Beschreibung
Leseprobe:
Der Herbst hatte seine Zeichen gesetzt. Sie schlurfte durch ein Meer aus das Grün allmählich verdrängenden, rot-braunen, am Boden liegenden Blättern. Sie lächelte, als sie die Umgebung betrachtete. Der Herbst hatte es geschafft, dass die kargen, gar hässlichen Straßen wunderschön wurden. Hatte es geschafft, dass wenigstens einmal das Schlechte verdeckt und vergessen wurde. Hatte es geschafft, dass eine Maske wider die Realität erschaffen wurde, welche glaubhaft erschien und für die Augenblicke doch glücklich machte. Eine Maske, die sie, Emma, sich gerne ab und an für ihr Leben wünschte. Wenigstens so oft, wie es der Herbst auch schaffte.
*
Hallo, Leserschaft.
Es ist anzumerken, dass ich diese Geschichte aus Spaß schreibe. Ich habe mich hier an mehreren Romanvorlagen zur Inspiration bedient, dennoch möchte ich, dass dies als eigenständige Geschichte angesehen wird, denn es ist beinahe alles von mir geschrieben.
Viel Spaß!
{Cover by Katzoe}
Kapitel im Buch (derzeit):
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel I
Jeder ist seines Glückes Schmied... und sie hatte wohl alles falsch gemacht.
Emma schlenderte durch die engen Nebenstraßen, um zu ihrer Wohnung zu gelangen. Mit gesenktem Blick ging sie Schritt für Schritt voran, immer darauf bedacht, jeden Pflasterstein nur einmal mit einem Fuß zu berühren und niemals über die Rillen zu treten.
Durch ihre Bewegungen mit gesenktem Kopf fielen ihr einige braune Haarsträhnen vor das Gesicht und störten den durchgehenden Ausblick auf ihre schönen, grünen Augen.
Es war das einzig Besondere an ihr, der Rest war durchschnittlich. Mit ihren 22 Jahren sah sie allerdings sehr viel älter und reifer aus, als viele Andere in dem Alter. Nicht zuletzt ihrer Vergangenheit wegen, in der sie sich durchkämpfen musste... nein, wollte. Ihre stolze Ader, ihr Sturkopf hatte sie immer zu einem Einzelkämpfer gemacht, denn sie hatte sich nie auf jemanden verlassen können.
Sie hatte versucht, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bringen, arbeitet nun als Bürokauffrau in einem großen Unternehmen. Doch bereits in ihren jungen Jahren hatte sie in der letzten Zeit einen Berg an Schulden angehäuft, der es ihr unmöglich machte, ein geregeltes, normales Leben zu führen. Arbeit war ihr Leben, denn sie arbeitete, um zu leben... zu überleben. Sisyphusarbeit und Tristesse waren ihre täglichen Begleiter. Ansonsten hatte sie niemanden.
Es raschelte. Vögel zwitscherten. Flügelschläge waren zu hören. Sie flüchteten alle in wärmere Gefilde, flüchteten vor dem sich nähernden Winter, der Bedrohung durch die Kälte.
Der Herbst hatte seine Zeichen gesetzt. Sie schlurfte durch ein Meer aus das Grün allmählich verdrängenden, rot-braunen, am Boden liegenden Blättern. Sie lächelte, als sie die Umgebung betrachtete. Der Herbst hatte es geschafft, dass die kargen, gar hässlichen Straßen wunderschön wurden. Hatte es geschafft, dass wenigstens einmal das Schlechte verdeckt und vergessen wurde. Hatte es geschafft, dass eine Maske wider die Realität erschaffen wurde, welche glaubhaft erschien und für die Augenblicke doch glücklich machte. Eine Maske, die sie, Emma, sich gerne ab und an für ihr Leben wünschte. Wenigstens so oft, wie es der Herbst auch schaffte.
Vor ihrer Wohnung angekommen, wurde sie von ihrer Wohnungstür gestoppt, mitten in ihrem zielstrebigen Gang zu dem Punkt, der das Ende ihres Tages verhieß. Sie suchte nach ihrem Schlüsselbund, der in ihrer schwarzen Schultertasche schon all zu oft im Nichts versunken war und nur durch mehrmaliges Schütteln und anschließendes Hören gefunden werden konnte – wie gerade in diesem Augenblick.
Geräuschvoll ging die in die Tage gekommene Tür auf und präsentierte Emmas Wohnung.
Sehr viel Wert auf Sauberkeit legte sie nicht. Sie lebte nach dem Motto „Das Genie überblickt das Chaos“, welches sogar auf Papier gedruckt und eingerahmt an der Wand über der Couch hing.
Es fiel auf, dass es sich hierbei um das einzige Bild in der Wohnung handelte. Weder Poster, noch Familienfotos, Fotos von sich, geschweige denn von Freunden waren zu sehen und nahmen der Wohnung Wärme, gaben Kälte.
Vor der Couch stehend seufzte sie, ließ ihre Tasche auf der Stelle fallen und sich ebenso auf eben jenes Sofa. Der Aufprall machte sich mit einem dämpfenden Geräusch bemerkbar. Wenige Sekunden später ging ihr distanziert wirkender, trauriger Gesichtsausdruck über in einen träumenden – das Unglückliche jedoch blieb.
