Kurzgeschichte
Regen

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"Regen"
Veröffentlicht am 20. Februar 2013, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Regen

Regen


Die Regentropfen explodierten wie unzählige winzige Pistolenschüsse auf dem grauen Stein der schlecht gepflasterten Straße. Vorhin hatte es nur leicht genieselt, doch in einem unaufhaltsamen Crescendo hatten sich die Tröpfchen zu einem prasselnden Wolkenbruch gesteigert und das abfließende Regenwasser spülte die bunten Herbstblätter die Gullys hinab. Hier stand er also nun, wie festgefroren, seit einigen Minute hatte er sich nicht vom Fleck bewegt, und auch sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Nur graue Augen, die auf graue Straßen starrten, während die Schlieren des Regens das Kleinstadtpanorama vollends zu einer Groteske aus gedämpfter Farblosigkeit degradierten. Wieso er hierher zurückgekehrt war, wusste er nicht. Hier gab es nichts, was das Kommen rechtfertigte, und die Bleibenden wirkten ausgeblichen wie die Fassaden der Häuserzeilen ringsherum. Er erschauderte beim Gedanken daran, dass dies einmal seine Heimat war. Dass es eine Zeit gab, wo er sich gern hier aufgehalten hatte, dass es ihm wichtig war, diesen Ort zu seinem Ort zu machen, seinem persönlichen Nirvana und Paradies. So spielte es, das Leben, es ließ die Spielfiguren von Level zu Level hinübergleiten, als wäre es nichts, und war das eine gemeistert, folgte das Nächste. Diese Stadt war alt und nichts als eine Erinnerung, eine Randnotiz in einer Vita unter hunderttausenden unbedeutenden Leben in einer Welt, die alles bot, was man sich wünschen konnte, und doch musste man sich jeden dieser Wünsche selbst erfüllen. Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, man sollte ihn hier nicht sehen. Die Phantome dieses leeren Traumes sollten nicht geweckt werden, teilte er auch einst so vieles mit ihnen. Wieso war er hier? Verabschiedet hatte er sich schon seit langer Zeit, und die versunkenen Schätze vergangener Tage wieder auszugraben, würde viel Kraft kosten, weit mehr als sich lohnen würde zu investieren.
Was er sich hier erhoffte? Er wusste es nicht. Er hatte Frieden mit sich geschlossen, war zu neuen Horizonten aufgebrochen und nichts, aber auch gar nichts kettete ihn an den Kerker, an diese Statdt voller Gespenster ohne Gesichter. Verändert hatte er nicht viel. Der alte Springbrunnen stand noch immer da. Wasser traf auf Wasser und zog Kreise, weite, tiefe Kreise. Auch er hatte hier einst seine Kreise gezogen. Er hatte sich beweisen müssen und er glaubte, er habe Spuren hinterlassen, aber sie waren nicht mehr da. Alles war so vertraut, und dennoch, diese Stadt war wie ein Radiergummi, jede Seele löschte sie aus und zurück blieb nichts als ein Haufen Fussel, der weggepustet und in alle Winde verstreut wurde.
Was wäre diese Stadt ohne mich? Das, was sie jetzt ist.
Das Leben ist ein Markt und es gibt nicht nur einen Stand. Ständige Konkurrenz prägt das Leben der Menschen, sie fragen nicht nach Sinn und Unsinn, es muss nur immer höher, schneller, weiter gehen, alles muss neu sein und besser sein und auch dann ist es nicht gut genug. Menschen waren apathische und naive Tierchen, die sich wie ein Hamster im Rad ständig drehten und nicht merkten, dass sie nicht vorankamen, aber immer müder wurden. Anderswo ist alles besser, das Gras ist grüner und der Regen ist – ja, aber regnet es denn anderswo tatsächlich weniger oder haben die Menschen nur ihre Schirme herausgeholt? Menschen. Sie strebten nach dem Optimum und wissen nicht, was das ist.
Er war ein Mensch und er liebte die Menschen für ihre Macken, einige mehr, andere weniger, und am meisten seine eigenen, denn wozu sollte er sich Sorgen machen? Jeder wollte sorgenfrei leben, wieso also Sorgen machen, wenn man die Wahl hat?
