Romane & Erzählungen
Marcus Warner - Part 1

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"Marcus Warner - Part 1"
Veröffentlicht am 29. Januar 2013, 554 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Marcus Warner - Part 1

Marcus Warner - Part 1

Christoph Hohenstein

 

 

 

 

 

Marcus Warner

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Part 1

 

Wie alles begann

 

 

 

Gewidmet der Muse, die mich geküsst hatte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Find a friend and you find a treasure

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

1

 

 

Liebes Tagebuch,

 

es ist jetzt genau ein Jahr her, als meine Eltern von einen betrunkenen Autofahrer überfahren wurden. Der Schmerz ist immernoch tief in meinem Herzen. Letzte Nacht habe ich von ihnen geträumt. Sie wollen, das ich nicht mehr so sehr um sie trauere. Das Leben geht weiter, sagten sie. Laura Jane, meine Tante, möchte, das ich wieder Kontakt zu anderen Menschen aufnehme. Ich sollte vielleicht mal wieder wegfahren. Einen Urlaub machen. Dann würde ich automatisch neue Menschen kennenlernen und vielleicht sogar Freundschaften schließen. Dann war ich aufgewacht. Lange Zeit danach lag ich noch in meinem Bett und dachte darüber nach. Geld habe ich ja genug. Da ist das Erbe von meiner Tante, das Erbe von meinen Eltern, das Geld vom Verkauf der Firma meiner Eltern, nebenbei verkaufe ich Strom, den ich mit meinem Windgenerator erzeuge und ich habe noch ein paar Aktien, die jährlich ziemlich viel Gewinn machen. Aber ich möchte eigentlich nicht verreisen.

Als ich gerade aufstehen wollte, hatte ich eine Idee. Ich wollte Menschen Gutes tun. Helfen. Vorallem jungen Leuten. Deshalb habe ich noch am gleichen Tag eine Annonce in die Zeitung gesetzt. Das Haus ist groß. Viel zu groß für mich allein. Ich nutze es nicht, also vermiete ich es unter. Eigentlich lass ich sie hier kostenlos wohnen. Das einzigste, was sie selber zahlen müssen, sind ihre Bedürfnisse, wie Lebensmittel und so.

Nach dem ich die Anzeige abgeschickt habe, schossen mir ein paar andere Ideen durch den Kopf. Zum Beispiel werde ich mir eine Biogas-, bzw. Biomasseanlage bauen. Keine rießengroße. Nur so groß, das ich den ganzen Müll aus meinem Block verwerten kann. Ein paar wenige Cent werde ich aber dafür schon für die Müllentsorgung verlangen, damit ich Arbeiter einstellen kann, die wöchentlich den Müll in der Gegend abholen und Arbeiter die dafür sorgen, das das Ding läuft. Danach werde ich vielleicht eine Schwimmhalle bauen lassen. Am besten gleich in der Nähe, so kann ich die ganze Halle mit selbstproduzierten Strom und Wärme versorgen.

Bevor ich mit den Baumaßnahmen beginnen werde, muss ich meine Ideen noch ausreifen lassen und mir Genehmigungen besorgen, denn heutzutage braucht man für alles eine Genehmigung. Man darf kein Furz lassen, ohne sich vorher eine Genehmigung einzuholen. Das hasse ich so an diesem Land. Diese scheiß Bürokratie.

 

Dein Marcus

 

 

Liebes Tagebuch,

 

heute ist es so weit. Meine Untermieter kommen. Ich bin deswegen völlig von der Rolle. Am Telefon klangen sie alle sehr nett, aber ich weiß nicht, wie sie wirklich sind. Einerseits freue ich mich, wenn sie da sind, da es hier manchmal unheimlich ist. Die Stille macht mich manchmal verrückt. Vorallem nachts kann man das Grausen bekommen. Andererseits habe ich bedenken, das ich wildfremde bei mir aufnehme. Woher soll ich wissen, ob nicht irgendeiner von ihnen ein Psychopath ist, der mir ans Leder will. Irgendwann müssen wir alle mal sterben. Aber so früh schon? In den Zeitungen wird fast täglich ein entflohener Straftäter gesucht. Perverse, Serienkiller, Kleptomanen, Pyromanen u.s.w. Die Chance ist hoch, das sich einer von denen bei mir einnisten will, um sich in Sicherheit zu wiegen.

Ach, was mach ich mir Gedanken. Es wird schon alles gut werden.

 

Dein Marcus 

 

 

 

   

 

„Wir sind vollzählig. Ich würde vorschlagen, wir stellen uns alle erstmal vor und danach machen wir einen Rundgang durchs Haus. Also, ich bin Marcus. Wir ihr dann sehen werdet, lebe ich hier allein und deshalb habe ich auch die Anzeige in der Zeitung aufgegeben. Die meiste Zeit über werdet ihr mich in meinem Arbeitszimmer antreffen. Ich würde euch darum bitten, das ihr mich nur stört, wenn es unbedingt nötig ist, denn ich brauche viel Ruhe, wenn ich arbeite. Ihr dürft hier so lange wohnen, wie es euch gefällt. Miete braucht ihr keine zu zahlen. Nur was ihr sonst so braucht. Die Bibliothek im Erdgeschoss, die Badezimmer und die Küchen stehen euch jeder Zeit zur Verfügung. So weit erstmal von mir. Ach, eines noch. Im oberen Stockwerkwerk befindet sich ein abgeschlossenes Zimmer. Stellt keine Fragen darüber. Tut mir den Gefallen und versucht nicht dieses Zimmer zu öffnen. Es ist etwas persönliches, worüber ich nicht sprechen möchte.“

Sie saßen da und schauten schüchtern zu Boden. Chris zog nervös an seiner Zigarette und betete, das er nicht angesprochen wird. Er hoffte, das sie ihn vergaßen. Plötzlich meldete sich Nancy zu Wort.

„Also, ich bin Nancy. Zur Zeit mache ich eine Ausbildung als Sozialpädagogin. Größtenteils arbeite ich mit älteren Menschen, die nicht mehr so können. Ich gehe für sie einkaufen und helfe ihnen im Haushalt. Als ich Marcus Annonce gelesen habe, rief ich sofort an, da ich wieder mal neue Gesichter kennenlernen wollte. Mit mir ist eigentlich gut umzugehen. Wenn ihr mal ein Problem mit mir habt, dann sagt es ruhig. Ich vertrage Kritik sehr gut. Nur wenn ich weiß was euch an mir stört, kann ich es ändern. Ja, das war‘s erstmal.“

„Ich bin Cynthia und gehe zur Uni. Ich möchte einmal Psychologin werden. Wenn einer von euch ein Problem hat, mit dem er alleine nicht fertig wird, bin ich gerne bereit zu helfen.“

„Ich bin der Alex. Ich gehe noch zur Schule und versuche das Abitur zu schaffen. Da ich immer auf meine Brüder aufpassen muss, weil meine Eltern so viel arbeiten, leidet meine schulische Leistung. Ich hoffe, das ich hier die Ruhe finde zu lernen und um mich um die Schule zu kümmern. Auf meine Brüder passt jetzt mein Nachbar auf, der vor kurzem in Rente ging und nichts mit seiner Zeit anzufangen weiß.“

„Ich bin der Daniel. Ich gehe mit Chris in die Abendschule, um das nachzuholen, wozu wir damals keine Lust hatten. Ich bin eigentlich nur hier, weil Chris hier ist.“

„Oh Gott.“, sagte Chris leise. Nun war er dran und wusste nicht was er sagen sollte. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet und das machte ihn noch nervöser, als er eh schon war. Er konnte nicht mit fremden Menschen so gut reden. Vor allem nicht über sich. Aber nun musste er etwas sagen.

„Also, ich bin Chris. Mach mit ihm das Abi nach. Vertrag mich seit einiger Zeit nicht so gut mit meinen Alten...“

Schweigen. Chris hatte dem nichts mehr hinzuzufügen. Nun wartete er darauf, das sie endlich aufstehen und auf ihre Zimmer konnten.

“Ich glaube wir können mit dem Rundgang durchs Haus beginnen.”, sagte Marcus.

Sie standen auf und liefen Marcus staunend hinterher. Nancy bekam große Augen beim Anblick der Küchen. Es schien, als könnte man hier für eine hundert Mann Belegschaft Essen zubereiten. Ihr fiel ein, das sie schon längere Zeit nicht mehr in einer Küche stand - und dabei war kochen eine kleine Leidenschaft von ihr, aber nur solange, wie sie aus freien Stücken am Herd stand. Insgesamt gab es drei Küchen. Zwei im ersten Obergeschoss und eine Küche befand sich im Erdgeschoss. Die Zimmer waren ebenfalls sehr groß. Am Ende des Ganges, im ersten Geschoss, lag das Schlafzimmer von Marcus Eltern. Er hatte es seit ihrem Tod nie mehr betreten. In der Zwischenzeit musste der Staub schon zentimeterdick sein. Damit er oder sonstjemand nicht reinkonnte hatte er es sorgfältig verschlossen und den Schlüssel im Garten vergraben.