Emma saß an ihrem Schreibtisch und prüfte den Lagerbestand mit ihrem Computer. Der Bürosaal war groß und in ihm wurden insgesamt 10 Menschen, überwiegend Frauen, beschäftigt, die im Großen und Ganzen alle die gleiche Arbeit verrichteten. Jeden Tag. Und immer wurde ein ununterbrochenes Getuschel an den Tag gelegt, denn Routinearbeit verführte jeden hier zum Reden, sei es am Telefon, mit den Arbeitskollegen oder sogar mit sich selbst. Jeder machte gerade nur die Arbeit, die von Nöten war. Wenn nichts zu tun war, gingen die Mitarbeiter meist ziellos über den Teppichboden zu anderen Mitarbeitern, zum Kaffeeautomaten, oder zu anderen Stellen. Nur Emma saß Tag für Tag ruhig vor dem PC und verrichtete ihre Arbeit. Sie sprach selten bis nie, gab höchstens einmal ein leichtes Seufzen ab, verdrehte die Augen, wenn eingebildete Frauen an ihr vorbeigingen und sie missbilligend betrachteten.
Sie war gut in dem, was sie machte. Sie arbeitete schneller, fleißiger und besser als die Anderen, obwohl auch sie eigentlich nicht müsste – sie verdienten das gleiche Geld. Doch sie konnte nichts mit den Leuten hier anfangen, war sie doch eh schon eine Außenseiterin hier, und so vertiefte sie sich in ihre Aufgaben.
Um 7 war der Saal leer.
Fast.
Nur sie, Emma, saß noch an ihrem Platz und rückte den Stapel Briefe zurecht, der neben ihr auf dem Schreibtisch lag. Sie atmete einmal tief ein und geräuschvoll wieder aus, während sie die Empfänger der Briefe betrachtete und ordentlich in die Fächer sortierte, um sie morgen zu verteilen. Doch bei dem letzten Brief stockte sie. Er war an sie gerichtet. Emma blinzelte, drehte den Umschlag immer wieder um, schaute auf den Namen, der in einer wunderschönen Handschrift vorne auf das Couvert geschrieben wurde und las ihn noch einmal leise mit.
„Emma... Roth...“
Erneut drehte und wendete sie den Brief, bis sie ihn schließlich vor sich auf den Tisch legte und sich in den Stuhl zurückgleiten ließ. Wer schickte ihre Briefe an ihren Arbeitsplatz? War es einer der Mitarbeiter? Eine Kündigung? Nein, der Brief wurde handschriftlich adressiert. Sie würde es ohnehin erst erfahren, wenn sie ihn endlich öffnete.
Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts, ein weiterer erneut auf den Brief... und schon war er geöffnet. Es war gewöhnliches, weißes Papier, was normal gefaltet wurde. Doch von genau der gleichen, schönen Handschrift, mit der ihr Name auf den Umschlag geschrieben worden war, war auch die Nachricht, die sich auf dem Blatt befand.
Wohlstand ist, wenn die Menschen mehr Uhren haben als Zeit.
Weißt du, wie spät es ist, Emma?
Emma erschrak. WAS sollte das? Ängstlich blickte sie sich in dem leeren Bürosaal um, mit der schleichenden Vermutung, dass der Adressat hier irgendwo in der Nähe ist und sie beobachtet.
Niemand war zu sehen, nichts zu hören. Nur sie war da. Sie und der Brief, und nur ihr Atmen war zu hören, was immer schneller, unregelmäßiger, lauter wurde.
Was bedeutete dieser Brief?
Kapitel II
Eine gefühlte Ewigkeit saß sie nun auf ihrem Platz an ihrem Schreibtisch und betrachtete den nun vor sich hingelegten, offenen Brief. Wer war der Absender? Woher kannte er ihren Namen? Wieso bekam sie diese Nachricht und überhaupt solch eine Nachricht an ihren Arbeitsplatz?
„Weißt du, wie spät es ist, Emma?“
Reflexartig, nachdem sie diesen Satz noch einmal las, hob sie ihren Arm, drehte ihr Handgelenk und wollte sich tatsächlich nach der Uhrzeit erkundigen – doch es ging nicht. Ihre Uhr war weg. Jene Uhr, die sie damals von ihrem Vater bekam, bevor er verstarb. Jene Uhr, die den restlichen Teil ihrer Familie in gewisser Weise ersetzt hatte, nachdem diese für sie anders starb, als es ihr Vater tat. Jene Uhr mit zeitlosem Design, die sie immer und beinahe überall mit sich trug. Nur gerade in diesem Moment nicht – sie war weg.
Erschrocken griff sie in die Jackentaschen, wühlte in ihrer Schultertasche, in ihrer Hose – nichts. Die Uhr war tatsächlich weg. Sie war sich sicher, dass sie die Uhr noch hatte, als sie sich gestern nach Hause begab. Aber auf dem Weg zur Arbeit hatte sie nicht nachgeschaut. Außerdem nahm sie die Uhr nie ab, höchstens, wenn sie duschte – und das hatte sie gestern nicht getan. Hatte sie sie auf dem Weg hierher verloren?
