"Ich überlebe das nicht, Jurek." Den ersten Versuch wieder aufzustehen brach Carolin schneller ab, als sie ihn begonnen hatte. "Weißt du, was er mir gesagt hat? Er hat mir gesagt, dass er mich liebt!"
Sie wusste nicht, warum sie es geschafft hatte, wieder aufzustehen, wenn sie auch extrem wackelig auf den Beinen stand.
"Er hat mir nach der Nacht gesagt, dass er mich liebt und hat mich so oft geküsst", sagte sie gefasster als erwartet, während sie ihren besten Freund aus verweinten Augen ansah.
Kein Mensch konnte ein Herz aus solchem Stein haben, dass er nicht erschrocken und gerührt zugleich sein konnte, wenn er Carolin in die Augen sah. Aber einer konnte so garstig sein und einen Menschen in ein solches emotionales Wrack verwandeln.
„Komm, ich helfe dir die Treppe hinauf. Das stehen wir schon gemeinsam durch, keine Angst. An einem gebrochenen Herz ist noch niemand gestorben. Und die tragischen Figuren in den Dramen, naja, die sind es, weil es der Dichter so wollte, aber das hat doch keinen Bezug zur Realität. Du bist doch stark, Carolin. Es wäre schrecklich, wenn ausgerechnet du dich von einem solchen Wurm bezwingen lassen würdest“, sprach Jurek ihr Mut zu.
Caro wusste nicht, was sie denken sollte. Gestern noch war alles perfekt gewesen. Sie hatte in Benedict von Truchersheim ihren absoluten Traummann gefunden, den sie abgöttisch liebte und gerade eben zuerst verleugnet und dann als eine Abgelegte tituliert hatte.
"Ja, Jurek, weißt du was? Ich bin stark. Alle denken von mir, ich wäre stark. Und alle meinen, ich muss stark sein. Aber weißt du, was keiner weiß? Dass man nicht immer stark sein kann, wenn die kleine Schwester schwerverletzt im Krankenhaus liegt, weil sie von einem betrunkenen Autofahrer angefahren wurde! Oder wenn der Vater Bauchspeicheldrüsenkrebs hat und man das selbst erst seit drei Tagen weiß! Oder wenn man Sex mit einem Mann hatte, den man abgöttisch liebt, der einem aber nur etwas vorgespielt hat! Ich weiß, ich muss stark sein! Aber ich schaffe das einfach nicht!"
Wieder brach Carolin heulend in sich zusammen.
Jurek beugte sich zu ihr hinab.
„Jetzt hör mir mal zu. Ich wusste das alles nicht. Und du hast recht. Das ist wirklich so viel, dass es zu viel für einen Menschen allein ist. Aber glaube nicht, dass du damit allein dastehst. Du hast Freunde, die dir deine Last erleichtern wollen, die zu dir stehen. Carolin, ich weiß, dass das jetzt der falsche Zeitpunkt ist, aber, ich hätte es wohl schon früher sagen müssen. Caro, ich empfinde sehr viel für dich. Und deshalb bin ich gewillt dir zu helfen, dich zu stützen, alles zu tun, dass es dir bald wieder besser geht. Ich will, dass du diese Schicksalsschläge überstehst. Denn hinter all diesen Wolkenbergen ist Sonne, ist kein Sturm sondern Windstille. Und dann will ich der Mensch gewesen sein, der immer an deiner Seite war. Aber jetzt musst du für kurze Zeit vergessen, du darfst dich nicht vernichten lassen. Du musst dich auf jemanden verlassen, der dir hilft, lass es mich sein, bitte, lass mich dir doch helfen!“, brachte er mit brechender Stimme hervor.  Â
-"Was heißt das, Jurek? Du empfindest viel für mich?"