“Ihr habt die Auswahl. Sechs Zimmer stehen zur Verfügung. Mir ist es egal wo ihr schlaft. Da hinten ist das verschlossene Zimmer, das ich unten angesprochen hatte. Und in der anderen Richtung ist das Meinige. Den Rest könnt ihr unter euch aufteilen, wie ihr wollt. Von mir aus auch gemischt. Es gibt keine Buben – Mädchen getrennt Regel.”

Jeder suchte sich ein Zimmer aus und legte seine Reisetasche aufs Bett. Chris und Daniel nahmen sich das erstbeste, welches Gegenüber von Marcus Eltern war. Nebenan zog Alex ein. Gegenüber ließ sich Cynthia nieder. Nancy nahm das Zimmer neben der Küche.

Nachdem sich jeder ein Zimmer ausgesucht hatte, gingen sie zurück ins Erdgeschoss. Sie besuchten die riesige Bibliothek. - Chris und Daniels Augen weiteten sich, bei dem Anblick der vielen Bücher. In der Ecke stand ein giftgrüner, gemütlicher Ledersessel, worauf sich schon Chris lesen sah. Hier würden sie viel Zeit verbringen, dachte er sich.

Hinterm Haus war ein großer Garten. Das Gras war saftig grün. Mittendrin wuchsen ein paar Wildblumen. Auf der linken Seite war ein Gehege indem ein schwarzer Panther lebte. Auf der anderen Seite stand ein Windkraftwerk. Marcus´  neue Mitbewohner waren beeindruckt. Es wäre ihnen nicht im Traum eingefallen, einmal in so einem großen Haus zu leben.

“Das war´s. Das ist mein Anwesen. Gefällts euch?”

Sie waren so perplex, das sie nichts sagen konnten.

“Ach ja. Wenn ihr mal einen Computer braucht, der steht in meinem Arbeitszimmer. Das ist gleich neben meinem Schlafzimmer. Ihr könnt jeder Zeit ran, wenn ich ihn gerade nicht brauche und damit heiße ich euch alle herzlich Willkommen. Ich hoffe ihr vertragt euch alle. Noch fragen?”

„Wir brauchen wirklich keine Miete zahlen?“, fragte Nancy.

„Nein. Ihr braucht nur für eure Verpflegung zu sorgen und was ihr sonst noch so wollt.“

Marcus ging in sein Arbeitszimmer und ließ die anderen allein. Nach und nach trennten sie sich alle und richteten sich in ihren Zimmern ein. Chris stellte nur seine Tasche in den Schrank und verschob sein Bett. Er stand zwar Daniel sehr Nahe, aber nicht so Nahe, das er ein Bett mit ihm teilen würde. Sein Bett stellte er direkt neben die Türe, mit Blick zum Fenter raus. Daniel verschob seins zur Wand. Schräg gegenüber von Chris. Danach holten sie bei Marcus ihre Schlüssel und verließen das Anwesen.

“Welche Richtung?”, fragte Chris, als sie an der Toreinfahrt standen.

“Rechts, würde ich sagen.”

Wenige Minuten später sahen sie einen Supermarkt. Sie gingen näher heran, um die Öffnungszeiten zu lesen, und trotteten wieder zurück. Mehr wollten sie ersteinmal nicht. Nun wussten sie wo sie einkaufen konnten, wenn sie etwas benötigten. Auf dem Rückweg entdeckten sie dann noch eine Tankstelle, unnah vom Supermarkt entfernt.

Wieder zurück, gingen sie kurz in ihr Zimmer, holten sich je eine Flasche Bier und ihre Zigaretten, und gingen damit in die Bibliothek. Chris wurde es schwummrig im Kopf, als er die Bücherregale begutachtete. Er lief einmal rundrum, dann blieb er an einem Regal mit der Überschrift Horror/Thriller stehen. Schon hatte er endeckt, was er als erstes lesen würde: Stephen King ES. Den Film hatte er schon oft gesehen, aber das Buch hatte er bisher noch nicht gelesen. Er nahm es aus dem Regal und setzte sich in den Ledersessel. Daneben stand eine Nachttischlampe, die ein gelbgrünes, fast gespenstisches, Licht abgab und dennnoch so viel Licht spendete, das Chris problemlos lesen konnte.

Daniel konnte sich nicht entscheiden, was er lesen sollte. Schließlich schloss er die Augen und irrte durch den Raum, und tippte mit dem Finger auf irgendein Buch. Patrick Redmond: Das Wunschspiel. Davon hatte er schon einmal gehört. Er nahm das Buch in die Hand und las die Rückseite. Es klang gar nicht so übel. Sogar ganz interessant. Und Daniel bewegte sich Richtung Couch zu, die schräg gegenüber der Tür stand. Auch neben ihr war eine Nachttischlampe, die gespenstisch, gelbgrünes Licht von sich gab. Bevor er aber mit dem Lesen begann, stand er nochmals auf und schloss die Tür, um die Geräusche von außen abzuschirmen. Nun konnten sie in Ruhe lesen.

Die anderen drei hatten sich in der Küche bei einer Tasse Kaffee versammelt. Angeregt unterhielten sie sich über diverse Themen und lernten sich näher kennen. Auch Chris und Daniel waren kurz im Gespräch. Sie fragten sich wo sie sein könnten und ob sie nichts mit ihnen zu tun haben wollten, ob sie gar schwul wären, da sie so eng aufeinanderhingen.

“Vielleicht sind es ja Einzelgänger.”, bemerkte Nancy.

“Vielleicht. Aber vielleicht wollen sie auch erstmal unter sich sein. Auftauen. Kann doch sein das sie schüchtern sind und eine Weile brauchen, bis sie auftauen. Oder sie schauen sich die Gegend an. Sollten wir auch machen. Schließlich müssen wir noch Lebensmittel besorgen, wenn wir essen wollen.”, sagte Cynthia.

„Du hast wahrscheinlich recht. Wir können nach dem Kaffee mal nach ihnen schauen. Vielleicht waren sie wirklich draußen und haben einen Supermarkt entdeckt.“, antwortete Nancy.

Außer ein Rest Kaffee und ein paar Nudeln, Ketchup und ein paar Gewürzen war nichts weiter essbares in der Küche zu finden. Wenn sie heute was essen wollten, mussten sie heute noch einkaufen gehen. Nur wer ging freiwillig?

 

“Daniel?”, fragte Chris plötzlich und riss Daniel aus seiner Geschichte.

“Was ist?”

“Was hälst du von den anderen?”

“Kann ich dir nicht sagen. Ich kenn´ sie ja so gesehen noch nicht. Der erste Eindruck war positiv, aber das kann sich noch ändern. Wie gesagt, kann, muss aber nicht. Wieso fragst du?”

“Keine Ahnung. Ich wollt´s einfach nur wissen.”

“Was hälst du von denen?”

“Weiß nicht. Im Laufe meines kurzen, aber ereignisreichen Lebens, habe ich gelernt, mich nicht vom ersten Eindruck täuschen zu lassen. Irgendwann kam immer der Tag, an dem ich feststellen musste, das ich wieder einmal nur falsche Freunde hatte - bis auf ein paar wenigen Ausnahmen. Marcus scheint ein netter Typ zu sein. Ich frage mich, warum er fremde Leute bei sich einziehen lässt.”

“Gute Frage. Frag‘ ihn doch mal.”

“Ich bin nicht neugierig.”

“Wollen wir mal hochgucken? Ich bekomme  allmählich Hunger.”

“Okay. Glaubt du, das was zum Futtern da ist?”

 

“Da seid ihr ja.”, rief Nancy, “Wir haben uns schon gefragt wo ihr steckt.”

“Wir waren unten in der Bibliothek.”, sprach Daniel

“Ach so. Na dann setzt euch mal. Lesen macht bestimmt hungrig. Ihr könnt wählen zwischen Pasta und Nudeln.”, scherzte Nancy.

“Von beidem etwas, bitte.”, konterte Chris.

Marcus saß schon in der hintersten Ecke der Sitzbank. Vor ihm stand dampfend ein großer Teller und ein Glas Cola.

„Marcus? Wo ist eigentlich die nächste Gelegenheit zum Einkaufen?“, fragte Cynthia.

“Wenn du am Tor stehst, links. An der nächsten Ecke wieder links, dann wieder links. Danach rechts abbiegen, zehn Minuten laufen, oder am Tor gleich nach rechts laufen und an der kommenden Ecke wieder nach rechts. Das ist kürzer. Dann stehst vor einem großen Gebäude, auf dem steht in großen roten Lettern: Supermarkt. Öffnungszeiten Montag bis Freitag acht bis zwanzig Uhr. Samstag von acht bis achtzehn Uhr. In zwei Wochen hat er Samstags auch bis zwanzig Uhr auf. Auf dem Weg dahin ist auch eine Tankstelle. Ist ein wenig weiter und ein wenig teurer, aber dafür Tag und Nacht, vierundzwanzig Stunden offen.”

