Es ist schon geraume Zeit, genau genommen über dreißig Jahre her, als mir diese Sache passierte. Es ist nur einem Zufall zu verdanken, dass noch einmal alles gut ausging. Aber ich will der Reihe nach erzählen.
Mein Mann war zu dieser Zeit in der Seefahrt tätig. Er hatte einen längeren Urlaub hinter sich, der uns Beiden alles ab verlangt hatte. Wenn er nach Haus kam, verbrachten wir die ersten zwei bis drei Wochen gemeinsam. Mein Urlaub war genau geplant. Danach mußte ich wieder in den Betrieb. Mein Mann dagegen hatte meist zwölf Wochen oder noch mehr. Kam ich dann am Abend nach Haus hatte ich volles Programm.
Kinder, Wäsche, Haushalt und einen, von Tag zu Tag mehr nörgelnden Ehemann, dem zu Haus alles zu viel wurde. Er war bei der Hochseefischerei und das Schiff war wie ein großer Betrieb. Arbeit in Schichten, schlafen, wieder arbeiten. Es war für die Männer eine schwere Arbeit, wo es keine Rücksicht gab. Dafür war das Essen sehr gut und immer pünktlich auf dem Tisch. Zum Schichtbeginn wurden sie geweckt, aßen und los ging es auf den Arbeitsplatz. Natürlich gewöhnten sich die Männer an diesen Trott. Kamen sie dann nach Haus, erwarteten sie verständlicherweise die gleichen Vorteile. Nur leider war es da nicht so.
Die Frauen waren meist berufstätig, hatten Kinder zu versorgen und viele andere Dinge mußten getan werden. Sie waren natürlich sehr selbstständig, ansonsten hätten sie das wohl auch nicht alles geschafft. Aber wenn mein Mann zu Haus war, wollte er derjenige sein, der das Sagen hatte. Das ging aber meist nach hinten los, denn die Kinder fragten bei Bedarf nicht ihn, sondern mich. Nicht, weil sie ihn nicht akzeptiert hätten, sondern, weil sie meistens immer nur mich als Ansprechpartner hatten.
So kam es dann, das wir uns Beide in gewisser Weise freuten, wenn mein Mann wieder los musste und bei uns zu
Haus wieder alles seine "geregelte Ordnung" hatte. So waren wir auch dieses Mal froh, als sein Urlaub vorbei war. Am Abend wollte ich ihn nach Rostock begleiten und am nächsten Tag wieder zurück fahren. Die Kinder waren bei Bekannten untergebracht und mein Mann war noch zu einem Freund, um sich zu verabschieden. Der Zug fuhr am Abend. Ich hatte seine Koffer gepackt und wartete nun auf ihn. Plötzlich klingelte es.
Meine Nachbarin stand weinend vor der Tür und fragte mich, ob ich einen Moment Zeit für sie hätte. Natürlich bat ich sie herein und da wir ein freundschaftliches Verhältnis hatten,
begann sie auch gleich, mir ihr Leid zu klagen. Sie hatte sich mal wieder mit ihrem Mann gezankt. Der war nun Richtung Kneipe marschiert und hatte gedroht, sie fertig zu machen, wenn er wieder nach Haus kommen würde. Jetzt hatte sie Angst. Da ich ihren Mann kannte, wußte ich das ihre Angst nicht unbegründet war. Sie machte beim Sprechen aber einen recht schlappen Eindruck. Als ich fragte, antwortete sie mir, sie hätte eine Beruhigungstablette genommen. Na ja, da wir ja nach Rostock fahren wollten, machte ich Gudrun den Vorschlag, sich oben in unserem Schlafzimmer erst einmal ein wenig auszuschlafen. Sie nahm mein
Angebot mit Freuden an. Ich sagte ihr, das sie von mir aus bis morgen früh bleiben kann. Ich wollte ja erst am nächsten Abend wieder zurück sein. Sie legte sich auch sofort hin und als ich noch etwas aus dem Zimmer holen wollte, bemerkte ich, dass sie schon fest schlief. Aber wo war mein Mann? So langsam wurde es Zeit, sich auf den Weg zum Bahnhof zu begeben.
