Johanna hatte nachdem ihr nun auch diese Hoffnung im beruflichen genommen worden war wenigstens den Anreiz dahingehend, dass sie etwas tun wolle um ihr Singledasein zu beenden. Deshalb begab sie sich in eines der Restaurants, wo man sich mit anderen Personen treffen konnte um mit ihnen den Abend zu verbringen.
Und sie machte sich durchaus Hoffnungen, denn bisher war sie nie allein nach Hause gegangen. Sie schminkte sich dezent, aber doch sehr interessant. Das Haar lag offen, der wohlgestaltete Körper von einem engen Abendkleid umschlossen. Auf Schuhen mit hohen Absätzen tänzelnd begab sie sich in diese nahe Gastronomie.
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Überall hatten sich bereits Paare gefunden. Allerdings schienen die netten Herren in ihrem Alter allesamt schon vergeben. Nur eine Person saß da noch recht traurig an einem einsamen Tisch und trank recht zügig etwas Rotwein. Da aber sonst niemand ihre Aufmerksamkeit richtig fesseln konnte begab sie sich zu eben dieser traurigen Gestalt.
„Entschuldigen Sie, darf ich mich setzen?“, fragte sie mit einem charmanten Lächeln. Ein versteinertes Gesicht blickte zu ihr hinauf, die Augen ein wenig blutunterlaufen, aber der Rest war recht nett. Sein Körperbau war sehr sportlich, der Anzug saß deshalb wie angegossen, obwohl er sich nicht recht wohl darin zu fühlen schien.
„Bitte doch“, meinte er nur und verwies auf den freien Platz. Als Johanna sich ansatzweise setzen wollte sprang er plötzlich auf, lief um den Tisch und rückte ihr den Stuhl hastig zurecht. „Entschuldigen Sie, aber ich bin in letzter Zeit ein wenig durch den Wind, da kommt sowas schon vor“, meinte er, mit einem kleinen Lächeln, was sie mit einem herzerfrischenden Lachen beantwortete, dass aber eher noch gespielt war. Sie konnte gut spielen, aber bereits jetzt hatte sie das Gefühl, dass Spielen bald nicht notwendig sein würde.
Als er sich setzte erblickte sie an seinem Revers einen kleinen Anstecker und ein etwas breiteres Band, das aber nach innen gekehrt war.      Â
„Verzeihen Sie, wenn ich so offen frage, aber was Sie da tragen, was ist das?“
Ihr Gegenüber atmete schwer aus und ließ schließlich seinen kleinen Orden heraushängen, der ihn als einen AB auswies. Dabei schien er große Schmerzen zu empfinden und keineswegs stolz darauf zu sein, dass er dieses Insignium zu tragen hatte.
Johanna war perplex.
„Bei Bentham! Sie sind ein…“
„Exakt“, kam es unruhig von den Lippen ihres Gegenüber.
„Aber wieso verstecken Sie das?“, fragte Johanna neugierig. Der Teil von ihr, der sie zur politischen Korrektheit aufrief war sehr leise gegenüber dem Anderen, der wissen wollte, was das für ein interessanter jungen Mann sein musste.
„Nun, wenn ich diesen Orden trage rennen die Leute entweder alle vor mir weg, oder zu mir hin. Beide Zustände sind einfach zu extrem. Als wäre ich kein Mensch mehr. Deshalb das, zudem ist es nicht verboten, denn technisch gesehen trage ich diesen Orden ja in der Öffentlichkeit.“
Johanna jubilierte innerlich, denn dieser Herr wurde immer interessanter. Ein AB, der es hasste das zu sein, was er war.
„Verzeihen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Fjodor Mandzukicz, aber vielleicht haben Sie ja mein Bild in der Zeitung schon gesehen. Zum Glück habe ich kein prägnantes Gesicht, deshalb werde ich auch nicht erkannt.“
„Johanna Niedermeyer. Ich bin Forscherin auf dem Gebiet der Antriebstechnologie, leider“, meinte sie, obwohl sie das nicht sagen wollte, weshalb sie sofort die Hände vor den Mund schlug. Fjodor musste lachen.