“Da versucht wohl jemand witzig zu sein.”, sagte Cynthia und blickte ihn ein wenig schräg an.

“Gay-nau.“

 

Nach dem Abendessen gingen Chris und Daniel wieder in die Bibliothek, um weiterzulesen. Doch sie wurden dabei von ihren Mitbewohnern unterbrochen. Chris fragte sich, warum sie ihn unbedingt stören mussten. Hatten sie nichts besseres zu tun?

“Was gibt‘s?”, fragte er.

“Nichts. Wir wollten nur mal Nachschauen, was ihr hier treibt.”, antwortete Nancy.

Chris hatte eine sarkastische Antwort parat, aber er schluckte sie lieber runter, da er sich nicht sicher war, ob sie es verstehen würden.

“Wollen wir nicht etwas gemeinsam tun?”, fragte Nancy.

Chris überlegte kurz, dann sagte er:

“Wir könnten uns hier in einen Kreis setzten und uns Geschichten erzählen. Wie die Pfadfinder abends am Lagerfeuer.”

Etwas besseres fiel ihm auf der Stelle nicht ein. Insgeheim hoffte er, das sie den Vorschlag ablehnen würden, aber...

“Ich gehe Marcus und eine Taschenlampe holen.”, rief Cynthia freudig.

“Ich setz mich schon mal hin und warte bis du wiederkommst.”, sagte Alex.

 

Sie saßen im Kreis, auf dem Boden der abgedunkelten Bibliothek. Chris hielt die Taschenlampe in der Hand und leuchtete sich ins Gesicht. Er dachte angestrengt darüber nach, was er erzählen könnte. Es musste eine grußlige Geschichte sein. Mit Zombies, Amokläufern, wiedererweckte Mumien oder ähnlichem. Ihm wollte aber partu nichts einfallen. Er dachte an die vielen Filme, die er gesehen hatte, aber auch das wollte nicht helfen. Schließlich leerte er seinen Kopf. Alle Gedanken, die darin kreisten, verdrängte er, bis nur noch Leere in seinem Hirn vorhanden war. Er konzentrierte sich auf die schaurigen Klänge im Hintergrund. Wo kamen die eigentlich her? War noch etwas hinter den Regalen? Plötzlich hörten die Geräusche auf. Chris schüttelte verwirrt den Kopf. Dann fing er an zu erzählen. Er erzählte über ein Dorf, das seit hunderten von Jahren von einem Tyrannen beherrscht wurde, der Vladimir Dracul ähnelte. Und sie endete damit, das ein ihm ebenwürdiger herbeikam, mit ihm kämpfte und mit ihm unterging.

Eine schaurige Geschichte, mit einem schönen Schluss. Hast du auch eine Liebesgeschichte auf Lager?“, fragte Cynthia.

„Wir haben eine Art Lagerfeuer hier. Das heißt, das wir uns ein wenig gruseln wollen. Schleimigen Liebesschnulz kannst du mit deinen Puppen spielen.“

Cynthia wollte etwas erwidern, aber stattdessen schaute sie ihn nur an und fragte sich, warum Chris so gemein zu ihr war. Es war nur so eine Idee von ihr gewesen. Konnte er sie nicht leiden? Wenn es so war, warum konnte er sie nicht ab? Was hatte sie an sich, das er so auf sie reagierte? Er übte schon vom ersten Augenblick an eine Fastination für sie aus, denn er war nicht so leicht durchschaubar, wie die anderen. ‚Aber ich durchschaue dich noch.’, dachte sie.

“Hat noch jemand was zu bieten oder wollt ihr schon aufhören?”, fragte Marcus nach.

“Chris hat so schön erzählt, da wäre es doch eine Schande, wenn wir ihn nicht noch einmal zu Worte kommen lassen, oder was sagt ihr?”, fragte Cynthia.

Sie nickten. Chris blickte Cynthia kurz verhasst an und dann beschämt nach unten.

“Los komm, Chris.”, sagten sie.

“Jo. Aber vorher brauch´ ich noch was, damit ich besser denken kann.”

“Und was wäre das?”, fragte Nancy.

“Ein Kippchen und ein Bierchen.”

“Kein Problem. Es ist alles da. Nur einen moment Geduld, bitte.”, antwortete Marcus und stand auf.

Wenige Minuten kam er mit einem halbvollem Kasten Sternburg Export Bier und einer Schachtel Tawa No 2 zurück.

“Aber geraucht wird draußen. Der Rauch zieht sonst in die Bücher und manche von den Büchern sind Antik.”

Sie verließen die Bibliothek und gingen in den Garten. Es war reichlich frisch geworden und auf ihrer Haut bildete sich eine leichte Gänsehaut. Sie saßen auf den Verandastufen und unterhielten sich. Cynthi hatte vor einem Jahr aufgehört zu rauchen und rauchte nur noch in bestimmten Situationen. Sie stand an der Tür und beobachtete Chris, der auf der untersten Stufe saß und träumerisch geradeaus blickte. Irgendetwas strahlte er aus, und machte Cynthia wuschig. Aber was war es? Er sah nicht sonderlich gut aus. Hatte weder Muskeln, noch war er sehr groß. Er war... durchschnittlich – interessant - sonderbar – einmalig - fastzinierend. Ein Typ, auf den sie flog.

Sie hatten aufgeraucht. Daniel riss Chris aus seinen Gedanken. Sie gingen wieder in die Bibliothek, schlossen die Tür und setzten sich wieder im Kreis.Cynthia hatte sich einen neuen Platz gesucht. Sie saß jetzt zwischen Marcus und Chris. Chris war es irgendwie unangenehm. Er hatte nichts gegen Cynthia, schließlich kannte er sie so gut wie gar nicht, aber aus irgendeinem, ihm unbekannten, Grund bereitete es ihm unbehagen, neben ihr zu sitzen. Daniel schien es zu bemerken und tauschte mit ihm schnell den Platz. Zwischen Nancy und Daniel zu sitzen war sehr viel angenehmer. Cynthia ärgerte es ein wenig.

Chris nahm die Taschenlampe wieder zur Hand und leuchtete sich ins Gesicht. Im Schein der Lampe sah man deutlich Schweißperlen auf seiner Stirn und Chris konnte sehen, wie Cynthia ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Seine Hände zitterten leicht.

Alle warteten gespannt, wann er nun endlich anfangen würde. Dann endlich machte er den Mund auf. Doch es wollte kein Ton herauskommen.

“Hier, Daniel. Mach´ du mal. Mir fällt nichts ein.”

Auch er dachte sich Geschichten aus, schrieb aber lieber Drehbücher. Und wie Chris, erging es auch ihm. Nichts wollte ihm einfallen. Es dauerte eine Weile, bis er ein paar Zeilen zu stande brachte und sie zum Besten gab. Blödsinn, konnte man nur dazu sagen. Aber besser, als gar nix.

 

Die drei Magier

 

Es war ein schöner Tag gewesen. Die Sonne schien. Der Angler angelte am Fluss. Der Jäger jagte im Wald. Der Bäcker backte leckere Kuchen. Die Vögel schauten dabei zu. Es war ein Tag des Glückes. Der Angler fing die dicksten Fische. Der Jäger erlegte reiche Beute. Der Bäcker backte so gut wie nie. Die Vögel schauten dabei zu. Es war ein Tag, wie im Märchen. Einfach herrlich. Das Unglück war weit weg. Auch der nächste Tag war vom Glück beseelt. Und der Tag danach und der Tag danach und... Ein ganzer Monat verging und kein einzigstes Missgeschick geschah. Doch dann kam alles anders. Es war, als hätten sie den Bundyfluch. Wenn ein Bundy Glück hatte und zugab, das er Glück hat, kam das Unglück mit doppelter Kraft auf sie zu. So ist es auch in meiner Geschichte. Der Angler wurde von einer Flutwelle ins Wasser gerissen und ertrank jämmerlich. Der Jäger fiel von seinem Hochsitz und wurde von Raubtieren gefressen. Der Bäcker rutschte in seiner Backstube aus, stolperte in den heißen Backofen, die Ofentür verriegelte hinter ihm und er verbrannte. Und die Vögel? Die schauten dabei zu. Als alle gestorben waren verwandelten sich die Vögel. Es gab einen lauten Knall und aus den Vögeln wurden Magier.

“Der Angler ist tot.”, sprach der Erste.

“Der Jäger ebenfalls.”, sagte der Zweite.

“Der Bäcker auch.”, erwähnte der Dritte

“Nun können sich wieder die Fische im Wasser ansiedeln.”, sprach der Erste.