Aber wer nicht kam, war mein Mann. Telefon hatten wir nicht, Handys gab es noch nicht, also was sollte ich machen? Es blieb mir nichts anderes über, als zu warten. Nach einer Stunde wurde mir bewußt, den Zug nach Rostock erreichten wir nicht mehr. Es verging
noch geraume Zeit, bis mein Mann antrudelte. Er war voll wie ein Amtmann, fiel in den Sessel und schnarchte. Stinksauer überlegte ich, was nun zu machen sei. Mein Mann konnte auch am frühen Morgen noch einen Zug nach Rostock nehmen. Für mich war die Sache damit erledigt. Ich hinterließ ihm eine kurze Nachricht und stellte zwei Wecker. Der Zug fuhr schon um sechs Uhr und den mußte er erreichen. Nicht gerade gut gelaunt, ließ ich ihn mit einer gewissen Portion Schadenfreude im Sessel liegen. Dann wollte ich ins Bett. Plötzlich fiel mir meine Nachbarin ein, die ich in dem Trubel ganz vergessen hatte. Die mußte
ich ja nun auch wohl oder übel wecken.
Irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl, als ich das Schlafzimmer betrat. Immerhin schlief Gudrun schon fast drei Stunden. Leise tippte ich sie an. Nichts! Noch einmal stieß ich sie an, diesmal etwas derber. Wieder nichts! "Hallo Gudrun, aufstehen!" Sie regte sich nicht. Plötzlich fiel mir ein, das sie gesagt hatte, sie hätte eine Tablette genommen. Und wenn sie nicht nur eine genommen hat? Mir wurde siedend heiß bei dem Gedanken. Als ich ihren Puls kontrollierte, merkte ich ihn kaum, aber immerhin konnte ich wenigstens eine kleine Bewegung spüren. Ich drehte sie
auf die Seite und lief dann los. Vor unserem Haus stand eine Telefonzelle. Hoffentlich war die heil, aber ich hatte Glück und konnte die schnelle Hilfe rufen. Diese kamen auch sehr schnell und der Notarzt stürzte sich gleich auf meinen Mann, der von allem nichts mitbekam. Schnell stellte ich den Sachverhalt dar. Während sich der Arzt und die Sanitäter um Gudrun kümmerten, sah ich in ihrer Wohnung nach, ob Tablettenreste herum lagen. Ich fand ziemlich viel davon, tat alles in einen Beutel und händigte es dem Arzt aus. Mit Sirene und Blaulicht ging es in das nächste Krankenhaus. Hoffentlich würde Gudrun das überstehen, der Arzt
hatte arge Bedenken. Der Einzige, den das alles nicht störte, war mein Mann. Der schlief seelig.
Als wieder Ruhe eingekehrt war, ging ich zu Bett. Lange konnte ich nicht einschlafen. Einerseits war ich wütend auf meinen Mann, der wieder einmal alles durcheinander gebracht hatte. Aber was wäre geworden, wenn wir pünktlich zu unserem Zug gekommen wären? Was hätte ich bei meiner Rückkehr in meinem Bett vorgefunden? Als die Wecker meines Mannes klingelten, war ich jedenfalls noch wach.
Er zog sich ganz leise an und weg war er. Ein Zettel lag auf dem Tisch, darauf stand nur ein Wort "Entschuldigung."
Nun ja, wenigstens etwas. Dann schlief ich doch erst einmal ein wenig. Am Nachmittag fuhr ich zum Krankenhaus, aber nicht, bevor ich meinen Nachbar über den Verbleib seiner Ehefrau aufgeklährt hatte. Der guckte mich nur blöd an. Was soll`s, war mir egal.
Gudrun war noch einmal davon gekommen. Nach einigen Tagen Krankenhaus konnte sie wieder heim. Die Ärzte hatten ihr eröffnet, das sie, wenn ich sie nicht gefunden hätte, höchstwarscheinlich nicht mehr leben würde. Unsere Freundschaft war damit auch zu Ende. Sie hätte mir an diesem Nachmittag die Wahrheit sagen müssen, statt dessen hat sie sich bei mir zum
Schlafen hingelegt und in Kauf genommen, bei mir in der Wohnung zu sterben. Das konnte ich ihr zu diesem Zeitpunkt nicht verzeihen. Einige Jahre später konnten wir darüber noch einmal sprechen und uns die Hand geben. Ihre Freundschaft war mir zwischenzeitlich nicht mehr wichtig.