Die Straßenlaterne flackerte. Das Licht drohte zu erlöschen, das Grau würde einem tiefen Schwarz weichen, einem Schwarz und dem stetig wiederkehrenden Geräusch des trommelnden Schauers auf den massiven Wegen des Trugbildes einer Stadt.
Vielleicht war er für die Erinnerung hier. Klar, Erinnerung glich keine Verluste aus und machte nichts wieder lebendig, was einmal tot war. Eine schöne Erinnerung war wie eine flüchtige Droge, die das Gehirn für einen halben Augenblick betäubte und etwas von dem zurückgab, was verloren ist. Doch auch die Erinnerung hatte diesen Ort verlassen, wie so vieles diesen Ort verlassen hatte außer die Gewöhnlichkeit. Die Gewöhnlichkeit und der Regen. Hinter milchigen Scheiben starrten kalte Augen ihn, den Fremden, an. Er gehörte nicht hierher und das war gut so. Er hatte seinen Platz gefunden. Das stimmte so eigentlich nicht, denn wenn er es recht bedachte, hatte sein Platz ihn gefunden, und nur die Flügel seines Geistes verwandelten dieses Etwas, das das Schicksal ihm anbot, in ein Mehr.
Er stach heraus aus der grauen, verschwommenen Masse der Stadt, das wusste er. Er war ein Grenzensprenger. Ein Freidenker. Ein Rebell und Revolutionär. Er war ein Nichts und doch war er alles, was er brauchte. Er war immer noch ein Suchender.
Wonach er suchte, wusste er, dass er es hier nicht finden würde, wusste er genau so. Doch Sehnsucht ist ein Gefühl ohne Richtung, sie zieht dich dahin, wo der Wind sie hinträgt, und wenn alles still und windstill ist, zieht sie dich nach unten. Vor ihm verschwamm die Silhoutte der Straßenlaterne mehr und mehr, doch vor seinem inneren Auge sah er klare Bilder: Hier war es, als er sie das erste Mal traf. Noch war es ein leichtes Flackern und Knistern gewesen, eine Ladung, die sich wenig später entladen sollte, die frei wurde in Form von Erdbeben und Eruptionen, so unsichtbar wie gigantisch, die Fusion zweier Seelen, die eins wurden. Es waren intensive Zeiten und nur zu gern dachte er daran zurück, nicht mit Wehmut oder Leidenschaft, nein, viel mehr mit wissenschaftlichem Interesse, und tatsächlich dann und wann mit Sorge. Es trennte sich, was nicht getrennt werden durfte, und es blieb viel Leere und ein Teil von ihr in ihm zurück. Zeit ließ ihn weiter schweben und goldene Tage versiegelten seine Wunden, er setzte sich Ziele, ließ sich nicht weiter treiben und man sollte meinen, er sei zur personifizierten Unabhängikeit gereift – doch solange dieser Teil von ihr zurückblieb, konnte und wollte er die Erinnerung nicht auslöschen. Und das war es, was er wollte, die Erinnerung auffrischen. Den Teil von ihr, den zerstörten Teil des großen Ganzen am Leben erhalten. Regen tropfte von oben, er sog ihn auf und atmete tief ein und aus. Freiheit. Legende.
Er hatte genug vom damals, zumindest für den Moment. Sein Teil war getan. Fast. Er griff in seine Manteltasche, förderte ein lose verschraubtes Glas zu Tage und ließ hier, an diesem magischen Ort, ein Glühwürmchen in die Freiheit fliegen. Hell wie ein Stern, frei wie der Wind. Fort von dem was war.
Dann verschwand er.

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Hörbuch

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Worgianer

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Carina Regen - Hallo Worgianer,
ein schöner Text und eine gute Idee. Ich finde du bringst die Stimmung sehr gut rüber. Der vergleich mit dem Radiergummi hat mir besonders gefallen. Aber vielleicht hättest du zum Schluß nochmal den Regen kurz aufgreifen sollen um das ganze abzurunden.
Dennoch klasse.
Noch viel Spaß beim Schreiben.

Gruß Carina
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