Plötzlich schreit mir jemand laut ins Ohr.
„Hören Sie endlich auf!“
Ich zucke zusammen.
Es schmerzt mein Trommelfell. Ja, es hat mir tatsächlich jemand hochdezibel ins Ohr geschrien.
„Was denn?“ Ich bin wohl erschrocken, aber reagiere schnell. „Was, womit soll ich aufhören?“
„Andere Leute zu belästigen.“
„Belästigen…“
„Ja, belästigen ist noch ein harmloser Ausdruck.“
Die alte Dame schluckt, ringt nach Luft, stößt aus: „Sogar Kinder vergiften sie damit!“
„Ich, und Kinder vergiften? Niemals!“
„Tun sie aber!“
Lehrer, hier weiblich, müssen immer Recht haben.
„Warum?“
So leicht lass ich mich nicht in die Ecke treiben, schon lange nicht von einer Pädagogin. Ich geb’s auch zu, von einer älteren Person sowieso nicht so leicht. Ich bin schließlich auch schon erwachsen. Meine schüchternen Kindertage sind passé.
„Sie, mit Ihrem Feuerchen hier!“
Klingt abschätzig, dieses Wort. Gleich dazwischenfunken.
„Sie meinen diesen Grill hier?“
„Grill, Grill?“ Als ob es ein Hohn wäre, hier von Grill zu sprechen. Stimmt insofern, dass ich meist Bücher verbrenne. Auf dem Rost liegt wohl Fleisch oder Fisch in Alufolie verpackt, aber ich feuere diesen vorwiegend mit herausgefetzten Seiten der gehassten Bücher an. Mit Holz ginge es besser. Doch ich verfolge natürlich ein anderes Ziel als bloß zu grillen.
Jetzt stehe ich auf, mit meinen 185 cm Größe.
Es scheint etwas Ehrfurcht in sie gefahren zu sein:„Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich mich auf fremden Eigentum befinde, aber...“ Diese Frau weiß, was sie sagt. Zudem, das wird nicht minder klar, gibt sie so schnell nicht auf.
„Aber ich setze mich dafür ein, dass meine Enkelkinder nicht den giftigen Rauch einatmen müssen!“ Eigentlich rührig, diese Aussage, „ausgesetzt sein müssen“ wäre effektiv polemischer gewesen. Ihr Ansinnen erscheint überhaupt rührig: Man kann ihr nicht das Eine-wahre Umweltaktivistin-für-einen-guten-Zweck-Zertifikat ausstellen, mehr Die-um-ihre-Enkel-treu-besorgte-Großmutter.
Ich antworte nichts.
Dann fordert sie mich unverhohlen auf, dass ich das Lagerfeuer beende.
„Machen Sie endlich das Feuer aus!“
Ich lasse sie rede, schaue abwechselnd auf mein Feuerchen und dann wieder auf sie.
„Ich habe mich erkundigt, beim Hausbesitzerschutzbund...“
Auf einmal habe ich keine Lust mehr, dieser alten Dame Paroli zu bieten. Ich merke, dass es mir nicht gut geht.
Was ist nur los mit mir, frage ich mich.
Die Antwort ist: Ich fühle mich zu erschöpft, psychisch erschöpft.
Wie viele Tage, seit die Kritikern „verstorben“ ist, sind vergangen? Ich weiß es nicht. Ich bin bislang von der Polizei unbehelligt geblieben. „Hatten Sie Kontakt mit ihr? Was können sie uns mitteilen?“ Nichts dergleichen.
Das Schicksal meint es gut mit mir. Wahrhaftig von Glück kann ich reden, war ich mir alles andere als sicher, sämtliche Spuren verwischt haben zu können.
Aber alles wie immer.
Nichts hat sich verändert.
Zum Beispiel pflege ich wie gehabt mein Autodafé. Klar, schlechte Literatur hat nicht aufgehört zu existieren, der Schoß ist immer noch fruchtbar, aus den sie kriecht. Tagtäglich übergebe ich Bücher für Bücher dem Scheiterhaufen, unermüdlich und unfeierlich, selbst bei eisiger Kälte wie jetzt, werfe Gedrucktes ins bizarre Gelb des lodernden Feuers, zerschlissene, verblichene und zerknitterte Seiten lechzen nach Auflösung und Vernichtung und werden augenblicklich von gierigen Drachenfontänen umzingelt, schwarz eingerußt und verwest.
Ich fühle mich sicher.
Unentdeckt.
