euch noch Urukros enttäuschen." Rubi verbeugte sich vor dem Händler, wie es sich gehörte. Lassi stand nur da und wippte auf den Fußballen. Rubi stiess sie mit dem Ellenbogen an, und Lassi machte eine Bewegung, die wohl ein Knicks sein sollte.
"Komischer Kerl", meinte sie etwas später, als sie mit dem Karren hinter sich aus der Stadt hinausgingen. "Der hat wohl zu viele Kraspiten gegessen." Kraspiten waren eine Art Obst, die ziemlich sauer schmeckte.
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Sie hatten das Dörfchen, das hinter Sasout lag, noch vor Mittag hinter sich gelassen.
"Warum haben wir eigentlich nicht in einem Gasthaus übernachtet?", fragte Lassi, als sie das nächste Mal Pause machten. "Da ware es wärmer gewesen, und du hattest dich nicht über mein Frühstück beschweren müssen."
"Ach nein", antwortete Rubi. "Die Betten sind immer zu groß, und die Menschen dort sehen nicht so gerne Gemmos an ihren Tischen sitzen." Er interessierte sich plötzlich brennend für die Blumen, die mit hängenden Köpfen den Wegesrand säumten.
Lassis Mundwinkel zuckten leicht. "Du meinst wohl, du magst nicht so gerne an ihren Tischen sitzen."
Rubi schaute sie nicht an, noch versuchte er, sich zu verteidigen. Er konnte und wollte nicht lügen.
Mit erhobenen Armen, ausgestreckten Fingern und auf Zehenspitzen watschelte Lassi auf ihn zu.
"Huhuuu, ich bin ein böser großer Mann, fürchte mich!" Auf halbem Wege stolperte sie uber einen Stein und landete im Gras. "Hoppla."
Rubi musste wider Willen lachen. "Das geschieht dir recht. Man macht sich nicht über die Ängste anderer lustig." Sein Ausdruck wurde ernst. "Es sind auch mehr die großen Tiere, die mir Sorgen machen. Was ist, wenn mal eins Hunger hat und wir gerade des Weges kommen?"
"Du machst dir ja selbst mehr Angst als alles andere." Lassi hatte sich aufgesetzt und blickte verträumt in den Himmel hinauf, der grau und diesig war wie immer. "Was meinst du, was es damals für Tiere gab?"
"Wann, vor Stawons Tod? Das kann ich dir nicht sagen", meinte Rubi wahrheitsgemäß. "Aber ich stelle mir immer vor, dass es bunte waren. Kleine, liebliche Tiere mit Flügeln, die im Sonnenlicht glitzern, so wie Tafelsilber im Kerzenschein."
"Ja", seufzte Lassi. "Bestimmt war es so. Komm, lass uns weiter gehen", sagte sie plötzlich. "Wir wollen doch niemanden warten lassen.
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Kaum waren sie eine Zeit gegangen, ruckelte der Wagen über einen Stein. Das rechte Vorderrad hing für einen Augenblick in der Luft und das Gewicht der Ladung verlagert sich. Mit einem Poltern fiel der Wagen auf die Seite. Das Seil, das Rubi um seine Körpermitte gebunden hatte, um den Wagen zu ziehen, ruckte nach hinten und schleuderte Rubi zu Boden. Mit einem "Uff" entwich die Luft aus seinen Lungen, so heftig war er aufgekommen. Es knackte und Rubi schrie auf. Doch es war nur ein Schreck und kein gebrochener Knochen, denn als Rubi vorsichtig und mit verkniffenem Gesicht seine Rippen betastete, konnte er nichts finden. Dann dämmerte ihm, was das Geräusch verursacht haben könnte, und seine Augen weiteten sich.
"Lassi, hilf mir hoch!", sagte er. Der ängstliche Unterton war kaum zu überhören, doch Lassi, die links gegangen war und noch auf den Beinen stand, schaute nur verdutzt auf Rubi hinunter.
"Lassi!", rief Rubi lauter. Endlich reagierte sie und zog Rubi an den Händen hoch, sodass er aufstehen konnte.