„Weißt du, wie spät es ist, Emma?“
Die Frage schoss ihr erneut durch den Kopf. Hatte der Absender gewusst, dass sie keine Uhr mit sich trug? Hatte er vermutlich etwas mit dem Verschwinden eben jener Uhr zu tun?
Das ist doch Unsinn, dachte sie sich und schüttelte den Kopf. Das Merkwürdige jedoch war, dass diese Frage hier ziemlich schwer zu beantworten war – zumindest für Emma. Im Bürosaal hing keine Uhr. Offenbar nahm man an, dass Blicke auf die Uhr einen Arbeiter ablenken würde. Auch an den PCs wurden die Uhren so umgestellt, dass sie komplett falsch liefen. Um also zu erfahren, wie spät es ist, sollten die Leute rein theoretisch aus dem Bürosaal, durch den Flur und an das Ende des Korridors gehen, wo sich eine Standuhr befand. Also opferte man Zeit um die Zeit zu erfahren.
Wer jetzt denkt, man könne ja auf ein Handy gucken, oder eben eine Armbanduhr, täuscht sich. Jeder Mitarbeit war zu Arbeitsbeginn verpflichtet, sein Mobiltelefon und jedwede zeitanzeigende Geräte am Eingang abzugeben, und zwar sollte es dort so lange aufbewahrt werden, bis sie Feierabend machen durften.
Anfangs liefen Leute sekündlich aus dem Büro, um beim Erfahren der Uhrzeit Zeit schinden zu können. Jedoch wurde nach einiger Zeit eine Kamera installiert, damit dies nicht mehr so häufig geschah. Machte man seinen Gang zur Uhr zu oft, wurden Überstunden gefordert, manchmal trat eine Lohnkürzung in Kraft. Danach hatte man sich darauf geeinigt, dass jeder der Anwesenden im Büro ab und an raus ging und die Uhrzeit anschließend laut und für jedermann zu verkünden. So wusste man die Zeit und niemand konnte bestraft werden.
Emma fand es, wie sie immer sagte, affig und „nazihaft“, dass so etwas gar Drastisches auf den Plan trat, jedoch störte es sie eigentlich nicht. Nur gerade in diesem Augenblick.
Sie packte ihre Sachen zusammen, machte gerade Anstalten zu gehen, als sie noch einmal auf ihren Schreibtisch blickte. Nach einem tiefen Seufzer streckte sie ihren Arm aus, nahm den Brief an sich und er verschwand in ihrer Tasche.
Es war ein merkwürdiger Tag gewesen und sie wollte einfach nur nach Hause. Um diese merkwürdige Botschaft konnte sie sich ja später noch kümmern, falls es überhaupt notwendig war.
Der Korridor zu den Aufzügen war modern und sehr edel gehalten, wohingegen der Bürosaal mit seinem unschönen Teppichboden und den steril gehaltenen Wänden, dem Mobilar und der kargen Decke beinahe armselig wirkte. Die Wände des Korridors waren mit hell-braunen und weißem Acapluco-Granit versehen und spiegelten das Licht der Lampen, die von der dunklen Decke hingen, schwach wider. Über graue, glasierte Steingutfliesen glitt man geradezu bis zum Ende des Flurs, an welchem sich zwei Aufzüge befanden. Und neben eben jenen Aufzügen befand sich die Standuhr, die Emmas Aufmerksamkeit nun auf sich zog.
Es war kurz vor 12.
Ungläubig betrachtete Emma die Uhr. Sie passte nicht in diesen modernen Korridor, mit ihrem hellbraunen Eichenholz, ihrem alten, in Gold schimmerndem Ziffernblatt und den sich immer wieder nach links und rechts bewegenden ebenfalls golden gehaltenen Pendeln, die sich hinter einer Glastüre kontinuierlich bewegten.
Lief diese Uhr falsch oder befand sie sich tatsächlich schon seit einigen Stunden nach Feierabend im Gebäude? Emma rieb sich die Augen, blickte noch einmal auf die Uhr, dann zu deren Pendeln.
Wie hypnotisiert schaute sie dem Hin-und-her zu, konnte ihre Augen nicht mehr von ihnen wenden, als ihr plötzlich etwas auffiel.
Hinter der Glastür, im Inneren der Standuhr und hinter den Pendeln scheinbar versteckt, sah sie etwas Weißes. Es sah aus wie ein Stück Papier.
Emma legte den Kopf schief und blickte nun darauf. Sekunden später hatte sie die Tür der Uhr geöffnet, die Pendel zum Stillstand gebracht und das Objekt ihrer Begierde herausgenommen. Es war erneut ein Brief, zweifelsohne, doch der Umschlag war extrem aufgebläht und schwer, offenbar befand sich etwas Sperriges darin. Ihr Name stand erneut darauf...
Ohne zu zögern öffnete sie den Brief, riss ihn halb kaputt, als plötzlich eine Uhr herausfiel und Emma sie gerade noch auffangen konnte – es war ihre Uhr.
