Gertrude sprang von ihr herunter und huschte in die Küche hinaus. Gleich darauf stolzierte erneut eine Katze in den Raum herein, nicht anders als stolzierend musste man sagen, denn sie schritt ein wie ein von Tausenden bewunderter Löwe in die Manege.
Sofort tirilierte die Kritikerin: „Marcel! So komm, mein Liebling!“ Diese Kosenamengebung war höchst unfeministisch, nicht wahr? Ein Liebesverhältnis ausdrückend, dass bei Menschen schon überschmachtend gegolten hatte, als klebrig und liebesversessen, aber wie nun bei Tieren, in spezielle Katzen? War das ein Ausgleich für ihre im Grunde genommen herrschende Männerverachtung?
„Raten Sie Mal, weshalb diese Katze wohl Marcel heißt?“
„Hm!“
„An wen aus der Literatur könnte er sie erinnern?“
„Hm!“
„Sehen Sie, wenn ich abends nach Hause komme, dann tut es mir gut, wenn ich über den warmen Körper meiner Katze streicheln kann. Das brauchte ich als Quell der Beruhigung. Der Tag ist immer so hektisch und dann lasse ich mit den Handstreichen noch einmal den Tag an mir vorüberstreichen.“
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in etwa!“
„Richtig!“
„Ich muss gestehen, diese dicken Bücher von Marcel Proust haben mich immer zu sehr abgestoßen, als dass ich mich ihnen gestellt hätte!“
Sie lachte zustimmend: „Mir ging es nicht anders! Hihi!“
Blödes Gelache, wie Abiturenten, die es gelungen war, um Goethe herumzukommen.
Dann lastete wieder Stille in unserer Konversation.
Wo nur wieder den Faden aufnehmen?
Keiner unterbrach das Schweigen, ich wenigstens schaffte es nicht, so sehr ich nach Worten und Gedanken rang.
Sie schien es sowieso nicht im mindesten zu kümmern. Behutsam strich sie mit ihrer Hand über „Marcel.“.
Die Katzen waren ihr Born, ihre sprudelnde Quelle, aus der heraus sie Kraft schöpfte. Ich dagegen spürte nur mehr Aufgebrachtheit gegen diese Tiere, deren Behandlung mir schon ziemlich unverhältnismäßig erschien. Mittlerweile war es mir auch egal, ob sie recht hatte mit ihrem Kunstbegriff, wäre nur nicht diese überliebevolle Behandlung ihrer Tiere gewesen. Diese hätte doch viel eher den Männern zugestanden! Das Zuviel den Katzen gegenüber ging auf das Zuwenig des Menschen, der Männer, auch mich, natürlich.
Ich sagte jetzt: „Es stimmt, sie haben absolut recht! Genau darum geht es in der Kunst und Literatur, nur darum!“
„Aber was?“, sagte sie auf einmal.
ABER WAS?
Ja, sie hatte es erfasst, obwohl ich ihr unumschränkt zustimmte, widersprach ich ihr auf der ganzen Linie, war in totaler Opposition ihr gegenüber. Ich sagte dauernd „Ich liebe Sie!“, aber das Eigentliche, das Wahre lautete: „Ich würde Sie am liebsten umbringen!“
Sie hatte mich, weiß Gott, aufgespießt. Ich zappelte hilflos auf dem Spieß.
Es erboste mich, während des Gesprächs nicht an mich ihre Worte gerichtet zu haben, – trotz des persönlichen Anredepronomens – sondern gewissermaßen zu einem imaginäres Publikum, weil sie gleich so redete, als monologisiere sie stets, als habe sie ein großes Publikum vor sich oder die Ewigkeit, nur nicht einen Menschen wie mich.
Hätte ich dasitzen brauchen? Mitnichten! Ihre eloquenten Monologe waren schneidige Schwerter, die sie auf mir, den Amboss, schmiedete.
An der Nase herumgeführt, konnte man nicht gerade sagen, aber das, was sie mit mir tat, war auch nicht schmeichelhafter, und nur Medium zur Entwicklung ihrer geistreichen Ideen zu sein, befriedigte mich nicht.