„Sie sind also nicht glücklich in ihrem Beruf? Da sind wir ja nicht mehr allein. Ich bin nämlich auch nicht wirklich glücklich, wenn ich ehrlich sein will, aber darüber kann ich ja hier nicht reden“, meinte er kurz und blickte dann verschwörerisch zu den anderen Tischen, die zum Glück zu weit weg von ihrem und auch nicht beleuchtet genug waren um ihn deutlich zu erkennen zu geben. Ãœberhaupt gab es hier viel Kerzenlicht, das war aber gleichzeitig schummrig, sodass es viele Dinge im Dunklen ließ.
„Oh, Verzeihung. Aber ich glaube ebenso wenig, dass Sie über Ihre Abneigungen hier frei sprechen können“, spekulierte er und lehnte sich grinsend zurück.
„Ach was, die sind viel zu allgemeiner Natur. Es ist doch so, dass man nichts lieben kann, was stagniert, oder? Es passiert nichts mehr, was mich voranbringt und ewig versklavt zu sein unter dem Vorwand, dass dann doch irgendwann einmal der große Durchbruch kommt, dass ist doch nicht, vor allem nicht, wenn man andere sieht, die koexistieren und praktisch jeden Tag große neue Erkenntnisse zu Tage fördern.“
Fjodor war neugierig geworden, denn er erkannte in Johanna eine Leidensgenossin. Â Â Â Â Â Â Â
„Können Sie das Problem genauer beschreiben? Ich meine, können Sie genauer sagen, was Sie lieber tun würden?“
Johanna blickte nun auch um sich.
„Ich weiß nicht, Sie sind doch AB“, sprach sie frei heraus an.
„Oh, ja, ich weiß. Und genau das ist eben das Problem. Kaum wollen die Leute einem interessante Sachen sagen beginnen sie damit sich zu erinnern, was man doch ist und das war es dann. Funkstille, totale Funkstille, weil alle befürchten, ich würde sie danach fertig machen. Sagen wir es so, ich bin nicht im Dienst, also Johanna, bitte, ich bin auch nur ein Mensch!“, flehte er sie schon fast an.
Sie hätte gerne seinen Kopf zwischen ihre Hände genommen und geküsst. Dieser arme Mensch war ebenso verzweifelt wie sie, jedoch mit dem Unterschied, dass für ihn eine normale Konversation nicht möglich war. Aber sie wollte ihn davon erlösen, denn irgendwie spürte sie eine besondere Hingezogenheit zu diesem bedauernswerten Wesen, welches trotz seiner Machtfülle genauso zerbrechlich war, oder gar noch fragiler, als alle anderen.    Â
„Gut. Ich interessiere mich sehr für die Geschichtsforschung. Eigentlich wollte ich jetzt zu den Historikern, doch diese verwehrten mir diese Chance knapp. Und ein weiteres Jahr später stelle ich wieder ein Gesuch, vielleicht nehmen die mich ja dann irgendwann aus Mitleid. Ich meine, die entdecken jeden Tag irgendetwas, oder haben ein Ziel vor Augen. Und wir? Wir haben ein fernes Ziel ohne Ahnung, wie wir es erreichen sollen und mit Fragmenten von Erkenntnissen, mit denen man nichts anstellen kann. Und damit war es das schon mit meinem Problem.“
Auch Johanna hatte man ein Rotweinglas gereicht, sodass nun beide an ihren Gläsern nippten und darüber kichern mussten, als wären sie kleine Kinder.
„Wissen Sie was? Sie sind seit Wochen der erste Mensch, abgesehen von meinen engsten Freunden, die ich noch aus meinen, nicht allzu fernen Wächterzeiten kenne, der in der letzten Zeit irgendetwas von sich mir gegenüber Preis gegeben hat. Ich glaube, Sie haben mir gerade den Glauben an die Menschheit zurückgegeben.“
Johanna lächelte wegen des netten Kompliments.
„Herr Mandzukicz…“
„Fjodor, bitte“, fiel er ihr ins Wort.
„Also schön…Fjodor. Wie wäre es, wenn wir diesen schummrigen Schuppen verlassen und uns irgendwo weiter unterhalten, wo es diskreter ist, wo wir nicht gestört werden?“
Er lächelte.