“Im Wald können sich wieder die Tiere ansiedeln.”, sagte der Zweite.

“Die Leute brauchen nun nicht mehr überteuerte Preise für Backwaren zu bezahlen.”, erwähnte der Dritte.

“So kommt ihr mir nicht davon.”, rief jemand hinter ihnen.

Erschrocken drehten sie sich um und blickten ihren Meister ins Angesicht.

“Wessen Idee war es gewesen?”

Niemand getraute sich etwas zu sagen.

“Nun gut. Dann werdet ihr alle drei in der Hölle schmoren.”

So sprach er und schickte sie mit Schall und Rauch dahin. Die drei Toten erweckte er wieder zum Leben. Die seit dem nur noch so viele Fische angelten, wie sie zum Leben brauchten, nur noch so viele Tiere erlegten, wie sie zum Leben brauchten und nur noch so viel Geld verlangten, das sie gut leben konnten. Es war ihnen eine Lehre gewesen. Mit dem Glück würden sie von nun nicht mehr ungehalten handeln.

Die drei Magier kamen mit einer leichten Strafe davon. Einen Monat lang Kartoffeln schälen, spülen und putzen in der Hölle, da der Meister gesehen hatte, das die Geschichte irgendwie ein Gutes hatte.

 

“Tolle Geschichte. Hat mir prima gefallen. Spitzenmäßig. Lustig obendrein.”, sagte Chris.

“Lass dein Sarkasmus stecken. Er hat es versucht. Der Gedanke zählt.”, erwiderte Nancy.

“Naja. Ich sehe ein das sie schlecht war.”, sagte Daniel.

“Der Anfang war ja nicht so schlecht. Vorallem das mit den Vögeln. Aber sie wurde von Satz zu Satz schlechter. Lasst uns für heute Schluss machen. Es ist spät und ich bin müde.”, sprach Alex.

Sie stimmten Alex zu und gingen in ihre Zimmer. Chris lag noch lange wach und dachte an das unbehagliche Gefühl, das er in Cynthias Nähe immer hatte. Gegen zwei Uhr morgens schlief auch er endlich ein.

 

2

 

Sechs Uhr morgens schliefen sie alle noch tief und fest, bis auf einen. Chris wälzte sich seit einer geschlagenen Stunde im Bett und konnte nicht mehr schlafen. Missgelaunt stand er leise auf und schlich auf Samtpfoten in die Küche. Im moment wollte er nur seinen Kaffee, seine Zigaretten und seine Ruhe. Die ganze Nacht wurde er von Alpträumen geplagt und alle hatten mit Cynthia zu tun gehabt. Warum war ihm die Frau so unheimlich? Warum hatte er in ihrer Nähe ein ängstliches Gefühl? Wer oder was war die Frau? War es überhaupt eine Frau?

Er rauchte schnell auf, trank seinen Kaffee aus und ging in die Bibliothek. Bei einem Buch und ein paar Flaschen Bier wollte er auf andere Gedanken kommen. Als er unten ankam, musste er feststellen, das nur noch eine einzigste Flasche übrig war. Bis der Supermarkt öffnete, hatte er noch eineinhalb Stunden Zeit und die Tankstelle verlangte zu viel.

Auf dem kleinen Abstelltischchen neben dem giftgrünen Ledersessel, lag immernoch sein Buch. Er suchte eine angenehme Stellung im Sessel und las weiter. Seite für Seite. Immer tiefer versank er in die Geschichte. Er vergaß alles um sich herum und die Zeit verging wie im Flug.

Während Chris immer weiter las, erwachte langsam das Haus. Als Daniel Chris leeres Bett sah, wusste er sofort wo er ihn finden konnte. Entweder im Supermarkt oder unten in der Bibliothek. Er nahm sich vor, sofort die Suche nach ihm aufzunehmen. Aber zu vorderst wollte er sich frisch machen und Kaffee trinken. Auch er hatte nicht besonders gut schlafen können. Zum einen war es die erste Nacht in dem großen, ihm noch fremden, Haus gewesen, und zweitens weckte ihn ständig Chris Herumwälzen im Bett. 

Nachdem er seinen Kaffee getrunken und dazu eine Zigarette geraucht hatte, schlenderte er gemächlich in die Bibliothek. Als er dort ankam, sah er Chris vertieft im Buch. Er blickte ihn ein paar Sekunden lang an, dann legte er sich auf das Sofa und las sein Buch weiter. Minuten vergingen, ohne das einer von ihnen ein Wort sagte. Plötzlich schreckte Chris von seinem Buch hoch und schaute sich verwirrt um. Da bemerkte er, das Daniel in der zwischenzeit gekommen war.

“Seit wann bist du denn hier?”, fragte er.

“10 Minuten., würde ich mal sagen.Was war denn letzte Nacht mit dir los? Hast dich die ganze Zeit nur von einer auf die andre Seite gewälzt.”

“Ich konnte nicht schlafen. Und wenn ich mal eingeschlafen bin, hatte ich Alpträume.”

“Wollen wir ein paar Bier fürs Wochenende holen gehen?”

“Gute Idee. Zigaretten brauche ich auch. Meine Schachtel ist so gut wie alle.”

Sie legten ihre Bücher zur Seite und gingen auf ihre Zimmer, um ihre Jacken und Rucksäcke zu holen. Als sie an der Küche vorbeigingen, hielt sie Nancy an.

“Na ihr? Wir wollten ma´ nachfragen, ob ihr euch an den Lebensmitteln beteiligt. Alex und ich wollen nachher für alle einkaufen gehen.”

“Reichen zwanzig?”

“Glaub´ schon. Wenn´s mehr werden sollte, sag´ ich euch bescheid. Sollte was übrig bleiben, tun wir´s in ein Sammelglas, wenn ihr nichts dagegen habt. Dachten, das wir dann irgendwann zusammen was untenehmen könnten.”

„Oh ja. Demnächst tritt Pittiplatsch auf der Parkbühne auf. Schnatterinchen und Moppi kommen auch.“

„Du bist so witzig. Solltest Komiker werden.“

“Jo. Also bis später.”

Chris war auf eine Art unausstehlich, dachte sie sich, als sie den Beiden noch ein weilchen nachschaute, aber andererseits war er sehr komisch. Man konnte ihm, für seine Sprüche, nicht böse sein. Ein knackigen Hintern hat er, aber Daniel seiner ist auch nicht ohne. Obendrein sieht Daniel auch irgendwie süß aus. Wenn er den widerlichen leck mich am Arsch Zug nicht an sich hätte, könnte Daniel glatt mein Traumtyp werden.

Sie musste über sich selbst lachen. Es dauerte eine Weile bis sie sich wieder halbwegs gefangen hatte. Dann ging sie auf ihr Zimmer und machte sich bereit zum Einkaufen. Es war ihr unangenehm mit soviel Geld in der Tasche auf die Straße zu gehen, vorallem weil es nicht ihr eigenes Geld war. Fünfzig Euro hatte Marcus dazu gegeben, je zwanzig Chris und Daniel, Cynthia dreißig und sie selbst hatte noch sechzig einstecken. Insgesamt machte das einhundertachtzig Euro. Viel Geld. Hoffentlich wechselt es nicht zu einem falschen Besitzer.

Bevor sie losgehen konnte, musste sie erst noch aufschreiben, das Chris und Daniel ihr je zwanzig Euro gegeben haben und Schminken musste sie sich auch noch. Als sie endlich gehen konnte, kamen Chris und Daniel von ihrem privaten Einkauf zurück. Sie sahen sich, nickten einander zu und gingen jeder ihre Wege.

“Typisch Frauenzimmer. Eher die mal so fertsch wer´n.”, meinte Chris spöttisch und Daniel musste dabei grinsen.

Nur kurz waren sie in ihr Zimmer gegangen, um ihre Taschen abzustellen. Dann waren sie schon wieder auf dem Weg in die Bibliothek. Jeder mit zwei Flaschen Bier und einer Schachtel Zigaretten in Händen.

Zwei Stunden später wurden sie zum Mittagessen gerufen. Eigentlich hatten sie keinen rechten Appetit und auch keine Lust aufzustehen, aber der Duft des Mittagessens zog bis runter und roch hervorragend. Wundervoll. Appetitanregend. Chris und Daniel überwindeten sich dazu aus ihrer gemütlichen Lage zu kommen und in die Küche hochzugehen.

“Euch gibts also auch noch?”, stichelte Alex.

“Jo.”, antwortete Chris.

“Was findet ihr an der Bibliothek nur so interessant? Da stehen doch nur alte verstaubte Bücher. Nichts interessantes.”

“Die Bücher sind interessant. Man kommt auf andere Gedanken. Lenkt von dem Elend ab, was man Leben nennt. Außerdem entspannt lesen.”