Wer in aller Welt klaute ihre Uhr und legte sie in einen Briefumschlag? Oder hatte man sie gefunden? So ein Schwachsinn, dachte sie sich und wandte sich wieder dem Kleinod zu.
Neben der Uhr befanden sich aber noch andere Dinge im Umschlag. Ein weiter Brief, wie es schien und, Emma konnte ihren Augen nicht trauen, ein 50-Euro-Schein. Sie hatte ihre Uhr wieder angezogen, blickte sie einige Sekunden lang an und faltete anschließend sofort den Brief auseinander. Wieder von einer wunderschönen Handschrift versehen, lautete die Botschaft diesmal:
Hervorragend, Emma!
Deinen ersten Schritt zu Ruhm und Reichtum hast du nun hinter dir.
Ich weiß, für dich ist es kurz vor 12... Sicherlich ist dir das nicht neu, oder?
Wenn ich die Neugier in dir geweckt habe, hast du doch sicherlich Heimweh
nach dem Ort, an dem ich bin... oder?!
Sieno di aspettative
...
Das Signalgeräusch des Aufzuges ließ Emma hochfahren, erschrocken drehte sie sich zu jenem Fahrstuhl, dessen Tür sich zu öffnen begann...
Kapitel III
Der Fahrstuhl war leer. Emma atmete lang aus und kicherte kurz. Sie war „hochgefahren“, als der Aufzug kam, welch Ironie. Kopfschüttelnd betrat sie ihn, erhaschte noch einmal einen kurzen Blick auf die Uhr, ehe die Tür des Fahrstuhls die Sicht verdeckte und sie in sich einschloss.
Endlich zu Hause, warf sie den in zweierlei Hinsicht mitgenommenen Umschlag - mit dem Inhalt des Briefes und des Geldes - unachtsam auf eine Kommode, ging zielstrebig zu ihrer Kaffeemaschine und brühte sich eben jenes Getränk, ohne welches sie schon beinahe nicht leben konnte. Ungewöhnlicher Weise nahm sie es als Hilfe zum Einschlafen, und die würde sie diese Nacht brauchen.
Sie wusste nicht, was sie von den Botschaften halten sollte. Ob jemand einen Scherz mit ihr trieb? Ob es ernst war? Es überforderte sie und eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, sich weiter ihren Kopf darüber zu zerbrechen.
Geräuschvoll setzte sie die Tasse auf die Küchenzeile ab, bevor sie den Weg zu ihrem Bett bestritt.
Es war ungewöhnlich sonnig an diesem Samstagmorgen. Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die orangefarbenen Gardinen am Fenster, worunter sich Emmas Bett befand, auf welchem sie lag. Durch eine kleine Spalte schafften sie es und ärgerten die nun von dem grellen Schein blinzelnde, gerade aufgewachte Emma. Grummelnd zog sie sich die Decke über den Kopf.
Sie hasste die Sonne, dieses alles offenbarende Licht. Sie liebte trübes Wetter. Die Dunkelheit, den Schatten, der alles oder nur einiges verdeckte.
Das Telefon hatte zu klingeln begonnen, ließ Emma stöhnen und sich aus ihrem Bett kämpfen, bevor sie trampelnd zum Fernsprechautomaten ging.
„Ja?“ fragte sie in die Sprechmuschel hinein.
„Emma, Liebes. Wie geht’s dir?“ drang eine tiefe Männerstimme in ihr Ohr.
„Ach, George. Spar dir diesen Smalltalk. Was willst du?“
"Weißt du, meine Frau ist fürs Wochenende bei ihrer Schwester, die Kinder sind aus dem Haus und da dachte ich...“ So, wie er sprach, erinnerte es Emma an eine Frau beim erotischen Telefonieren mit ihrem Lover, welche verspielt ihren Finger um das Kabel wickelte und sich auf die Lippen biss. Emma schüttelte den Kopf, da sich die Frau nun in eine weibliche Ausgabe Georges verwandelte, natürlich mit Bart.
"Ja?" fragte sie ungeduldig und verdrehte die Augen.
"Ich würde dich gerne mal wieder ordentlich durchnehmen, verstehst du? Dich richtig ficken. Komm schon, ich brauch's!“
Emma kannte das ungenierte und direkte Verhalten von George zur Genüge. Er konnte sehr nett und ein Gentleman sein, aber auch anders. Trotz allem waren in seiner Direktheit immer noch Spuren eines erwachsenen Mannes und Vaters zu entdecken und seine Wortwahl wirkte eher aufgesetzt und manchmal unglücklich gewählt.
„Ich bin gerade erst aufgestanden, George. Ich kann es dir jetzt noch nicht sagen, rufe dich nachher zurück, okay?“
„Aber...“
"Bis dann."
Sie hatte aufgelegt.
Räuspernd fuhr sie sich mit den Händen durch ihr blasses Gesicht.
George war ein verheirateter, 46-jähriger Mann, der Kinder in Emmas Alter hatte. Kennengelernt hatten sie sich eines Nachts in einer Bar, und in eben jener Nacht ein, für ihn verbotenes, kleines Abenteuer begonnen. Begonnen, weil es nicht das Letzte sein würde.