Ich will es nicht gerade behaupten, sie mir das Gefühl vermitteln wollte, ich sei „Nichts“, „Ein Nichts“, wenngleich ich mich dessen nicht erwehren konnte. Aber in einem war ich mir sicher, ihre Rede und die Intention ihres Verhalten zielten darauf ab, mir mitzuteilen: „Sehen Sie es doch endlich ein: Leider sind sie kein Schriftsteller!“
Letzteres wog für mich fast noch schwerer, und nichts anderes konnte mich mehr treffen.
Doch musste ich einfach noch einen Draufsetzen - kann schon sein, dass es die berühmte Reaktion des in die Ecke Gedrängten war, der sich durch Angriff am besten zu verteidigen sucht. Dadurch könnte es mir gelingen, sie endlich herauszulocken in der Weise, dass sie über mich den Kopf schüttelte und sagen musste, ich sei verrückt.
Also weiter äußerte ich, mein Hass auf die Literatur, die so schlecht und misserabel geworden war, habe Formen angenommen, die mich vielleicht in ein falsches Licht erscheinen lassen dürften. Aber dazu stand ich.
„Ja, reden sie nur!“ Gleichmütiges Streicheln, wie gehabt.
„Ich habe mir die Angewohntheit angedeihen lassen,“, sagte ich mokant, „nicht nur schlechteste Literatur zu verbrennen, sondern diese vorher auch gewissermaßen zu foltern und zu malträtieren. Merke ich, dass ich ein Buch in der Hand habe, das mir nicht passt, fange ich an, jede einzelne gelesene Seite herauszureißen und hinter mir übern Kopf in den Papierkorb zu werfen. Das erleichtert mir den Gegenstand in der Hand und da er es nicht wert ist, mich zu belasten, befreie ich mich auf diese Weise.“
Ich war niemals weiter entfernt davon, denn durch ihr ständiges Nicken nach jedem, aber auch jedem vollendeten Satz, den ich gemacht hatte, als hätte sie nichts anderes erwartet und genauso erwartet, wie ich es sagte, kam gleichzeitig die Botschaft einer Interpretation desselbigen herüber, die da lautete: aber ja, ich weiß, ich weiß und kommen Sie doch endlich einmal mit etwas Interessantem, wirklich Interessantem, nicht solch Abgeschmacktheiten. Ja, ich war abgeschmackt und banal, das schien ich zu sein, denn wenn Provokation ins Leere läuft, wird es genau das.
Mensch, konnte sie überhaupt nichts überraschen? Wusste sie über mich schon längst Bescheid? Und wo war ein Ansatz, ihr die totale Überraschung zu bereiten? Ich musste weitermachen, mittels Versuch und Erfolg, auf irgendetwas Diesbezügliches stoßen, Kuhmist.
„Und mittlerweile ist es so, sämtliche Bücher, die ich in die Hand kriege, zerreißen und verbrennen zu müssen!“
„Ich weiß!“, sagte sie wieder nur.
„Aber es ist nicht verwunderlich, die Bücher dem Scheiterhaufen zu übergeben. Stellen Sie sich einmal vor, wie sie aussehen, nachdem sie durch meine Hände gegangen: voll der Flecken und Eselsohren, total unansehnlich-schmutzig und abstoßend sind sie.“
„Aber was machen Sie mit ihnen?
