ANkunft
11. Grünwalden. 775 ÄIII n.Br.
Vor Ariona Nell lagen die qualmenden Ruinen, über die sich die Nacht wie ein Leichentuch gelegt hatte, das die geschliffenen Gebäude verhüllte, die gebrochenen Steine, die geschändeten Leichen. Das Knistern des Kieswegs unter ihren schmalen Füßen hallte durch die Totenstille, durch die Schneise der Verwüstung, welche die Dunkelheit zu einer verschwommenen Kluft schattenhafter Gebilde kaschierte. Doch den Geruch verbarg sie nicht. Es stank
nach verbranntem Fleisch, nach Tod und Angst.
Stur senkte sie ihren Blick auf das Pflaster, während sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte. Über ihr kreischte ein Nachtvogel, wobei er den jähen Drang in ihr auslöste, sich umsehen zu wollen. Doch widerstand sie mühevoll. Es war ihr, als könnte sie den Blick ihres Leibwächters Ovart, der ihr wie ein Schatten folgte, im Nacken spüren. Er haftete auf den goldgelben Verzierungen des königsblauen Kleides, das ihre zierliche Figur einhüllte. Zusammen mit ihren hellblonden Haaren waren sie alles, was sich im fahlen Mondlicht von der allesbeherrschenden
Schwärze abhob.
Auf dem schmalen Weg, der sich zwischen den eingerissenen Gebäuden hindurchschlängelte, machte sie einige Schritte vor sich die Silhouette eines flachen Gegenstands aus, worauf sie einhielt. In ihrem Kopf gellten die finsteren Vorstellungen des Grauens, welches dort im Schatten lauern konnte.
„Wünscht Ihr, dass ich vorgehe?“, erkundigte sich Ovart, dessen raue Stimme von seinem fortgeschrittenen Alter kündete.
Langsam wandte sie sich zu ihm um, sodass sie einander in die Gesichter starrten. Während das ihre schmal und feinzügig war, durchzogen tiefe
Altersfalten die gebräunte Haut des seinen, welches ebenso gegerbt und betagt wirkte wie der Wanderstab, auf den er sich stützte. Dennoch, so wusste Ariona, war seine Kampfkraft nicht zu unterschätzen.
Sie nickte ihm bestätigend zu, worauf er zu ihr herübertrat und ihr die Zügel des Lastenponys übergab, das er zuvor geführt hatte. Anschließend zog er langsam weiter und sie folgte ihm. Der Gegenstand, den sie gesehen hatte, offenbarte sich als ein zerfleddertes Banner, dessen weißer Grund so verdreckt und verkohlt war, dass man die Farbe kaum noch erkennen konnte.
Das Wappen in der Mitte war vom
Gröbsten verschont geblieben, sodass es fortwährend seinen perfekten, symmetrischen Stern mit den achtzehn goldenen Zacken zeigte. Achtzehn Zacken, die Ariona an eine Heimat denken ließen, welche ihr nun so unsagbar weit entfernt und unsagbar friedlich vorkam. Doch ihre Träume ertranken in dem gewaltigen Ozean, der sie von dieser Heimat trennte und in die Hölle der Gewalt einpferchte, die sich Fiondral nannte.
Zum ersten Mal wagte sie es, sich umzusehen, und obwohl alles im Verborgenen unter den Schatten lag, wusste sie doch genau, was dort lauerte. Die am Wegesrand aufgespießten Köpfe,
die Leichen der geschändeten Frauen, die gepeinigten Kinderkadaver, die geschliffenen Häuserruinen, die verbrannte Erde spiegelten den Zustand des ganzen Kontinents wider. Obgleich die ersten tollkühnen Entdecker erst vor rund hundert Jahren an seiner zerklüfteten Westküste gelandet waren, hatten sich die Menschen des zivilisierten Westkontinents Kalatar schnell seine ungezügelte Wildnis Untertan gemacht, ihn gänzlich erkundet und kolonialisiert. Glücksritter waren in unerforschte Landstriche vorgedrungen, Forscher hatten Tiere benannt, jede neue Pflanzenart in dicken Wälzern verzeichnet, Käufermänner hatten Minen
wie Handelsrouten eröffnet, Männer und Frauen hatten Familien gegründet, Dörfer errichtet, Städte gebaut, bis zu jenem Tag, an dem die gewaltige Horde der Orks an der Ostküste aufgetaucht war, um wie ein hungriger Heuschreckenschwarm über den ganzen Kontinent herzufallen. Unter dem Sturm der Bestien waren Städte, Flotten und Armeen gefallen, bis schließlich der ganze Kontinent in Trümmern lag.