“Ich konnte damit nie viel anfangen. Aber wen´s Spaß macht. Dafür mag ich andere Dinge. Na, Nanc´, wie wär´s mit uns Zwei? Einmal ist keinmal.”

“Ich steh´ drauf, wie du mich anmachst. Das macht mich total scharf.”

“Rrrrr!”

“Spar dir die Energie. Die brauchst du um aufzutischen und hinterher aufzuwaschen.”, sagte Nancy beiläufig.

“Früher waren die Frauen irgendwie einfacher.”

„Wir haben uns weiterentwickelt, im gegensatz zu euch.“

Alex deckte schnell den Tisch. Die anderen setzten sich und warteten bis alle am Tisch saßen. Chris saß in der Ecke und bemerkte, das sein Magen knurrte. Seit gestern Abend hatte er nichts mehr gegessen. Es gab eines seiner Lieblingsgerichte. Hackbraten. Er konnte es gar nicht abwarten seine Zähne darein zu beißen. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Wie lange hatte er schon keinen mehr gegessen? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Seine Eltern hatten meist nur das gekocht, was sie mochten. Sie hatten ihn nie gefragt, was er haben möchte. Meistens aßen sie, was er nicht ausstehen konnte, wie Flecke. Ihm hob es fast den Magen, als er daran dachte. Zum Glück musste er sich so was nicht mehr antun. Er war hier. Umgeben von Leuten die er bisher mochte. Denn sie schienen ihn zu akzeptierten so wie er war. Jedenfalls hatte er das Gefühl. Natürlich kannte er sie noch nicht lang genug, um das zu beurteilen, aber er glaubte fest daran, das zwischen ihnen eine echte Freundschaft entstehen wird.

Endlich saßen alle am Tisch. Nun konnte er nach langer Zeit wieder Hackbraten essen. Und er genoss es. Stück für Stück ließ er in seinen Mund gleiten und kaute es langsam und genüsslich durch. Seine Geschmacksknospen machten Freudensprünge. Er wünschte sich, das es ab sofort jeden Tag dieses leckere Essen gab. Besser gesagt öfters, denn wenn es das jeden Tag gebe, würde es ihm bald zu den Ohren wieder herauskommen.

Chris fühlte sich total matt. Sein Bauch war voll bis oben hin. Nicht einmal eine Zigarette konnte er jetzt rauchen. Er legte sich nach hinten, streckte die Beine aus und schloss die Augen. Dann, ohne Voranmeldung, musste er rülpsen. Lang und laut. Danach fühlte er sich besser. Das bedrückende Gefühl im Magen war nicht mehr so stark.

“Tut mir sorry.”, sagte er beschämt.

“Mach dir nichts drauß. Man merkt eben, das es dir geschmeckt hat.”, antwortete Nancy lächelnd.

“Das hat´s. Das war das beste, was ich jemals hatte. Eine Empfehlung an den Meisterkoch.”

“Das haben ich und Nancy gezaubert.”, sagte Cynthia.

“Empfehlung an euch beide.”

“Wir danken für das Kompliment.”

Daniel und Chris standen auf, um weiter zu lesen. Vorallem Daniel wollte es, da er an einer Spannenden Stelle unterbrochen wurde. Zuerst war er ein wenig sauer deshalb, aber nach dem Menü, war alles wieder verflogen. Auch er gratulierte den beiden Mädels für das gelungene Mahl und hätte Nancy beinahe auf die Wange geküsst.

“Bevor ihr beiden wieder verschwindet. Wollen wir heute Abend wieder Geschichten erzählen?”, fragte Cynthia.

Sie schaute sich in der Runde um und fand nur Zustimmungen. Damit war die Sache beschlossen.

Chris entschloss sich nicht in die Bibliothek zu gehen, sondern auf sein Zimmer, um sich ein paar Geschichten auszudenken, die er am Abend vorlesen konnte. So hatte er genügend Zeit sich Geschichten auszudenken und Fehler in Inhalt und Ausdruck gleich zu vermeiden. Er hatte noch keine Ahnung was er schreiben sollte, aber ihm würde schon was einfallen. Chris brauchte eigentlich nur ein Thema, das würde ihm schon helfen, deshalb ging er zurück in die Küche.

“Was wollt ihr heute Abend hören?”, fragte er.

“Ist uns egal.”, antwortete Alex.

Damit war Chris auch nicht weitergeholfen. Er ging in sein Zimmer, holte Stft und Papier heraus und dachte nach. Er wollte diesmal nicht unten sitzen und stundenlang warten, bis ihm endlich etwas gescheites einfiel – wenn ihm etwas gescheites einfallen sollte. Bevor er anfing, öffnete er das Fenster und baute sich ein behelfsmäßigen Aschenbecher. Er hatte einmal gehört, das Nicotin im Grunde gut für´s Gehirn sei. Ob es stimmte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er glaubte daran. Das die anderen tausend Stoffe eher schädlich für den menschlichen Körper waren, ging ihm ihm sonstwo vorbei. Seine Eltern rauchten schon seit Jahren und soffen noch dazu und bisher waren sie immer Kerngesund gewesen. Er kannte andere Elternpaare, die nicht rauchten und nur selten ein wenig Alkohol tranken und die waren des öfteren krank. Entweder waren sie im Allgemeinen anfällig für Krankheiten, oder die Ärzte lügten. Ihm persönlich war es egal. Seit dem er angefangen hatte mit rauchen und regelmäßig Alkohol zu sich nahm, war er eigentlich nie krank geworden. Alkohol konserviert und Räucherware hält sich länger. Es ist schon was wares dran, an dem Spruch.

Lange saß er da und überlegte. Dann fing er an zu schreiben. Was daraus werden würde, wusste er selber noch nicht. Sein Stift gleitete einfach über das Papier. Buchstabe fügte sich an Buchstabe und Wort an Wort. Als er  fertig war, legte er die Blätter zur Seite und dachte sich etwas Neues aus. Er brauchte nicht lange und die nächste Geschichte konnte zu Papier gebracht werden. Dann legte er den Stift weg und ging zu Daniel in die Bibliothek. Für heute sollte es ersteinmal genügen. Vielleicht würde er zu späterer Stunde noch etwas schreiben, aber im Moment hatte er keine Lust dazu.

“Und? Was geschrieben?”, fragte Daniel, als er Chris kommen sah.

“Jepp. Zwei Geschichten. Ist zwar eher was für Kinder, aber ich habe etwas für heute Abend. - Irgendwann werde ich es am Rechner abschreiben und wirklich an einen Verlag schicken. Vielleicht mache ich ja doch eine Karriere als Schriftsteller. Wer weiß das schon.”

Chris setzte sich und las sein Buch weiter. Nur noch etwas über siebenhundertdreißig Seiten und er war durch damit, dachte er sich.

Kaum war er auf der letzten Seite des Kapitels angelangt, rief Cynthia nach ihnen. Das Abendessen war schon wieder fertig. Schnell las er noch die letzten Zeilen zu ende. Dann legte er das Buch zur Seite und ging mit Daniel hinter Cynthia her. Er verspürte zwar keinen Hunger, aber bevor ihn irgendjemand auf die Nerven ging, lief er lieber freiwillig mit.

 

“Da wären wir wieder.”, sprach Marcus.

Sie saßen in einem Kreis. In der Mitte des Kreises flackerte eine Kerze, dieMarcus zufällig in einer verstaubten Ecke gefunden hatte. Chris hatte sich zuvor noch ein wenig vorbereitet, damit er die Geschichte nicht einfach nur vorlesen, sondern richtig erzählen konnte. 

Alle warteten gespannt darauf, das Chris anfing. Besonders Cynthia. Sie schaute ihn von der Seite her an. Chris bemerkte ihren durchdringenden Blick. Sein Mund fühlte sich an, als hätte sie sich in eine Wüste verwandelt. Es dauerte einige Augenblicke, dann hatte er sich wieder gefasst und er konnte beginnen

Ratti

 

John saß am Fenster und blickte auf die Straße. Es war Dezember. Kurz vor Weihnachten. Die Straßen waren hauchdünn vom Schnee bedeckt. Ein paar Leute kauften noch schnell Geschenke für ihre Liebenden zu Hause. Im Zimmer war es dunkel. Außer einem alten Stuhl, auf dem er gerade saß, war die Wohnung komplett leergeräumt. Der Vermieter hatte seine wenigen Habseligkeiten genommen und mit der Miete verrechnet. John hatte nur noch zwei Tage, dann würde er ganz vor die Tür gesetzt werden. Vor über drei Monaten hatte er die letzte Rechnung bezahlt. Ihm hingen die Schuldner im Nacken und er konnte nichts dagegen unternehmen. Er hatte kein Job, kein Geld und absolut keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.