„Kaffee oder Tee verschütten, die Zigaretten fallen mir aufs Buch oder das Buch zu Boden, gedankenlos oder nervös geworden, trete ich darauf, sowieso mache ich mir Gedankenstützen mit Hilfe von Eselsohren undsoweiter.“
„Aber hassen Sie Bücher denn?“
„Aber nein. Nur regen mich die neuesten Werke derartig auf oder langweilen mich so zu Tode, dass mir der Niko-Stengel entgleitet beim Darübereinschlafen oder Kaffeespritzer aus der schwankenden Kaffeetasse aufs Papier schwappt beim Sich-Darüberärgern undsoweiter...“
„Was aber regt Sie so sehr auf?“
„Oje, wenn ein Buch nur aus Hauptsätzen besteht zum Beispiel. In der Schule gilt dies als niedrige sprachliche Entwicklungsstufe, in der Literaturkritik offenbar als glamourös, artifiziell und sonst noch etwas Hypermässiges.“
„Aber bedenken Sie, in der hektischen Arbeitswelt heutzutage...“
„Nicht! Ich will nichts hören. Ich kennen das zur Genüge. Offensichtlich sind wir kulturell wieder auf dem absteigenden Ast Richtung Neanderthaler.“
„Sie sind extrem!“
„Allerdings! Wozu gibt es schließlich Syntax? Nicht, um ihr aus dem Weg zu gehen, da bin ich mir sicher.“
„Ja, ich verstehe.“
„Ich hoffe es.“
„Ich tue es wirklich!“
„Am schlimmsten jedoch sind die schlecht übersetzten ausländischen Krimis. Aber leider deutschsprachige gibt es ja wirklich keine guten. Aber das ist ein herber Verlust, klaffendes Loch und blutende Wunde, alle diese in schluddrigem Deutsch geschriebenen Romane aus fremdländischer Sprache übersetzt. Das schlägt ein tiefes Loch in unsere Kultur.“
Dazu sagte sie allerdings nichts.
Ich musste noch einen draufsetzen.
„Sehen Sie. Seit einiger Zeit habe ich so eine Vision.“
„Ja!?“
„Ich würde mich in einen öffentlichen Artefakt samt dieser Schwemme schlechter Literatur verbrennen.“
„Danach würde man sich um ihre Werke reißen“, leicht zynisch und wissend.
„Allerdings!“, murmelte ich prosaisch.
Seit langem, mich wieder verstanden zu fühlen, sogar richtiggehend rundum wohl und ich verspürte von daher Lust, dieses Wohlbefinden zu steigern mittels einer Zigarette.
So fragte ich, ob ich rauchen dürfte.
„Weil Sie’s sind!“, sagte sie lapidar. Ich spürte die hohlen Worte und die Eisigkeit, die von ihr ausging. Kuhmist, einmal ein gutes Feeling aufgebaut, schon wieder wurde es im Keim erstickt. Dabei gab ich mir nicht allein die Schuld.
Was soll’s, ich musste B sagen und so kramte ich nach meinen Zigarettenutensilien, wohingegen sie sich jetzt noch intensiver mit dem Streicheln von Gertrude vertiefte. War es ohnehin selten, sie den Kopf heben zu sehen, so würde sie es nun überhaupt kaum mehr machen.
Ich war jetzt schon verwirrt, weil ich durch meinen Wunsch den dünnen roten Faden hatte entgleiten lassen. Andererseits, durch ihre Intoleranz meiner Bitte gegenüber, fühle ich mich wie auf einer Nagelspitze aufgespießt und zappelte hilflos.
„Und Sie müssten sich fragen: warum verbrennen Sie Bücher? Genauer gesagt, was verbrennen Sie damit?“, kam sie auf einmal damit.
Was meinte sie damit? Vielleicht zu versuchen, meine eigene Erfolglosigkeit zu verbrennen? Zumindest symbolisch? Den Neid, den Hass auf andere Literatur – ach was!
Ich hatte gleichzeitig gegrübelt, was ich ihr antworten könnte. Aber zu schnell war ihre Handlung, die jetzt erfolgte und die zum einen sagte, auf keine Antwort wert zu legen und zum anderen welche Antwort auch immer, sie ihr diese einerlei sein würde. Wahrscheinlich hatte sie sich bereits endgültig für sich ein Urteil gefällt: der ist alles andere als ein guter Schriftsteller und wie es sich nun einmal um schlechte Autoren verhielt, war er völlig uneinsichtig. Bekehrungsversuche zwecklos und Zeitverschwendung.
Plötzlich also, was mich völlig überraschte und verdutzt zurückließ, stand sie auf, gähnte, streckte sich, Hände nach oben, dann seitlich wegstoßend und meinte: „Ich gehe jetzt ein Bad nehmen. An der Tür des Bades hängen übrigens Bademäntel!“, machte auf dem Absatz kehrt und schritt aus dem Raum.