Der Ort mit seiner geschliffenen Burg, in deren Schatten Ariona und Ovart nun streiften, war das bisher jüngste Opfer dieses bereits verlorenen Krieges.
„Hier ist niemand mehr am Leben“, seufzte der Alte, nachdem er vor dem
qualmenden Torhaus eingehalten hatte, „Wir können von Glück reden, dass wir der Horde, die dieses Dorf überrannt hat, nicht in die Arme gelaufen sind.“
„Allerdings“, bestätigte sie, während sie zu dem Herrenhaus hinaufblickte, das wie ein rauchender Schlot in die Nacht ragte.
„Das war der letzte Ort auf meiner Liste. Ich fürchte, damit bleibt uns nur noch eine Möglichkeit“, murmelte ihr Begleiter und seine Stimmlage ließ deutlich erkennen, dass er wusste, wie heikel das soeben angesprochene Thema war, „Hohengram ist…“
Sie hob die Hand und gebot ihm, zu schweigen, während die Vorstellung ihrer
Vergangenheit so schmerzhaft in ihre Sinne stach, dass sie bei der Erinnerung die Augen schließen musste und nicht glauben konnte, dass so viel Schreckliches in so kurzer Zeit hatte geschehen können. Als sie auf das zersplitterte Mauerwerk hinabblickte, sah sie das verschwommene Spiegelbild ihres eigenen Gesichts am Boden eines leeren Glases und spürte wie der bittere Geschmack von Schnaps und Erbrochenem erneut ihre Kehle hinaufstieg. Obwohl ihre Erinnerungen aus Zeiten sprachen, die schon seit mehr als einem Jahrzehnt vergangen waren, hatte ein einziges Wort gereicht, um sie wieder in ihrem zerrütteten Geist
auflodern zu lassen.
„Ich gehe nicht nach Hohengram“, entgegnete sie bestimmt.
„Ich hatte bereits befürchtet, dass Ihr das sagen würdet“, seufzte er, dessen Gesicht sich zu einem furchigen Felsen verhärtet hatte.
„Ihr wisst genauso gut wie ich, wer auf dem Thron von Hohengram sitzt, wer diese Stadt erbaut hat! Ihr wisst, dass ich nicht dorthin gehen kann!“, fauchte sie.
„Ich weiß, was jeder darüber weiß“, murmelte der Alte.
bwohl er vor nunmehr fünf Jahren ihr Leibwächter, Diener und somit ständiger Begleiter geworden war, hatte sie ihm
nie mehr von ihrer Vergangenheit offenbart als das, was ohnehin offensichtlich war. Ihr Name wies sie als Angehörige des Hauses Nell aus, den ehemaligen Herren des Fürstentums Servyn, und er sprach von Trauer, von Verlusten und großer Grausamkeit.
Sie vermutete, dass auch er die Geschichten gehört hatte, die man zu später Stunde in den dunklen Ecken so mancher Kneipe über die elf Jahre zurückliegende Revolution auf Kalatar flüsterte, über den Befehl des letzten Königs, jeden Verräter bei lebendigem Leib zu Asche zu verbrennen. Ein Schicksal, das, wie man sich erzählte, so ziemlich jedem Nell widerfahren war.
Ein einziges Mal hatte sie ihm gegenüber durchblicken lassen, dass von ihrem gesamten Haus einzig sie und ein jüngerer Bruder die Besatzung ihres Fürstentums durch die königlichen Truppen überlebt hatten.
Der Oberbefehlshaber der Besatzer, Renard Schwarzschild, der es sich nicht hatte nehmen lassen, jeden Scheiterhaufen eigenhändig anzuzünden, war der Älteste jener Familie, die über Hohengram herrschte.
Ovarts Gesicht jedoch verblieb steinern.
„Was Euch widerfahren ist, ist schrecklich“, stimmte er ruhig zu, „Doch die Zeiten waren so. Sie waren schrecklich. Damals waren wir alle mehr
Tiere als Menschen. Seht“, er hob seine rechte Hand, an der zwei Finger fehlten, „Die hat der Sultan von Elipf mir abschneiden lassen, weil ich nicht gegen den König kämpfen wollte, und als ich mich danach immer noch weigerte, hat er mich auch noch meiner Kronjuwelen beraubt, wenn Ihr versteht, was ich meine. Ihr könnt auf Kalatar jeden fragen, ob Rebell oder Loyalist. Alle werden sie Euch Geschichten von derselben Grausamkeit erzählen.“
„Glaubt mir, sie haben nicht das erlebt, was ich erlebt habe“, zischte sie. Plötzlich sprach Betretenheit aus seiner marmorierten Miene.