Sein Hals wurde trocken. Es waren 3 kleine Worte. Aber er hatte sie bisher immer gescheut wie der Teufel das Weihwasser. Und hatte sie nicht schon aus seinen Worten schließen können, was er da meinte? Er war in einem Dilemma. Was sollte er antworten? Einfach die 3 Worte sagen? Aber was war ihr das wert? Hatte nicht Benedict den Sinn dieser Worte für die entwertet? Hatte er nicht ebendiese Worte gesprochen und dann nicht gemeint? Würde es sie nicht belasten genau die gleichen Worte aus seinem Munde zu hören, auch wenn er sie so ernst meinte, wie damals J.F.K. seinen Ausspruch, dass die USA noch vor dem Ende der 60er Jahre einen Mann auf den Mond befördert haben würden.
Er nahm all seinen Mut zusammen, denn länger konnte er nicht mehr warten, er musste es jetzt einfach sagen. „Carolin, ich…ich…liebe dich“, brachte er stotternd heraus.
"Oh." Carolin blickte zu Boden und stand wieder auf. Sie hielt sich wieder die Arme um ihren Körper und schaute beschämt zu Boden. Dann blickte sie wieder zu ihrem besten Freund.
"Mein Gott, das wusste ich nicht. Und ich heule dich hier die ganze Zeit mit meinen Liebeskummer-Problemen voll. Und du... liebst mich? O Gott, das tut mir so leid! Hätte ich das gewusst, dann hätte ich dir das doch mit Benedict niemals ge... Ich bin so eine Vollidiotin!"
„Ach Quatsch! Wenn jemand hier blöd ist, dann wohl ich, denn bisher habe ich mich nie getraut es dir zu gestehen und ausgerechnet jetzt musst das passieren, plötzlich in dieser für dich so belastenden Zeit komme ich daher und eröffne dir dies. Nein, ich bin doch der Vollidiot von uns beiden, wenn man es genau betrachtet. Und dass du dein Herz ausgeschüttet hast ist gut so, denn was richtet verdrängter Schmerz nicht schlimmes an? Außerdem werde ich dir so gut wie möglich eine Stütze sein und wie könnte ich dies besser, als wenn ich weiß, was dich bedrückt? Also, was willst du jetzt tun? So einfach gehen will ich dich nicht lassen, ich biete dir immer noch an dich auszuruhen, du wirst die Ruhe bitter nötig haben.“
"Das ist lieb von dir. Nein, du bist lieb. Aber ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich will nicht, dass du... Ich weiß nicht, ob das... so günstig ist. Aber danke für deine Hilfe, ja?"
„Gut, brauchst du noch irgendetwas? Willst du noch schnell etwas trinken, bevor du gehst?“, fragte er ein wenig unruhig. Es wäre ihm lieber gewesen, dass Caro sich hätte ausgeruht, aber es war wohl wirklich nicht so günstig sich in einem Haus aufzuhalten, in dem man jeden Moment Benedict von Truchersheim oder seiner Adelsbagage über den Weg laufen konnte. „Soll ich dich noch nach Hause begleiten?“
"Ich glaube, ich schaff das schon allein, Jurek. Aber trotzdem danke. Danke für alles, ja? Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gut machen kann." Caro zog sich ihre braune Lederjacke über und schaute prüfend in den Spiegel. "Mach dir keinen Stress wegen mir. Das wird schon wieder. Ich hab wohl nur gerade einen Anfall gekriegt. Ich wette, morgen bin ich wieder die Alte."
„Na dann, wünsche ich dir einen guten Heimweg. Wir sehen uns morgen“, verabschiedete er sich noch knapp von ihr. Â
"Ja, bis Morgen."
 Als Carolin sich umdrehte, lief sie direkt in SEINE Arme.
"Caro. Hi." Benedict von Truchersheim hielt sie mit beiden Händen an den Schultern fest.
"Lass mich sofort los." Vermutlich saß der Schock noch zu tief um wieder in Tränen auszubrechen.
"Nein, das kann ich nicht. Ich muss mit dir reden, Caro. Bitte lass uns reden, Schatz."
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