"Was machst du denn da?" fragte sie und fing an, ihm Staub und Steinchen vom Rücken zu klopfen.Rubi antwortete nicht, sondern fummelte an der Hosentasche herum. Mit Panik im Blick zog er die Schriftrolle, die sie für den Händler nach Mensota trugen, hervor.
Das Siegel, das er vor Kurzem noch verwundert betrachtet hatte, war gebrochen. Kleine Bröckchen von hartem Wachs klebten an der Bruchstelle, und Rubi holte mehr von den schwarzen Krümeln aus der Hosentasche. Er sah auf, und Lassi sah dicke Tränen in seinen Augen schimmern.
"Ist doch nicht so schlimm, passiert schon mal", sagte sie vorsichtig, obwohl sie sehr genau wusste, dass es alles andere als nicht schlimm war. Sie selbst hatte schon einige Nachrichten getragen und mehr als einmal ein Siegel gebrochen, aber das war natürlich, bevor sie Rubi getroffen und mit ihm zusammen durchs Land gezogen war. Rubi war furchtbar genau und hielt sich an den Kodex, als ginge es um sein Leben, passte besser auf die Briefe auf als auf seine Augäpfel.
"Was machen wir denn jetzt?" Er hatte Lassis hilflosen Tröstungsversuch gar nicht gehört. "Was machen wir denn nun? So kann man doch keinen Brief überbringen." Eine Träne löste sich und rollte über seine Wange. Rubi sank förmlich zu Boden, den Brief und die Wachskrümel noch in der Hand. Jetzt schaute er Lassi doch an, so mitleidig, dass sie den Blick senkte.
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Sie überlegten lange, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Die wenigen Tiere, die den düsteren Tag mit ihrem Singen und Flöten erheitert hatten, wurden still, und der Abend senkte sich fast unmerklich auf das Land und die Wiese, auf der sie saßen.
"Das ist ja schwarz", sagte Lassi verwundert, als sie ihre Augen abwesend über die Rolle schweifen ließ. "Wer benutzt denn schwarzes Siegelwachs?"
"Das habe ich auch schon bemerkt. Ich kenne niemanden, der das tut." Rubi zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hatte derjenige kein Rotes mehr übrig."
"Unsinn. Das hat etwas zu bedeuten." Lassi fuhr sich durch die Haare und zupfte nachdenklich an den Strähnen. "Meinst du, der fiese Obsthändler hat den Brief geschrieben?"
"Aber das tut doch nichts zur Sache!", rief Rubi aus, dem sehr viel wichtiger war, zu wem ein Brief getragen werden musste, als von wem er kam. "Wir haben folgende Möglichkeiten." Rubi hob eine Hand und tippte sich auf einen Finger. "Erstens: Wir gehen zurück und lassen die Rolle neu versiegeln."
"Unmöglich. Der macht Mus aus uns."
"Zweitens." Der nächste Finger war an der Reihe. "Wir können den Brief abliefern und müssen damit rechnen, keinen Lohn zu bekommen."
"Nicht akzeptabel, Rubi. Dann können wir den Brief gleich in den nächsten Bach werfen."
"Wie kommst du denn auf so was?" Rubi warf die Hände in die Höhe und bedachte Lassi mit einem Blick, der deutlich machte, dass Rubi ernsthaft an ihrem Geisteszustand zweifelte. "Der Brief muss getragen werden, bis zum Ende. Egal was passiert." Er ließ die Hände sinken und sah Lassi betrübt an.
"Du und dein Kodex. Manchmal muss man improvisieren! Ich habe bisher immer jemanden gefunden, der mir ein Siegel duplizieren ..."
"Ach du großer Stawon", unterbrach Rubi. "Solche Widersinnigkeiten will ich mir nicht anhören." Rubi stand auf und ging zum Wagen, um ihre Decken zu holen.
Der Brief lag vor Lassis Füßen im Gras.