Sie, Emma, war, wie er danach immer sagte, sein „kleines Abenteuer“, sein „geiler Fick“ in dem trostlosen Leben als Ehemann, und es war ihm egal, dass sie seine Tochter hätte sein können, auch wenn Emma manchmal merkte, dass er den Gedanken nicht ganz ablegen und verdrängen konnte.
Sie war sein Seitensprung.
Emma sah in ihm allerdings nur jemanden, der ihre Bedürfnisse befriedigte. Sein Alter spielte dabei für sie jedoch keine Rolle, da sie in ihrem, wohlgemerkt jungen, Leben bisher nur Männer in einem solch stattlichen Alter hatte. In gewisser Weise sehnte sie sich nach der Zuneigung solcher Männer. War sie doch so ihrem verstorbenen Vater, welcher zu früh von ihr ging, auf eine perverse Art und Weise nah. Ihr aber war dies nicht so bewusst, oder sie wollte es sich nicht eingestehen. Stattdessen flüchtete sie sich immer in die Betten älterer Männer, oder sonstiger Orte, wo sie „ihm“ näher kommen würde. So war es ihr auch egal, dass sie eigentlich nur benutzt, eingepackt, wenn sie nicht gebraucht, und bei Bedarf wieder eingesetzt wurde.
Am Küchentisch sitzend, trommelte sie mit den Fingern im Takt eines Liedes von I blame Coco, „Selfmachine“, das im Radio lief. Eigentlich hatte sie nicht das Bedürfnis zu George zu gehen. Sie wollte allein sein. Sich in ihrer Wohnung einsperren, sie abdunkeln, isoliert von der Außenwelt sein und den Fernseher heißlaufen lassen, während sie alles Essbare verschlang, dessen sie habhaft war.
Ziellos schweifte ihr Blick durch die kleine, unordentliche Wohnung und stoppte bei einem Objekt, welches sich auf der Kommode neben der Tür befand. Es war der Umschlag, viel mehr der Brief, der erneut ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. 50 Euro. Eine Menge Geld für sie. Einfach so erhalten. Doch was hatte es mit der Botschaft auf sich?
„Wenn ich die Neugier in dir geweckt habe, hast du doch sicherlich Heimweh
nach dem Ort, an dem ich bin... oder?!“
Heimweh nach dem Ort, an dem er ist? Das ist doch unlogisch. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie sich noch nicht wirklich Gedanken darüber gemacht hatte, wer er überhaupt war... Er könnte natürlich auch eine Frau sein...
Sie legte den Kopf schief, seufzte kurz, stand dann auf und griff nach dem Telefon.
„George? Ich bin gleich bei dir“, sagte sie und legte direkt wieder auf.
Sie brauchte Ablenkung.
Der sonnige Morgen hatte sich in einen regnerischen, trüben Mittag verwandelt, was Emma sehr gefiel. Sie betrachtete den gräulichen Himmel, bekam Regentropfen in die Augen, welche sie blinzeln ließen, während sie vor der Eingangstür von Georges Einfamilienhaus stand und auf das Öffnen wartete, nachdem sie die Klingel betätigt hatte
„Ah, da bist du ja“, drang Georges Stimme zu Emma, welche augenblicklich zu ihm schaute, lächelte und schnurstracks an ihm vorbei ging.
Das Knistern des Kaminfeuers war zu hören, das flackernde Licht zu sehen. Die sich bewegenden Schatten, die eine Folge eben jenes lodernden Feuers waren, hatten eine beruhigende Wirkung auf Emma und sie setzte sich auf ein luxuriöses, großes, vor dem Kamin auf einem beige-braunen Hochflor-Teppich verweilendes Canapé. Er hatte alle Jalousien herunterfahren lassen, um die romantische Stimmung eines Kamins vollends zu erzielen.
„Rotwein?“, flüsterte George Emma von hinten ins Ohr. Er reichte ihr ein Glas über die Lehne, ging langsam und elegant um das Canapé und setzte sich direkt neben Emma, welche, wie er empfand, schüchtern auf den Boden des Glases blickte. Sie trank einen Schluck.
In der Zeit hatte er sie nur angeschaut und seine Hand auf ihre Schenkel gelegt.
Sie lächelte, nahm einen weitere Schluck, blickte in das orange-rote Flammenmeer vor sich und ließ George nun ihren Hals liebkosen, ihre Bluse ausziehen, ihre Hose abstreifen. Ließ ihn vollkommen gewähren und schlussendlich streifte sie das Distanzierte ab und gab sich dem lustvollen, auf dem flauschigen Teppich fortführenden Abenteuer hin, welches heißer erschien als das Feuer im Kamin, dessen Feuer wiederum, im Gegensatz zu dem des lustvollen Pärchens vor ihm, voller Unschuld loderte.
Keinerlei Gedanken mehr an die merkwürdigen Briefe, das erhaltene Geld, die geheimnisvolle Botschaft...
Kapitel IV
Das Licht des prasselnden Feuers spiegelte sich auf der verschwitzten und nun leuchtenden Haut Emmas wider, während sie unregelmäßig und schnell atmend auf dem Teppich lag, ein Bein angewinkelt nach oben, das andere gestreckt zum warmen Kamin. George hatte sich ins Bad entschuldigt, ließ die von ihm befriedigte Frau wortwörtlich liegen.