„Das wollte ich eigentlich gerade vorschlagen, Johanna. Aber da Sie das taten, gerne.“
Er winkte einen der Ober zu sich, bezahlte die Rechnung beider und sie schlenderten gemütlich hinaus, Johanna hatte sich bei ihrem starken Beschützer untergehakt. Ein paar andere Paare beobachteten sie, vor allem die, die einen Blick auf den Orden von Fjodor erhaschten und vor Unterwürfigkeit am liebsten unter den Bodenbelag gekrochen wären. Er ließ ihn gut sichtbar, denn er garantierte den beiden gerade eine starke Intimsphäre, obwohl sie sich ja in der Öffentlichkeit bewegten. Er hatte das bisher nur negativ aufgefasst, doch gerade eben erkannte er den Vorteil.
Sie schlenderten durch die Nacht und sprachen dabei ein wenig über ihren jeweiligen Werdegang. Fjodor natürlich deutlich weniger detailliert, denn auch er musste sich hüten, zu viel preis zu geben. Es könnte auch Johanna ihn zu Fall bringen, wenn sie ihn verpfeifen würde. Er kannte sie nicht gut genug um sagen zu können, dass sie das nicht tat, obwohl er ein recht großes Vertrauen in das Gegenteil hatte. Trotzdem wurde man schon nach kurzer Zeit als AB so dermaßen paranoid, dass man bei fast jedem Menschen vorsichtig war, selbst bei einer wunderschönen Frau, die sich eng an einen schmiegte, weil ein kühler Wind aufkam. Er warf ihr sein Sakko über und sie bedankte sich mit einem kleinen Küsschen dafür.
Und so erreichten sie schließlich Johannas Wohnung, in der sie ihren Wein öffnete, man also damit begann das fortzusetzen, was man im Restaurant begonnen hatte.
„Na dann, Fjodor, erzähl mal von deinen Hobbys. Was machen denn ABs, wenn wie gerade keine Leute verhaften oder überwachen?“, fragte Johanna unverblümt, was man aber auch ihrem ein wenig gesteigerten Alkoholpegel zuschreiben konnte, ebenso Fjodor, der einfach nur darüber lachte. Es tat ihm gut, dass mal wieder jemand einen Witz in seiner Gegenwart über das riss, was er nun war. Normalerweise konnte er damit rechnen, dass das niemals würde geschehen, doch hier hatte er eine ganz andere Person vor sich. Das konnte er einfach spüren.
„Naja, ich beschäftige mich mit alten Schriften“, meinte er.
Johanna stellte ihr Glas so schnell ab, dass ein wenig Rotwein dabei verschüttet wurde. Hatte er gerade gesagt, was sie gehört hatte?
„Alte Schriften, was meinst du denn damit?“, fragte sie perplex.
„Na, was man eben darunter fasst. Schriften, die nicht mehr aufgelegt werden, eben die alten Sachen. Die, die die Historiker haben z.B., solche Sachen eben.“
Sie setzte sich neben ihn und rückte ganz nah an ihn heran, dabei tastete sie nach seinen Händen.
„Du sagst mir gerade, dass du, als eine wichtige Person in unserem Staat, verbotene Sachen machst?“
Er musste grinsen. Denn ihr vollkommen erschrockener Gesichtsausdruck gefiel ihm irgendwie.
„Oh, entschuldige, dass ich da mal was mache, was ich eigentlich nicht sollte. Ich interessiere mich eben, was ist daran schlimm, frage ich mich?“
„Wenn du nun aber auf Sachverhalte stößt bei denen du merkst, dass die offiziellen Darstellungen nicht stimmen?“, fragte sie und rückte dabei ganz nah zu ihm heran. Er spürte ihren unregelmäßigen Atem, der auf die Haut an seinem Hals traf. Und er genoss es.
„Dein Erstaunen, wie soll ich das werten? Ist es ein Schock? Wohl kaum, denn du bist mir ja immer näher gekommen und ehrlich gesagt, es interessiert mich gerade brennend. Teilen wir vielleicht sogar dieses verbotene Hobby?“, fragte er ins Blaue hinein.
Es brannte in ihren Augen, also wusste er die Antwort schon zuvor. Das war einer der Vorteile seines Berufs. Er lernte Gesichter zu lesen.
„Ja, so ist es“, hauchte sie und war vollkommen von den Zügeln gelassen. Normalerweise hätte man sagen müssen, dass man sich solche Antworten überlegen sollte, wenn man einem AB gegenüber saß. Doch Johanna hatte alle Bedenken über Bord geworfen. Fjodor war ein Seelenverwandter, der konnte nicht gegen sie sein.
