Fremdkörper
Als Gregor Samsa eines Morgens aus seltsam unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine kurvenreiche Schönheit verwandelt.
Samsa hatte die Merkwürdigkeit dieses Momentes sofort erspürt - eine seltsam bedeutende Unfassbarkeit lag darin, die sich seiner bemächtigte, nachdem er die Augen aufschlug.
Die ihm vertraute Morgenerektion fehlte gänzlich und so griff er beherzt mit der rechten Hand in die Region, die ihm stets Anlass zu größter Freude bot, doch die suchende Hand griff ins Leere - jedenfalls fand er nicht das, was er zu finden erhoffte.
In einem Impuls puren Entsetzens zog er blitzschnell die Hand zurück, schwang sich mit einer geradezu fluchtartigen Bewegung aus dem Bett und stand nun, wie versteinert, fast in der Mitte seines kleinen Mansarden-zimmers, dass er seit fast einem Jahr bewohnte.
Ganz langsam, fast ängstlich senkte er seinen Blick und nahm nun wie in Trance die Einzelheiten seines Körpers wahr.
Samsas Blick blieb wie hypnotisiert an den wohlgeformten Rundungen hängen, die sich genau dort erhoben, wo noch vor Stunden eine schwarz behaarte Brust nicht unwesent- lich zu seiner männlichen Selbstsicherheit beitrug. Er erhob unwillkürlich seine Hände und umfasste mit seinen zittrigen schlanken
Fingern die kleinen Hügel, als wollte er sich davon überzeugen, dass er nicht träumte.
Verdammt, verdammt...schrie es förmlich in ihm und er war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Seine Hände erforschten weiter diesen Frauenkörper, in dem er nun steckte. Fassungslos - doch auf eine seltsame Weise fasziniert, wanderte er über die neuen Körperlandschaften, bis zu dem neuralgischen Punkt seiner nicht mehr vorhandenen Männlichkeit.
Er schloss seine Augen und für einen kurzen Augenblick fühlte es sich an, bals wäre er in einem Tagtraum gefangen.
Was hätte er noch vor Zeiten dafür gegeben, genau diese Form einer weibliche Bärenfalle unter seinen Händen spüren zu dürfen. Seine
Wirkung auf Frauen war irritierender Weise nicht besonders groß, obwohl man ihm durchaus nachsagte, aufgrund seines ansprechenden Erscheinungsbildes ein ausgesprochener Frauentyp zu sein.
Vielleicht lag es an der Tatsache, dass er nur ein geringes Mass an Feingefühl sein Eigen nennen konnte. Es war noch nie sein Ding gewesen, die Weiblichkeit mit manipulativen Worten zu umgarnen, die widerlich süß, wie Haselnusscreme, über die Zunge rutschten. Nein, es gab für ihn klare Regeln in dem Miteinander von Mann und Frau, die von Natur aus ein begrenztes Spielfeld voraus setzten. Mann und Frau sondierten das Aktionsfeld, erfassten die gegnerische Position und schon begann das Spiel.
Für Samsa bestand der Sinn des Spiels einzig darin, so schnell wie möglich und so angestrengt wie nötig, das Ziel zu erreichen. Er war der Mann für nur eine Nacht. Jede auch nur gedachte weitere Annäherung kam einer Spielfeldüberschreitung gleich und wurde von seinem inneren Linienrichter rigoros geahndet.
Noch immer in ambivalenten Gedanken versunken, ging er zu seinem Weichholz-schrank, in dessen Mitte ein großer Spiegel eingelassen war und starrte verzückt auf sein Spiegelbild.
Diese bezaubernde Frau mit den dunklen kurzen Locken und dem atemberaubenden Körper, sollte wirklich er sein?
Samsa war sprachlos und noch mit der Frage
beschäftigt, wie zum Teufel er wohl in diese irreale Situation geraten war, als es an der Tür klopfte.
Es pochte noch einmal - dieses Mal kräftiger und eine ihm wohl bekannte Männerstimme forderte sehr unwirsch Einlass. So ein Mist, dachte Samsa und beeilte sich, seinen alten Bademantel aus dem Schrank zu kramen. Er warf sich das Kleidungsstück über und eilte zur Tür, während er in seinem Kopf eine plausible Geschichte konstruierte.
Beim öffnen der Tür hätte Samsa fast mit der erhobenen Faust von Micha Bekanntschaft gemacht, der allerdings bei dem Anblick von so viel Weiblichkeit augenblicklich in seiner Bewegung verharrte und mit offenem Mund
die fremde Schönheit anstarrte.
Samsa konnte den Schleiereulenblick seines besten Freundes fast körperlich spüren und diese Reaktion stürzte ihn in ein ungewolltes, abgrundtiefes Gefühlschaos.
Wie sollte er das alles nur erklären? Blitzschnell fasste er den Entschluss, Micha das glauben zu lassen, was er ohnehin sah. Schließlich konnte er sich doch nicht einfach hinstellen und sagen: Hey, sieh her, ich bin es, Gregor, dein alter Kumpel.
Innerlich noch immer vehement den Kopf schüttelnd, begrüßte er seinen Freund mit einem reizenden Lächeln und der Bitte, einzutreten. Die lange, überaus schwammige Erklärung, die dann folgte, begann er mit der Vorstellung seiner neuen Weiblichkeit, indem
er Micha mitteilte, "er" sei Gregors jüngere Schwester.
Micha schien von der Frau im Bademantel äußerst angetan zu sein und Samsa hatte wieder das Gefühl, die bewundernden Blicke des Freundes, wie kleine Berührungen auf seiner Haut spüren zu können.
Eine ungewohnte Nervosität machte sich in dem Frauenkörper breit, als Augenpaare sich unvermittelt trafen.
Was passierte da mit ihm? Seine Weiblichkeit fühlte sich von Micha angezogen! Von Micha! Und genau in diesem Augenblick fing sein bester Freund auch noch an, Süßholz zu raspeln und "ihn" auf genau diese ekelhaft manipulative Weise, die er als Mann immer so verabscheut hatte, zu umgarnen. Und zu
seiner allegrößten Verwunderung blieben Michas honigsüße Komplimente nicht ohne Wirkung.
Stunden vergingen. Man plauderte angeregt, trank Tee und ganz nebenbei bemerkt, interessierte es anscheinend niemanden mehr, wann "Gregor" wieder daheim sein würde. Sie genossen die Zweisamkeit und völlig unvermittelt war der Augenblick da, in dem sich zwei hungrige Lippenpaare, wie von einem Magneten angezogen, aufeinander zu bewegten.
Sie tauchten tief in den warmen Atem ein, spürten das lustvolle Kribbeln auf der Haut- dann berührten sich ihre Lippen, glitten sanft und geschmeidig übereinander, um ganz zu verschmelzen...
Mit einem unerträglichen Sehnen in seinen Lenden wachte Samsa plötzlich auf. Seine Männlichkeit - steil aufgerichtet, wie ein Marschflugkörper vor dem Abschuss - war unumstößlicher Beweis seiner Erregung.
Er war auf äußerst seltsame Art irritier - irgendwie noch diesem intensiven Traum nachhängend und dennoch unendlich froh, wieder er selbst zu sein. Und doch hatte sich etwas verändert...
©roxanneworks 2013 / 01
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