Eigentlich war sie nicht der Typ Frau, der sich von einem Man führen ließ. Sie ergriff gerne die Initiative, aber recht machen wollte sie es auch jedem. George, der nicht das von seiner Frau bekam, was er sich wünschte – Liebe, Zuneigung, das Gefühl, gebraucht und beachtet zu werden, die Oberhand – versuchte, dies in geringerer Ausgabe von Emma zu erhalten – natürlich rein sexueller Natur, mehr war nicht möglich. Emma tat es ihm zu Liebe, dachte sie zumindest. Sie bemerkte nicht, dass sie sich gerne von George, oder den Männern allgemein, in gewisser Weise unterwerfen ließ. Wie eine Tochter von ihrem Vater: in abnormaler, perverser und verkehrter Weise.
Emmas Blick schweifte vom flackernden Kaminfeuer zu dem rechts an der Wand entlang stehenden Regal, das sich in Länge und Breite an der Wand erstreckte.
In diesem fanden Bücher und vereinzelt Familienfotos, merkwürdige Porzellanfiguren und Vasen ihren Platz.
Im Eva-Kostüm stand Emma auf und begab sich zu jenem Regal, um dessen Bücher zu betrachten. Sie liebte Bücher. Sie liebte es, sich in eine kuschelige Ecke zu verkriechen, einen Kaffee zu trinken und in einem guten Buch zu lesen. Es war ein Genuss, den sie nur selten erleben konnte. Durch Bücher floh sie aus der Realität, begab sich in fremde, bessere Welten als die, in der sie sich befand. Einer ihrer Wünsche - die sie sich manchmal herausnahm – war, dass sie gerne in einem der Bücher existieren wollte. In einem Buch ihrer Wahl, dessen Welt ihre Existenz duldete, gar gut hieß und in dem sie glücklich sein konnte. Ihr war bewusst, dass dieser Wunsch oftmals nur von verrückten Jugendlichen kamen, die sich Superkräfte wünschten, oder in die Fantasiewelten ihrer Lieblingscharaktere wollten. Emma wollte nur Fröhlichkeit, Glück, Hoffnung und Frieden. Bei ihrem Glück jedoch würde sich der Wunsch zwar erfüllen, doch existieren würde sie in einem Psychothriller...
Sanft fuhr sie mit ihren Fingern über die Rücken der Bibel, des Duden und ein Dutzend Kriminal- und Thriller-Romane, unter anderem Sherlock Holmes, Illuminati. Die Romane waren alle relativ dunkel in ihrem Erscheinen und so fiel Emma das kleine, rote Buch auf, was zwischen zwei der dicken Romane seinen Platz fand. Der Titel lautete „Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin“.
Emma stockte der Atem. Gebannt schaute sie auf den Titel des Buches, kniff immer wieder die Augen zusammen, als würde sich der Titel irgendwann ändern, doch er tat es nicht. Sofort rief sie eine Zeile der Botschaft aus dem letzten Brief aus ihrem Gedächtnis:
„Wenn ich die Neugier in dir geweckt habe, hast du doch sicherlich Heimweh
nach dem Ort, an dem ich bin... oder?!“
Konnte es sein? Sie zog das Buch aus dem Regal, ließ ein Buch zur Seite kippen, das den Halt verloren hatte und betrachtete die Lektüre, durchblätterte sie anschließend. Dabei fiel etwas lautlos zu Boden, doch im Augenwinkel hatte sie es gesehen und ihre Aufmerksamkeit richtete sich sofort darauf.
Wieder ein Umschlag. Wieder mit ihrem Namen versehen. Was hatte der Umschlag... dieses Buch, was offensichtlich die Lösung des Rätsels war, hier zu suchen?
»George...«, murmelte sie, ohne den Blick vom Umschlag zu nehmen. »GEORGE!«
Hastige Schritte waren zu hören, eine hechelnde Person, dann Georges Stimme.
»Ja? Ja, was ist denn?« fragte er verdutzt, blieb stehen und schaute Emma fragend an.
Sie wandte ihren Blick vom Umschlag ab.
»Schickst du mir andauernd Briefe mit merkwürdigen Botschaften?«, fragte sie und George runzelte die Stirn.
»Bitte?«
»Ich habe vor kurzem zwei Briefe erhalten und was darin stand, fand ich extrem merkwürdig. Es wurde sogar Geld beigelegt. Und in diesem Buch hier ist ein weiterer Umschlag mit meinem Namen drauf... Was soll das? Bist du dieser Kerl, der mir diese Briefe schickt?«
Sie schaute ihn ernst an. Er erwiderte ihren Blick, schaute dann jedoch auf das Buch.
»Ich hab damit nichts zu tun... aber was ist das überhaupt für ein Buch?«, meinte er und nahm Emma das Buch ab und beäugte es. Er hob eine Augenbraue.