Fjodor zog sie ganz nah zu sich heran, legte ihren Kopf auf seine Schulter und strich durch die langen, weichen Haare.
„Sag mal, könnte ich mal sehen, was du an Schätzen hast. Vielleicht sammeln wir ja in die gleiche Richtung“, meinte er nach einer Weile, in der die beiden nichts gesprochen hatten, sondern nur vielsagend geschwiegen.
„Mach ich gerne“, meinte sie, glitt vom Sofa und holt ihre Bibelübersetzungen aus dem Safe, welche sie dann auf dem Tisch ausbreitete.
„Das ist es, was meinem Leben richtig Sinn gibt, weil meine anderen Forschungen mich nicht voran bringen. Aber hier habe ich jeden Tag eine große Aufgabe.“
„Das ist eine Bibel. Oha, das ist ja das Verbotenste vom Verbotenen. Und dann noch deine Ãœbersetzungen. Was ist das für eine Ausgangssprache?“
„Deutsch. Mein Großvater hinterließ mir das Wörterbuch und die Bibel, wobei er die Bibel nicht wissentlich zurückhielt. Sie staubte auf dem Dachboden in irgendeiner Kiste vor sich hin. Und jetzt übersetzte ich.“
Fjodor nahm den großen Stapel an Papieren in die Hand und überflog vieles, wobei er von der Masse an beschriebenem Papier beeindruckt war.
„Das ist eine ganz schöne Arbeit. Sag mal, wie lange arbeitest du schon daran?“
„Oh, warte. Vielleicht drei Jahre.“
Je länger Fjodor erstaunt auf das Selbstgeschriebene starrte, umso mehr freute sich Johanna. Endlich jemand, der dem Ganzen wirklich Bewunderung entgegen brachte.
„Das ist unglaublich, phänomenal! Ich meine, das ist genug um dich 20 Jahre in die Besserungsanstalt zu bringen“, sprach er vollkommen lapidar, was sie erschrak.
„Oh, nein, ich meinte das nicht so, das macht der Beruf. Aber mal ehrlich, das ist einfach nur genial! Und dass dich die Historiker nicht wollen ist mir immer unbegreiflicher. Mit so einem Ãœbersetzungswerk muss man doch ganz einfach genommen werden.“
Johanna umarmte und küsste den überraschten Fjodor.
„Dank, danke“, brachte sie, jetzt weinend, mit erstickter Stimme hervor. „Ich kenne niemanden, der mir so viel Anerkennung dafür entgegen bringt, wie du. Ich habe das bisher nur meiner allerbesten Freundin gezeigt und die hatte nur Angst um mich, die erkannte die Wichtigkeit dieser Arbeit nicht. Und du, der doch eigentlich nur Verachtung dafür haben müsste, der mich mit einem Wink in den hintersten Winkel einer Zelle sperren kann, du bist so begeistert davon!“
„Hey, bist du beim ersten Date immer so stürmisch?“, fragte er lachend und wischte ihre Tränen weg.
„Eigentlich nicht. Du bist einfach so besonders, dass…“
Sie küsste ihn und er erwiderte die Zärtlichkeit. So saßen sie lange auf dem Sofa, bis sie sich lächelnd wieder von einander trennten.
„Johanna, ich danke dir für diesen wunderschönen Abend, aber ich glaube, ich werde mich mal wieder nach Hause begeben. Es ist schon recht spät. Aber keine Sorge, ich komme morgen wieder. Und dann bring ich mal ein paar meiner besonderen Schätze mit.“
„Ja, da freue ich mich schon drauf!“, erwiderte sie lachend und begleitete ihn noch zur Tür, wo sie sich einen kurzen Abschiedskuss gaben. Danach ging sie wieder in ihre Wohnung, warf sich auf das Bett, sprang wieder auf und tanzte auf ihm herum. Egal was passieren würde, ob sie diese Nacht vielleicht zuletzt in Freiheit verbringen würde, weil er doch den Dienst über das Menschliche stellte, so hatte sie doch den schönsten Abend ihres Lebens verbracht. Und deshalb freute sie sich so noch eine Weile, bis sie erschöpft in die Federn fiel und augenblicklich, mit einem breiten grinsen auf den Lippen, einschlief.