„Ich wollte nichts entschuldigen, nichts
rechtfertigen“, merkte er hastig an, „Aber unabhängig von der Vergangenheit ist Hohengram jetzt unsere einzige Überlebenschance.“
„Wird könnten weiter nach Norden gehen, uns dort irgendwo verstecken, oder nach Süden, vielleicht gibt es doch noch Städte, die nicht erobert wurden“, schlug sie vor.
„Wir haben seit Wochen nichts anderes mehr gehört, als dass Hohengram die letzte Zuflucht sei. Jeder Flüchtling den wir getroffen haben, jede verirrte Brieftaube, die wir fanden, berichtete davon. Im Gegensatz zu den anderen Städten ist Hohengram eine Festung. Lucian Schwarzschild hielt sie bis zum
Ende der Revolution gegen die Rebellen. Zwei Jahre lang! Man sagt, als nach den Friedensverhandlungen die Tore geöffnet wurden, hatten die Bürger Hohengrams keinen einzigen Gefallenen zu beklagen. Glaubt mir: Es gibt im Süden keine freien Städte mehr, und wenn wir uns im Norden verstecken, sterben wir spätestens, sobald der Winter über das Land hereinbricht.“
„Dennoch werde ich nicht nach Hohengram gehen. Eher laufe ich lächelnd den Orks in die Arme“, rief sie, wobei sie beständig den Kopf schüttelte.
„Ihr vergesst, was meine Pflicht ist. Ihr vergesst, dass das auch meinen Tod bedeuten würde“, murmelte er
bitter.
„Schön. Ihr habt mir gut gedient, Ovart. Ich honoriere Eure Dienste, indem ich Euch davon entbinde“, fauchte sie, wobei sie einen verkohlten Kieselstein wegtrat.
„Ich bin dem Volk und dem Senat Kalatars vereidigt. Ihr könnt mich nicht von meinen Pflichten entbinden, Konsulin. Ich habe geschworen, Euer Leben zu schützen, was auch immer dazu nötig sein würde. Wenn Ihr mich dazu zwingt, lege ich Euch in Ketten und schleife Euch nach Hohengram. Ich würde es jedoch vorziehen, wenn Ihr mir das ersparen und selbst gehen würdet.“
Er lächelte, doch sie wusste, dass er
keinesfalls scherzte und dass er durchaus die Möglichkeit besaß, seine Worte wahr werden zu lassen. Im Gegensatz zu ihr, die weder mit Schwert oder Axt noch einem Speer und schon gar nicht mit einem Streitkolben umgehen konnte, hatten ihn viele Jahre des Söldnertums gestählt. Zwar verstand sie ein wenig von Magie, doch hatte die Revolution zu einem vorzeitigen Abbruch ihrer Ausbildung geführt, obwohl sie durchaus begabt war. Eine Chance, Ovart aufzuhalten, sah sie nicht, sodass sie dem Unausweichlichen entgegenstarrte.
„Also schön“, seufzte sie, wobei eine einzelne Träne über ihr zornrotes Gesicht
rann, „Dann gehen wir eben nach Hohengram. Aber glaubt nicht, dass ich in dieser Stadt meinen wahren Namen offenbaren werde. Von nun an sind wir Kaufleute aus dem Osten Fiondrals. Habt Ihr das verstanden?“
„Kaufleute?“, murmelte er, wobei er argwöhnisch an seiner ausgeblichenen, grauen Kutte herabblickte, „Wie Ihr meint. Allerdings solltet Ihr das dann wohl besser verbergen.“
Er deutete auf das Wappen des Hauses Nell, eine weiße Taube mit goldenen Flügeln, die auf der Brust ihrer Robe flatterte.
„Lasst das nur meine Sorge sein“, erwiderte sie, bevor sie den
Todesgestank ihrer Umgebung tief in ihre Nase sog und dabei angewidert das Gesicht verzog, „Gehen wir! Ich will hier nicht bleiben.“
Damit stiefelte sie schnellen Schrittes voran, während er ihr mit dem Lastenpony langsam nachfolgte.