»Du kennst es nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Sieh dir doch mal die Bücher an, die ich besitze. Alles Krimis und Thriller. Gut, die Bibel auch und ein Duden wird wohl jeder Haushalt haben. Aber dieses Buch hier kenne ich nicht. Hast du es aus dieser Lücke hier?«, fragte er und deutete auf die Stelle, an welcher Emma das Buch herausgeschoben hatte. Sie nickte, schien verwirrt und wusste nicht, was sie glauben sollte. Leicht verzweifelte lehnte sie sich an das Regal.
»Eines meiner Bücher fehlt...«, flüsterte George, suchte plötzlich schnell das Regal ab und Emma schreckte auf.
»Was?!«
Emma beobachtete den fiebrig suchenden George, der jeden Buchrücken abtastete.
»Eines meiner Lieblingsbücher fehlt. Es war genau an der Stelle hier, das weiß ich noch. Gestern habe ich es doch noch gelesen, Emma.«
Irgendetwas Seltsames passierte hier, dachte Emma
»Wie hieß es?«, fragte Emma leicht hektisch und suchte ebenfalls das Regal ab, obwohl sie nicht einmal wusste, wonach sie Ausschau hielt.
»Sein letzter Auftrag. Von Michael Conelly«, sagte er leicht abwesend und immer noch suchend.
Emma entschied sich, woanders zu suchen. Sie wusste nicht einmal, warum sie nach dem Buch suchte. Eigentlich war es doch gar nicht wichtig. Wichtiger war es doch zu erfahren, ob George diese merkwürdige Person war, die ihr Briefe schrieb und Geld schenkte. Aber dieses verlorene Buch schien etwas mit der Sache zu tun zu haben – das zumindest hatte sie im Gefühl.
Das Wohnzimmer war zwar groß, doch relativ dürftig eingerichtet. Das Mobiliar, was sich allerdings darin befand, war von ausgesprochen hoher Qualität und sicherlich einiges wert. An der Tür mit Gang zur Küche befand sich ein breiter, aus massivem, dunklem Holz gefertigter und edel vollendeter Tisch mit einer kunstvollen Porzellanvase darauf – auf ihm befand sich sonst nichts. In der Mitte des Zimmers fand ein ebenfalls aus massivem Holz bestehender Tisch seinen Platz und erstreckte sich in einer immensen Länge. Er diente wohl mehr zur Dekoration und zum Prahlen als zum Nutzen der Unterhaltung und Lebensmittelaufnahme, nahm Emma an – doch auch auf ihm war nichts außer einer Tischdecke. Auch George hatte sich vom Regal abgewandt und wollte gerade woanders suchen, als er stehen blieb und angestrengt nachdachte. Dabei rückte er mehrmals sein Handtuch zurecht, was er sich umgebunden hatte und welches fortlaufend herunterzurutschen drohte.
Emmas Blick stockte jedoch auf dem Canapé. Es war der letzte Ort, an dem sie hätte suchen wollen, da es der offensichtlichste war und dabei auch noch der, den sie fortlaufend im Blick gehabt hatte. Zuvor hatte sie darauf gesessen und sie war sich sicher, kein Buch dort gesehen zu haben. Auch während ihres Liebesspiels hatte sie immer noch irgendwie Blick auf das Sofa gehabt und ihr wäre es sicher irgendwie aufgefallen. Viele, nicht wirklich durchdachte Gedanken flogen in ihrem Kopf umher, die davon handelten, dass entweder jemand dagewesen war, sie vielleicht einfach das Buch übersehen hatte oder George sie belogen und das Buch dorthin gelegt hatte.
Denn das Buch lag dort. Sein Lieblingsbuch.
»George... ist es das da?«
Er wandte sie zu ihr, legte seinen Kopf leicht schief und schaute auf die Stelle, die Emma ihm zeigte.
Das Buch lag in jeglicher Hinsicht zentral auf dem Sofa, mit dem Cover zur Decke weisend.
»Ja... ja, das ist es. Aber ich bin mir wirklich sicher, dass ich es zurück ins Regal und genau an die Stelle dort legte, wo du dieses fremde Buch her hast. Außerdem hab ich heute alles aufgeräumt für... «
Er verstummte und wurde leicht rot.
Emma dachte nach, stand hinter dem Canapé und blickte auf das Buch, das George in den Händen hielt. Er grübelte scheinbar immer noch darüber nach, wie es vom Regal zum Sofa kam und wie dieses andere Buch seinen Weg ins Regal fand.
War es Zufall? Hatte George schlicht und einfach das Buch vergessen in das Regal zu legen und dafür „Heimweh nach dem Ort, an dem ich bin“ an Stelle gesetzt? Aber was machte der Umschlag in dem Buch? Log George sie vielleicht an?
»Der Brief...«, flüsterte sie und George schaute sie an.