In welchen Film war ich denn hier geraten? War das wirklich gewesen, was gerade vor meinem Auge abgelaufen war? Na, ein Filmprojektor, im geheimen projiziert, musste zwischen diesen Wänden und Büchern aber gut versteckt worden sein.
Zitternd steckte ich mir den Glimmstengel an.
Dass der Bademantel an der Badetür hing, war doch keine wertfreie Aussage gewesen, sondern als Aufforderung zu verstehen, diesen sich überzuziehen, bevor ich, ja, bevor ich auch in das Badezimmer eintrat, in dem wohl die heiße Nebelschwaden wogten. Nichts würde ich erkennen, spann ich den Film weiter, würde mich durch die Dampfschwaden vortasten und hinbewegen zur Mitte des Raumes oder hintersten Ecke oder gegenüberliegenden Wand, wo die übergroße Wanne, bestimmt reich mit Mosaiksteinchen verziert, stand, in der sich bereits entspannt im heiß-dampfenden Wasser das Objekt der Begierde räkelte.
An dieser Wortwahl, die meine Gedanken wiederspiegeln, mag man den Realitätsgehalt ermessen können, dem ich diesem Schauspiel zumaß. Es war für mich schlicht unvorstellbar. Ich meine, wie kam ich dazu? Jetzt doch noch nicht. Wir waren doch noch nicht so weit, nicht in diesem Stadium, in dem solch eine Kontaktaufnahme kommen musste: nackt, im Bad, wir in einer Badewanne. Da hatte jemand den Film sozusagen vorgespult. Das konnte schlicht und ergreifend nicht gut gehen. Alles brauchte schließlich seine Zeit.
Aber die Menschen sind verschieden - diese Frau sowieso - und zwar entschieden von all den anderen, die mir bekannt waren und ich bislang begegnet war. Bedenke aber die Begrenztheit deiner Kontakte!
Vielleicht habe ich auch einige Signale übersehen oder unbewusst in dieser Richtung der sexuellen Aufforderung beantwortet?
Ich zog hastig an meiner Flunze, die, jetzt fast bis zum Filter geraucht, schon bitter schmeckte. Doch saugte ich noch einmal daran, bevor ich sie ausdrückte. Ein Aschenbecher, was ich vorhin gar nicht wahrgenommen hatte, stand breit und offensichtlich auf dem ovalen Glastisch. Auch diesen hatte ich schon die ganze Zeit benutzt, ohne es zu bemerken.
Aha, das ist ein Beweis! Sowenig mir dieser Gegenstand aufgefallen war, sind mir wohl auch andere Dinge, die mit dieser prekären und unvorhersehbaren Situation in Verbindung standen, in der ich jetzt orientierungslos zappelte wie ein an Land bespülter Wal, zu Bewusstsein gekommen.
Nun, was sollte ich tun?
Ich wollte mit ihr ins Bett gehen, das stand fest. Halt, zunächst einmal, sie sich in mich zu verknallen. „Aber dazu gehört dann auch, in die Kiste zu steigen! Kleiner Feigling!“
Sprach eine andere Stimme zu mir.
„Stimmt! Natürlich!“
„Also!“
„Klar!“, ganz langsam sagte ich mir dies, um kein ungeprüftes Wort fallen zu lassen. „Wenn man A sagt, muss man auch B sagen! Wenngleich kein A gesagt worden ist...“
„Mensch, so geht das nicht. Du drehst dich im Kreis. Handle einfach so, wie es geboten erscheint, sprich, wie sie es zu erwarten hofft. Und das Schritt für Schritt. Geh ruhig zur Badetür, ziehe dich aus, den Frottémantel an, öffne die Badetür, gehe hinein, durch den Dampf und steige, vielleicht vorher noch gefragt mit einer Floskel: „Sie haben doch nichts dagegen, nehme ich einmal an“, in die Wanne mit hinein. Dann wirst du schon sehen, was daraufhin geschieht. So und nicht anders. Vielleicht kommt ja alles völlig anders, als du glaubst.“
Über diesen Plan war ich zufrieden. So könnte es gehen, sagte ich mir und erhob mich endlich, um das Bad anzusteuern.
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