Er zündete sich eine Zigarette an, die er vor dem Haus gefunden hatte. Im Zimmer war es kalt, da die Heizung abgeschalten war. Durch das geschlossene Fenster pfiff der Wind eisig durch Johns löchrigen Mantel. Eine Ratte kam aus ihrem Unterschlupf auf ihn zu. Sie stellte sich auf die Hinterbeine und reckte ihre Vorderpfoten nach oben. Es sah aus, als bettelte sie. John beugte sich nach unten und streichelte ihren Rücken. Als die Ratte sah, das er nichts zu fressen für sie hatte, wollte sie wieder verschwinden, aber John hob sie hoch und drückte sie ein wenig an sich. Die Ratte genoss anscheinend seine körperliche Wärme, denn sie schmiegte sich an ihm.

„Du hast wohl auch Hunger, nicht wahr? Leider habe ich nichts für dich. Seit dem meine Frau mich verlassen hatte, hat mich auch mein Glück verlassen. Sieh mich an. Früher hatte ich keine Sorgen. Hatte genug Geld um nicht Hungern zu müssen, ein Haus, indem es immer angenehm warm war, eine Frau die ich über alles liebte und zwei wunderbare Kinder. Doch eines Tages verließ mich meine Frau. Sie bekam alles. Das Haus, die Kinder und mein kleines Vermögen. Nun sitze ich hier. Friere. Habe Hunger. Und morgen ist Weihnachten. Warum hat das Glück mich nur verlassen?“

John drückte seine Zigarette aus. Er war froh darüber, das er keine mehr hatte. Rauchen war teuer, schlecht für die Gesundheit und überhaupt eine schlechte Angewohnheit. Damals hatte er nur angefangen, um dazu zu gehören. Man konnte es Massendrang nennen. Es war ihm egal gewesen, das Rauchen ziemlich schnell abhängig machte, Lungenkrebs verursachte, Raucherbeine und solche Sachen. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht. Er wollte nur dazu gehören. Wenn man jung ist, macht man sich sowieso kaum Gedanken über die Folgen.

John stand träge auf – die Ratte lag auf seiner Schulter und schien zu schlafen. Langsam ging er aus der Tür raus, die Treppe runter und in die winterliche Nacht hinaus. Der Wind blies ihm eisig ins Gesicht und er zog seinen Mantel fester um sich. Er wusste nicht wohin er ging. Warum er nach draußen ging. In seiner Wohnung war es schon eisig, aber hier draußen war es klirrend. Er kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen, um sich vor den Schneeflocken zu schützen. Nur ganz allmählich kam er vorwärts und merkte nicht, das es plötzlich wärmer wurde. Es wurde ihm erst bewusst, als die Ratte von seiner Schulter sprang und sich vor seinen Augen zu einer wunderschönen Prinzessin verwandelte. Seine Augen weiteten sich. Seine Mund öffnete und schloss sich. Er glaubte zu träumen. Vor wenigen Minuten hatte er noch eine schäbige, hungrige Ratte auf seinen Schultern getragen und nun stand eine wunderschöne Frau vor ihm und lächelte ihn freundlich an.

„Da sind wir. In meiner Welt.“, sagte sie und ihre Stimme klang engelsgleich.

„Wo sind wir?“, stotterte er.

Sie antwortete nicht. Stattdessen nahm sie seine Hand und führte ihn in ihrem prächtigen Palast. Die Wachen vor den Toren verneigten sich, als sie an ihnen vorbeilief. Ein Dienstmädchen streute Rosenblätter vor ihre Füße. Als sie in den Palast eintraten, sprang ihnen ein Hofnarr entgegen und verneigte sich. Auch die anderen verbeugten sich, als sie ihre Königin sahen.

„Wer bist du und wo sind wir?“

„Ich bin Königin Rosalinde.“

John hatte große Mühe sich das Lachen zu verkneifen. Rosalinde. Der Name war ungewöhnlich und lustig zugleich.

„Wir sind in meinem Reich, welches bisher noch nie ein Mensch zu sehen bekommen hat. Du bist der erste, der es betritt. Ich beobachtete dich schon, als du noch ein kleiner Junge warst und ich eine kleine Elfe. Vom ersten Augenblick an habe ich dich in mein Herz geschlossen. Damals war es mir vergönnt dich persönlich zu sehen, da meine Eltern es mir verboten hatten eure Welt zu betreten. Nur durch diese Zauberkugel konnte ich dich sehen und meine Sehnsucht nach dir ein wenig lindern. Erst nachdem meine geliebten Elter durch einen tragischen Unfall ums Leben kamen, konnte ich zu dir. Doch hatte ich nie den Mut gefunden dir entgegenzutreten und dir meine Gefühle für dich zu offenbaren. Bis zu diesem Tag. Ohne das du es gemerkt hast, bin ich in dein Unterbewusstsein eingedrungen und habe dich hierher geführt. Nun frage ich dich: Möchtest du an meiner Seite dieses Land regieren? Ãœberlege es dir gut, denn es gibt danach kein zurück mehr.“

John wusste nicht was er sagen sollte. Sein Mund war ausgetrocknet und ihm blieb die Sprache weg. Er konnte nur nicken.

„Soll das bedeuten, das du mein Gemahl werden möchtest und für immer hier bleibst?“

„Ja das soll es bedeuten.“, antwortete er

Noch am selben Tag wurde eine prächtige Hochzeit gefeiert. John war überglücklich. Er wollte nur ein wenig haben und bekam mehr als genug. In seiner Welt hatte er nichts und war er ein Nichts. Aber hier war er reich, hatte eine wunderschöne Frau und er war ein König.”

 

“Wunderschön.”, schwärmte Nancy.

“Traumhaft.”, echote Cynthia.

“Weiber.”, ächzte Alex

“Hast du noch so eine schöne Geschichte auf Lager?”, fragte Nancy und tat so, als hätte sie Alex nicht gehört.

“Nich´ wirklich. Die nächste ist eher heiter.”

“Erzähl!”, befahl Alex.

 

Am Tag danach

 

Martin war gestern sechs Jahre alt geworden. Viele Geschenke hatte er bekommen. Einen neuen Gameboy, eine CD mit seinen Lieblingsliedern, Anziehsachen und vieles mehr. Das hatte ihm gefallen. Auch das er seine ganzen Freunde einladen durfte. Was ihm wieder einmal gestört hatte, war, das die Erwachsenen, nachdem die Kinder nach Hause gegangen waren und er im Bett lag, lautstark weitergefeiert hatten. Er hörte noch, wie seine Tante seinen Vater angeschrienen hatte, das er ein unfähiger Vater sei. Später hörte er ein Klirren und Poltern. Er hatte lange gebraucht, um einschlafen zu können, weil die Erwachsenen so einen Krach gemacht hatten. Nun war es acht Uhr morgens und seine Eltern schliefen noch tief und fest. Er kam ins Wohnzimmer und sah zerbrochene Gläser und umgefallene, zum Teil beschädigte, Stühle. Auf dem Tisch standen noch die Rester vom Vorabend. Ohne darüber nachzudenken nahm er sich ein Glas und trank es aus. Das schmeckte ihm so gut, das er noch eines nahm und dann noch eines. Martin wunderte sich auf einmal, das er nicht mehr gerade stehen konnte. Ihm war übel und in seinem Kopf fuhr jemand Karussell. Dann passierte es. Er übergab sich auf dem Teppichboden. Erschrocken stand er da. Angst überfiel ihn. Was sollte er nun tun? Wenn seine Eltern das sahen, dann...  Da kam ihm der Gedanke, einfach wieder ins Bett zu gehen und so zu tun, als ob er schliefe. Er dachte daran, das seine Eltern schon häufig vergessen hatten, was am Vorabend geschehen war. Es musste an dem Zeug liegen, was die Erwachsenen Alkohol nannten.

Martin ging wieder in sein Zimmer und legte sich ins Bett. Ehe er es sich versah, war er auch schon eingeschlafen. Erst als er seine Mutter schreien gehört hatte, wachte er wieder auf. Ängstlich lag er unter seiner Bettdecke. Hoffentlich bemerkte sie nicht, das er es war, der auf den Teppich gebrochen hatte. Zwar hatte er jetzt Angst aufzustehen, aber andererseits war er doch neugierig und wollte wissen, wen sie verdächtigte. Er stand zwischen Flur und Wohnzimmer, als er seine Mutter auf einen Bein stehend sah, während sein Vater ihren Fuß abwischte.

„Wenn ich nur wüsste wer das Schwein war, der auf meinen Teppich gemacht hat. Ihm drehe ich den Hals um.“, schrie seine Mutter.

Martin stand erschrocken da. Gleich würde sie sich umdrehen und ihn verdächtigen.

„Ich glaube ja, das es deine Schwester war. So wie die gesoffen hatte.“, antwortete sein Vater.

„Wie wäre es mit deiner Mutter?“, erwiderte Martins Mutter.