»Bitte?«
»N-nichts, George. Du, ich geh nach Hause. Ist vielleicht ein Buch deiner Frau oder so.«
»Aber... du kannst doch nicht gehen. Ich hatte noch so viel vor und...«
»Tut mir Leid«, sagte Emma, sammelte in der Zeit ihre Klamotten ein, die im ganzen Zimmer verstreut lagen und zog sich das Nötigste an. „Aber ich hab noch etwas vor, ganz vergessen. Unaufschiebbar. Man sieht sich!“
Und weg war sie – mitsamt des Briefes. Sie wollte nicht, dass er ihr blöde Fragen stellte. Sollte er tatsächlich nichts damit zu tun haben, würde sie ihn sicherlich nicht in etwas einweihen, wovon sie selber noch nicht allzu viel wusste. Sollte er aber derjenige sein, der ihr diese Botschaften schickte, war höchste Eile geboten. Wer weiß, zu was er fähig sein konnte. Sie musste einen klaren Kopf bewahren und de Situation analysieren. Vielleicht machte sie sich auch einfach zu viele Gedanken. Sie brauchte Ruhe.
Der Regen hatte die Kleinstadt in ein drückendes Grau gehüllt und nahm ihr die letzte Schönheit. Die sonst schon unattraktive, karge Stadt verlor nun all ihren Charme. Doch einer der wenigen Plätze, die der Stadt etwas Buntes verliehen war der große Stadtpark, welcher im Frühling seiner Bestimmung folgte und seine blühende Pracht offenbarte, die Menschen glücklich machte. Und in eben diesem Park war Emma nun, nachdem sie kurz zuvor hastig Georges Wohnung verlassen hatte und nach circa fünf Minuten den in Wasser getränkten Park betrat.
Es war matschig, die Fußwege waren kaum begehbar und Emma versuchte bei jedem Schritt eine halbwegs trockene Stelle zu erwischen. Sie wusste, dass sie Wichtigeres im Kopf hatte, aber ihre Schuhe wollte sie nicht unbedingt dreckig machen. Es gelang ihr jedoch nicht und sie gab auf. Der matschige Weg offenbarte oftmals kleinere und größere Steine, die sie ins Wanken brachten, Abdrücke von Tierpfoten waren zu sehen. Jeder Schritt bohrte sich regelrecht in den Boden und nahm Emma in seine Fänge, als wolle er, dass sie für immer an dieser Stelle verweilte. Mit etwas Anstrengung versuchte sie voranzukommen, ließ jedes Mal ein schmatzendes Geräusch hören, als sie ihre Schritte in den Boden trat und aus ihm wieder erhob. Das normalerweise schöne Beet, welches den Teich umkreiste, war nur noch eine grau-braune, matschige Fläche. Emma seufzte, sah eine beinahe trockene Bank unter dichten Nadelbäumen und entschied sich zum Sitzenbleiben. Sie ließ ihre angespannte Haltung fallen, atmete tief ein und wieder aus und dachte an das Geschehene. War George der Kerl, der ihr diese Briefe schickte? War das alles, diese Affaire, so weit eskaliert, dass er sie stalkte? Sie mit Geld köderte wie eine Art Nutte? Ihr Angst einjagte? Oder war er unschuldig, wie er behauptete? Dann stellte sich jedoch die Frage, ob der andere Kerl noch schlimmer war. Er brach in Häuser ein, beobachtete anscheinend Leute beim Sex und legte Bücher an Stellen, wo man ihn sofort hätte sehen können? Der Brief... Sie hatte ihn total vergessen. Eilig wühlte sie in ihrer Tasche, nahm den etwas zerknitterten Umschlag heraus und öffnete ihn schnell. Einzelne Regentropfen fielen auf das Blatt, weichten die Stellen ein. Sie nahm einen 100-Euro-Schein aus dem Umschlag, doch viel mehr interessierte sie der Brief, der sich erneut in dem Umschlag befand.
Das Öffnen und Lesen des Briefes zeigt, dass du weitermachen willst.
Bravo!
Etwas erwartet dich, doch unverhofft kommt oft, meine Liebe.
Das war's. Etwas erwartete sie? Ruhm, Reichtum, wie es im Brief vorher hieß? Wieder ein Rätsel... Und 100 Euro waren viel Geld. Bekam sie immer 50 Euro mehr? Oder verdoppelte sich der Betrag? Um dieses "Rätsel" lösen zu können, musste sie erst das eigentliche Rätsel entziffern, und das hieße, sie müsste weitermachen. Bisher war nichts allzu Schlimmes passiert. Geld hatte sie auch ziemlich nötig und nicht viel sprach dagegen. Der Regen wurde heftiger. Die Tropfen schlugen wie Maschinengewehrschüsse in den großen Teich vor ihr, ließen das Wasser spritzen, Wellen um die Aufprallstelle entstehen, welche gegen andere schlugen und den Teich füllten. Trotz allem kämpfte sich die Sonne durch die Regenwolken, die Strahlen spießten sie auf, drängten zur Erde und kreierten mit Hilfe des Regens einen prachtvollen Regenbogen, welcher sich über das Wasser erstreckte.
»So wunderschön...«, flüsterte plötzlich eine Stimme, die hörbar hinter Emma ihren Ursprung hatte. Sie erschrak, doch sofort blieb sie stocksteif, denn etwas Stählernes war unmittelbar an ihrer Kehle - ein Messer. Eine Hand wiederum berührte eine Schulter, etwas Feuchtes, Fleischiges ihr Ohr – und ein fauler Atem ihr Gesicht...