"Was macht der für einen Aufstand", murmelte sie, "um einen Brief, der wahrscheinlich nur Mengenangaben zu Pflaumenkompott enthält." Ihre Hand streckte sich nach dem Brief aus. "Etwas Wichtiges kann der alte Obstmann doch nicht zu erzählen haben." Zwei Finger schlossen sich um die Pergamentrolle. "Vielleicht ist es ja ein leckeres Rezept." Das Pergament entrollte sich beinahe von selbst. "Eigentlich mag ich ja Äpfel lieber ..." Lassis Augen wanderten über die verschnörkelten Worte und wurden dabei immer größer.
"Laska!" Rubi stand vor ihr, zwei Decken zusammengerollt unterm Arm.
Lassi zuckte zusammen und warf den Brief von sich. "Ich hab doch nur ... ich wollte, ich dachte ..." Der verzweifelte Versuch, sich zu rechtfertigen hatte keinen Einfluß auf ihren erschreckten Gesichtsausdruck. Rubi schnappte nach der Rolle und blickte trauriger denn je drein.
"Was denkst du dir nur? Erst das Siegel, und nun deine ..." Er sah Lassi an, um ihr eine Rüge zu erteilen, doch er stoppte mitten im Satz, als er die Frucht in ihren Augen sah. "Was ist mit dir? Hast du einen Geist gesehen?"
"Der Brief ... der Brief ...", stammelte Lassi.
"Ja, du hast ihn gelesen. Ich hoffe, du hast Anstand und schämst dich für diesen Vertrauensbruch."
"Nein!"
Rubi schaute sie skeptisch an. "Nein? Kein Anstand? Keine Scham?"
"Lies ihn. Lies den Brief. Es ist ... ich bin ..."
Ihre großen, angsterfüllten Augen verunsicherten Rubi, doch der Glaube an den Kodex der Träger erfüllte seine Worte mit Überzeugung. "Ich kann den Brief nicht lesen. Eher sterbe ich. Ein guter Arzt fängt auch nicht einfach an, gesunden Patienten die Arme abzusäbeln, oder Kranke nach Hause zu schicken."
"Da steht - "
"Ich will es nicht wissen!", sagte Rubi mit einer Stimme, die Lassi verstummen ließ. "Es ist schlimm genug, wie es ist." Er verstaute den Brief sorgfältig in der Hose. "Es ist spät, wir sollten schlafen und morgen entscheiden, was zu tun ist."
"Er will sie umbringen." Lassis Stimme war kaum mehr als ein heiseres Wimmern.
"Der Obsthändler? Wen? Ich weiß, er war unfreundlich, aber DAS würde ich nicht vermuten, auf wen auch immer er es deiner Meinung nach abgesehen hat." Rubi zupfte an seiner Decke herum.
Lassis Blick verlor sich in der Ferne und ihre nächsten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. "Horkan. Er will die Lichtgänger vernichten."
"Aber Horkan hat seine Zauberkraft verloren, als er den letzten Kampf gegen Stawon gewann", sagte Rubi, und breitete eine der Decken auf einem Stück Boden aus, der mit Moos bewachsen war. "Das ist ewig her ... so erzählt man sich es jedenfalls."
"Ja, das erzählt man sich. Aber da steht ..." Lassi schluckte. "Da steht, wie er seine Macht zurückerlangen will. Ich habe nicht alles verstanden, aber - " Sie schüttelte ungläubig den Kopf, dann sah sie Rubi mit festem Blick in die Augen. "Eines habe ich verstanden. Er will seine Macht zurück, und er will dafür sorgen, dass es keine Lichtgänger mehr gibt."
Rubi guckte verdutzt auf die Stelle, an der er den Brief verstaut hatte. Sprach Lassi die Wahrheit?
"Den Brief tragen ...", murmelte er. Ihm wurde schwindelig. "Ich möchte jetzt schlafen. Weck mich nicht zu zeitig, ja?" Er legte sich auf die halb ausgebreitete Decke und drehte sich so, dass Lassi nur noch seinen Rücken anstarren konnte.
Sie saß noch eine Weile da, und als sie merkte, dass ihre Füße schon längst kalt waren, wickelte auch sie sich in ihre Decke. Einschlafen konnte sie aber noch lange nicht.
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