„Lass uns nicht streiten. Wir wissen beide nicht wer es war. Am besten vergessen wir die ganze Angelegenheit. Wir räumen jetzt gemeinsam auf, dann gehen wir gemeinsam Mittagessen. Ich lade euch alle beide ein.“

„Ich mache uns Kaffee und für Martin mache ich Frühstück. Er hat bestimmt schon großen Hunger.“

Puh. Sie hatten ihn nicht in Verdacht. Seine Mutter nahm ihn hoch und drückte ihn fest an sich.

„Ich weiß nicht recht, aber irgendwie riechst du eigenartig. So als...“

Ohoh. 

 

“Die fand ich besser, als die erste. Kurz, aber gut.”, meinte Alex.

“Die erste war schöner, aber nicht so lustig.”, erwiderte Nancy.

“Kriegen wir noch was zu hören?”, fragte Marcus und alle blickten gespannt zu Chris, der überlegte.

“Mmhh. Mal überlegen. - Ich glaube, eine habe ich noch. Ist schon lange her, als ich sie aufgeschrieben hatte. Mal sehen, ob ich sie noch zusammenkriege.

„Hoffentlich ist sie, wie deine zweite. Schön lustig.“, sagte Alex.

 

Ferdinand, der Träumer

 

Die Schulglocke läutete. Die Türen öffneten sich und die Schüler der 4a strömten hinaus, direkt auf das Fußballfeld zu. Es war Sommer. Nur noch eine Woche bis zu den Ferien. Ferdinand war wieder mal der letzte, der aus der Schule kam. Gemütlich schlenderte er aus dem Gebäude und träumte vor sich hin. Ging zum Spielfeld und setzte sich auf eine Bank. Die anderen waren damit beschäftigt zwei Mannschaften zu wählen.

Jacob und Barny waren die Mannschaftskapitäne. Sorgfältig wählten sie ihre Mitspieler aus. Henry, Joseph, Egon, Sabine und Karin spielten in Jacobs Mannschaft mit. Jochen, Calvin, Steffen, Sven und Marianne bei Barny.

„Hey! Ferdi.“, rief Jacob, “Wir brauchen noch einen Schiedsrichter.“

Ferdinand reagierte nicht. Er saß auf der Bank und träumte vor sich hin. Um ihn herum gab es nichts. Er sah nichts und er hörte nichts. Jacob rannte zu ihm und weckte ihn aus seinen Tagtraum.

„Hey, Ferdi. Hörst du mich? Wir brauchen noch einen Schiedsrichter. Würdest du ihn machen?“

Schwerfällig stand er auf und lief hinter Jacob her. Nun konnte das Spiel beginnen. Sabine und Marianne standen jeweils im Tor. Der Rest verteilte sich auf dem Spielfeld. Ferdinand warf eine Münze in die Luft. Sie flog weit nach oben, kam wieder runter und landete im Gras.

„Wappen.“, sagte er, „Barnys Mannschaft hat Anstoß.“

Jeder ging auf seinen Platz. Pfiff. Und los gings. Ferdinand stellte sich weit weg, damit er keinem im Wege stand. Einige Sekunden lang verfolgte er das Spiel aufmerksam, aber schon kurz danach träumte er wieder vor sich hin.

„Faul! Faul!“, schrie Henry.

„Gar nicht wahr. Sonst hätte Ferdi gepfiffen.“, entgegnete Steffen

„Ferdi! Ferdi!“, brüllte Henry, doch er hörte ihn nicht. Da kam Herr Stiller vorbei. Er hatte eine Freistunde und wusste mit seiner Zeit nichts anzufangen, deshalb spazierte er im Schulhof herum. Als die Kinder ihn sahen, riefen sie ihn gleich nach ihm. Herr Stiller blickte auf und folgte dem Rufen.

„Was gibt’s denn?“, fragte er.

„Wir brauchen einen neuen Schiedsrichter. Ferdinand passt nicht auf. Er steht nur da und träumt vor sich hin.“

„Na ja, dann gebt mir mal die Pfeife.“

„Prima!“, riefen sie im Chor.

Sie spielten weiter. Ferdinand nahm seinen Rucksack und trottete davon. Er war ganz froh darüber, das sie einen Ersatz für ihn gefunden hatten, denn er mochte jetzt lieber einen gemütlichen Spaziergang machen. Als er am Schultor angelangt war, begann er seine Schritte zu zählen. Eins, zwei, drei, ..., einhundertachtundneunzig, einhundertneunun... Da war es passiert. Die Straße war zu Ende und er war gegen eine Mauer gelaufen. Seine Nase blutete sofort. Ihm wurde schwindlig. Um ihn herum wurde es dunkel und er fiel um. Als er wieder aufwachte, sah er die Abendröte. Sie gefiel ihm so gut, das er, anstatt aufzustehen, lieber auf dem Boden liegen blieb.

Die Abendröte durchströmte ihn mit einer Ruhe. Ferdinand schloss seine Augen und schlief kurz danach wieder ein.

 

Es war schon nach zehn Uhr abends. Seine Eltern machten sich zu Hause Sorgen um ihn. Sie hatten in der Zwischenzeit schon bei jeden angerufen und nachgefragt, ob Ferdinand bei ihnen war, oder ihn gar gesehen hätten. Keiner konnte ihnen Auskunft erteilen. Kurzentschlossen nahm der Vater die Autoschlüssel vom Haken und fuhr jeden nur möglichen Weg ab, den Ferdinand gegangen sein könnte. Als er die Hoffnung schon aufgeben wollte ihn doch noch zu finden, sah er ihn am Boden vor der Mauer liegen. Erschrocken schnallte er sich ab und rannte zu ihm.

„Ferdinand. Ferdinand.“, rief er und schlug ihn sanft auf seine Wangen.

„Nur noch fünf Minuten.“, murmelte Ferdinand und versuchte sich auf eine Seite zu drehen. Erleichtert hob er Ferdinand auf und trug ihn vorsichtig ins Auto. Als er wieder vorm Lenkrad saß und das Auto starten wollte, musste er plötzlich lachen.

‚Wir machen uns Sorgen und er liegt hier gemütlich auf der Straße und schläft seelenruhig.’, dachte sich sein Vater. Es dauerte eine Weile bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Als er sich sicher war, das der Anfall vorbei war, startete er seinen Wagen und fuhr, mit Ferdinand auf der Rückbank liegend und schlafend, nach Hause. Behutsam trug er ihn dann in sein Bett, zog ihm die Schuhe aus und deckte ihn zu. Die Mutter kam ins Zimmer und fragte den Vater, wo er die ganze Zeit über gesteckt hatte und warum seine Nase geblutet hatte. Der Vater nahm sie an die Hand und schlich mit ihr aus Ferdinands Zimmer.

„Ich weiß nicht woher er seine blutende Nase her hat. Aber ich denke, das er wieder mal geträumt hatte und dann gegen die Mauer gelaufen war. Dadurch bekam er Nasenbluten – und du weißt ja, das Ferdinand immer in Ohnmacht fällt, wenn er Blut sieht. Als ich ihn gesehen hatte, lag er auf der Straße. Zuerst war ich in Panik, aber als ich ihn tätschelte und er zu mir sagte ‚nur noch fünf Minuten’, da wusste ich das er nur schlief und es ihm gut geht. – Es ist schon spät. Lass uns auch zu Bett gehen.“

„Du hast recht. Und du bist sicher, das es Ferdinand gut geht?“

„Aber ja doch.“

Ferdinand schlief seelenruhig weiter. Er hatte nicht bemerkt, wie sein Vater ihn nach Hause gebracht und ihn in sein Bett gelegt hatte. Ein Lächeln war auf seinem Gesicht zu sehen. Im Traum lief er durch einen Wald. Die Vögel zwitscherten und manchmal kam einer auf ihn zugeflogen und ruhte sich auf seiner Schulter aus. Auf einen hohen Baum hatte er ein Baumhaus. Er stieg hinauf und blickte, durch ein großes Loch in der Wand, nach draußen. Er sah, wie ein Reh sein Junges säugte, ein Fuchs versuchte einen Feldhasen zu fangen, wie sich ein Paar Echsen in der Sonne wärmten. Plötzlich hörte er ein Ohrenbetäubenden Knall. Ein Jäger hatte gerade ein Wildschwein erlegt und sein Hund lief zu der Beute. Ferdinand tat das arme Tier leid. Als der Jäger das erlegte Tier erreichte, drang ein seltsames Geräusch an Ferdinands Ohren. Er kannte es, wusste es aber nicht zu deuten. Jemand schüttelte ihn von hinten, aber er konnte niemanden sehen.

„Ferdinand, zeit zum aufstehen.“

Er öffnete langsam seine Augen und schaute in das Gesicht seines Vaters. Nun wurde ihm langsam bewusst, das er geträumt hatte. Die Geräusche waren ein umgefallener Stuhl und sein Wecker. Geschüttelt hatte ihn sein Vater.