Frei zu tun und zu lassen, was ich möchte.
Nichts hat sich verändert seit dem Tod der Kritikerin. So, wie es aussieht.
Mit leichtem Schreck-Freude-Gefühl stelle ich gerade fest: Liebesliteratur. Also, zur Zeit sind diejenigen Bücher, die ich nicht als wert erachte, gelesen, weitergegeben zu werden und zu existieren berechtigt sind – nun - Liebesromane.
Müde und resigniert denke ich: der Akt eines resignierten, enttäuschten und abgewiesenen Liebhabers?
Wer weiß?
Ich fühle mich müde und leer. Ich muss mich einfach bald ins Bett verkriechen.
Aber noch die letzten Schundromane, Amour fous, Femme fatales, dem Feuerteufel sei‘s geklagt, in die lodernde Masse geschleudert und es ist vollbracht für heute.
Doch steht mir dabei diese Nachbarin im Weg, die da pappelt und pappelt und nicht verschwinden will. Lehrer, sie kennen sie doch, oder? Am besten lernt man sie privat kennen, diese rechthaberische Bagage.
Wie kriege ich die bloß wieder los, frage ich mich ratlos.
Allmählich dämmert mir ein Zusammenhang, der diese verbrennenden Büchern, selbst die Kritikerin und überhaupt mein Schicksal verbindet. Die gute alte Matrone war nach ihrer Lehrertätigkeit auch noch Bibliothekarin in unserer Stadt. Wer also hat mich mit diesen Liebesbüchern versorgt?
Ein Zufall, ein Zeichen?
Sie schlägt nun konstruktiv vor, was bei aller Liebe und Verständnis für ihr Anliegen eine großkalibrige Unverschämtheit darstellt, dass ich das Feuerchen an anderer Stelle meines Grundstückes platzieren könnte, an der Ecke dort, wo einsam und von allen näheren Menschenbehausungen entrückt der Komposthaufen dampft.
Keine schlechte Idee, im Grunde genommen. Von ihrem Standpunkt aus gesehen.
Für mich beutete dies nur Mehr-Arbeit.
Ich würde das Holz von dem Abfall hier jedes Mal bis dorthin schleppen müssen.
Nicht schwer dies, aber etwas umständlich.
Ich bin ein Mensch, der durchaus zu Konzessionen und Kompromissen fähig ist. Aber in diesem Fall und in meiner niedergeschlagenen Stimmung heute – entschiedenes Nein!
Jedoch rühre ich nicht ein Glied, bin zu allem erschöpft. Das hat andererseits eine unverhofft positive Wirkung: mein Schweigen verunsichert zusehends meinen Eindringling.
Ein letztes Aufbäumen, Sie schlägt noch ein letztes Mal, aber den härtesten Ton an, den sie zustande kriegt und fällt gleichfalls ins Schweigen.
Unheimlich geworden angesichts des schweigenden Bücherhenkers?
Sie schaut mich so merkwürdig an. Diese Chance lasse ich mir nicht entgehen.
Ich entgegne ihr mit einem Was-Wollen-Sie-Eigentlich-Blick, während ich hastig meine Mineralwasserflasche an den Mund setze, säuglingsgierig daran sauge und die Flüssigkeit laut gluckernd die Kehle hinunterkullern lasse.
Schwuppdi-wupp, verschwunden ist die Dame, so schnell, wie sie aufgetaucht war.
Unbehelligt stehe ich dann alleine hier, hinter meinem Haus im Garten, von einer kleinen Mauer zum Nachbarsgarten getrennt. Das Lagerfeuer brennt weiter, der Rauch zieht in die Zimmer der Nachbarin, in denen sich ihre Enkelkinder befinden, die davon natürlich geschädigt werden.
Für heute soll es gut sein mit Bücherverbrennen. Weiterglimmen darf‘s jedoch ruhig. Diese Deutschlehrerin und Bibliothekarin soll vertreten für alle dieser Berufsstände ein bisschen was abbekommen von dem, was sie letztlich verursachen.
Ich entschließe, mein Feuerchen weiterglimmen zu lassen. Mag geschehen, was soll, und mag man denken, was man will.
Aber ich werde ein wachsames Auge auf das Grillfeuerchen werfen, nicht dass es am Ende sich ausbreite und ... nicht auszudenken...
Erschöpft lege ich mein schmerzendes Haupt zu Bette nieder.
http://www.pentzw.homepage.t-online.de/literatur.htm