„Na du Langschläfer. Bist du endlich wach? Du musst in die Schule. Frühstück steht schon auf dem Tisch.“

Total verschlafen stand Ferdinand auf, zog sich an und schlurfte in die Küche. Er ließ seinen Kopf auf den Küchentisch fallen und schlief weiter.

„Wie kann man nur so viel schlafen.“, fragte sein Vater und rüttelte ihn wach.

Sein Vater schenkte sich Kaffee ein und nach kurzem überlegen, gab er auch seinem Sohn Kaffee.

„Der wird dich wachmachen, mein Sohn.“, sagte er.

Ferdinand nahm einen Schluck und schüttelte sich.

„Ist das bitter.“

„Siehst aber schon wacher aus.“

Ferdinand setzte die Tasse an und trank den Rest in einem Zug. Er fühlte sich tatsächlich wacher. Schnell verschlang er sein Frühstück und packte seinen Rucksack. Danach verschwand er kurz im Bad und schon war er auf dem Weg zur Schule.

Seine Lehrer und Mitschüler waren erstaunt. So munter hatten sie ihn noch nie erlebt. Es war das erste Mal, das Ferdinand nicht im Unterricht träumte. Dafür war er zappelig, was die anderen ein wenig nervös machte. Die ganze Zeit über fuchtelte er mit seinen Fingern rum und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Der Lehrer blickte automatisch immer zu Ferdinand und wurde selbst ganz unruhig. Ihm war es dann doch lieber, wenn Ferdinand vor sich her träumte. Als er es nicht mehr aushielt, beendete er den Unterricht vorzeitig. Als Grund gab er an, das bald Ferien sind und er ihnen damit eine Freude machen möchte.

In der letzten Stunde, diesen Tages, erfuhr Ferdinand, das schon seit über einen Monat ein Schreibwettbewerb lief und der letzte Abgabetermin in zwei Tagen war. Er musste wohl mal wieder geträumt haben, als das angekündigt wurde. Aber jetzt, wo er das erfuhr, wollte er unbedingt mitmachen. Er träumte den ganzen Tag und die ganze Nacht. Es würde sich ja einer finden lassen, der zum Aufschreiben geeignet ist.

Als er zu Hause war, setzte er sich sofort an seinen Schreibtisch und erledigte zuerst seine Hausaufgaben. Danach nahm er sich ein Blatt Papier und einen Füller zur Hand und dachte nach. Schon nach wenigen Minuten sank sein Kopf auf die Schreibtischplatte. Als er wieder aufwachte, schrieb er nieder, was er soeben geträumt hatte und gab es am nächsten Tag bei seinem Lehrer ab. Er glaubte nicht das er unter den drei ersten Plätzen sein wird, aber unter den ersten zehn. Ihm reichte es schon, wenn er in der guten mittleren Hälfte vorkommen würde.

Am darauffolgenden Tag hatte er schon völlig vergessen, das er am Schreibwettbewerb teilgenommen hatte. Das es diesen Wettbewerb überhaupt gab. Er saß auf seinem Stuhl, in der hintersten Ecke am Fenster und träumte vor sich hin. Die Lehrer fragten sich, wie es kommt, das Ferdinand den ganzen Tag am Träumen ist. Es gab viele Spekulationen, aber keine, die auch nur annähernd logisch war. Sie hatten schon einmal seine Eltern zum Gespräch eingeladen, aber sie konnten ihnen auch nicht weiterhelfen. Ferdinand war ihnen allen ein Rätsel.

 

In der darauffolgenden Woche gaben die Deutschlehrer die Gewinner des Schreibwettbewerbs bekannt. Alle Schüler hofften, das das schnell von statten gehen würde, da gleich danach die Ferienzeit für sie begann. Ferdinand war es egal. Er saß in der ersten Reihe, neben seinem Deutschlehrer und schlief. Ein leichtes Schnarchen war von ihm zu hören. Der Lehrer schaute ihn an, schüttelte mit dem Kopf und ließ ihn in Ruhe.

Es hatten sich zwanzig Schüler der Grund- und Mittelschule Henriette Graf gefunden, die ihre Werke abgegeben hatten. Jedes einzelne wurde vorgelesen. Die einen gaben ein kleines Gedicht ab, andere eine Kurzgeschichte, oder eine Anekdote. Die Plätze vier bis zwanzig bekamen jeweils eine Nelke und eine Postkarte. Dritter Preis waren zwanzig Euro und eine Urkunde und der Zweite Preis dreißig Euro und ebenfalls eine Urkunde.

Die Schüler wurden immer ungeduldiger. Ihre Ferien waren nur ein paar Schritte entfernt und die Auswertung zog sich in die Länge. Wie lange noch, fragten sich die Schüler.

„Nun kommen wir zu den Plätzen drei, zwei und eins. Den dritten Platz hat Severine Koblenz aus der fünf b ergattert, mit ihrem Gedicht „Hallo Sonnenschein“. Möchtest du dein Werk selber vortragen?“

„Getrau mich nicht.“, erwiderte sie schüchtern.

„Endlich. Danach kommen nur noch zwei Plätze. Dann heißt es ade Schule und willkommen Ferien.“, flüsterten zwei Jungen in der hintersten Reihe.

Dann war Ferdinands Geschichte dran. Ferdinand schlief immer noch. Der Lehrer rüttelte leicht an ihn, aber Ferdinand ließ sich davon nicht stören. Um den Ablauf nicht zu unterbrechen, denn die Unruhe wurde immer lauter, las die Lehrerin Ferdinands Geschichte laut vor, während der Lehrer immer noch damit beschäftigt war, Ferdinand wach zu kriegen. Nach dem die Lehrerin den Schülern schöne Ferien gewünscht hatte und die Schüler laut losjubelten, wachte Ferdinand langsam auf. Die Lehrerin beglückwünschte ihn kurz für seinen Sieg, gab ihm seinen Preis und ging. Ferdinand wusste nicht was los war. Er schaute auf seine Urkunde und allmählich wurde ihm alles klar. Er hatte den ersten Preis im Schreibwettbewerb gewonnen. Zufrieden mit sich selbst, steckte er sein Preisgeld in Höhe von 50€ ein und lief lächelnd nach Hause. Nun wusste er, was er später einmal werden wollte. Schriftsteller. Dann konnte er arbeiten wann er wollte und schlafen wann er wollte.

 

“Klingt wie eine Biografie von dir. Du siehst auch immer so aus, als würdest du träumen.”, stellte Cynthia fest.

“Ist aber nicht so, auch wenn es für euch den Anschein hat. - Ich bin müde. Außerdem fällt mir sowieso nichts mehr ein. Ich mach mich vom Acker. Gute Nacht.”

“Schlaf gut.”, antwortete Marcus.

“Ich bin auch müde. Hab´ letzte Nacht kaum geschlafen. Muss mich erstmal an die neue Umgebung und das neue Bett gewöhnen. Schlaft gut Leute. Wir sehen uns dann morgen.”, sprach Alex.

“Mach´s gut.”, riefen die anderen hinterher.

“Einer nach dem anderen verließ die Bibliothek. Nur Daniel und Marcus blieben noch zurück.

“Ihr scheint euch hier drinnen recht wohl zu fühlen - du und Chris.”

“Ja. Es  tut vorallem Chris gut. Er trinkt dadurch weniger. Durch das Lesen ist er vollkommen abgelenkt und vergisst dabei sein Bier.”

“Er trinkt wohl sonst gern mal ein wenig zuviel?“

„Ja. Öfters. War aber schon mal mehr gewesen. Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich jetzt auch zu Bett.“

„Geh´ nur. Nacht.“

„Nacht.“

 

3

Chris stand nach einer fast schlaflosen Nacht auf. Es war sechs Uhr. Er war wieder der einzigste, der um diese Zeit aufstand. Nachdem er geduscht, sich angezogen und seinen Kaffee getrunken hatte, wollte er in die Bibliothek gehen, aber er wurde von Cynthia aufgehalten.

“Morgen, Chris. Konntest wohl auch nicht schlafen?”

“Mh.”

“Naja. Liegt wohl daran, das alles noch so ungewohnt ist. Gehst du wieder in die Bibliothek?”

“Mh.”

“Was dagegen, wenn ich mitkomme?”

“Nö.”

Im Grunde hatte erschon was dagegen. Aber wie sollte er ihr erklären, das er sich in ihrer Nähe unbehaglich fühlte?

Chris lief mit schnellen Schritten, um Cynthia vorraus zu sein. Aber sie hielt mit und wich ihm nicht von der Seite. Als sie unten ankamen, griff sich Chris sein Buch das und setzte sich in den Sessel. Cynthia nahm sich das Buch von `Tim Griggs` vor - ´Die Versöhnung`, hieß es. Scheint ein Liebesroman zu sein, dachte sich Chris und versuchte sie nicht weiter zu beachten und sich stattdessen in sein Buch zu vertiefen, aber er spürte ihre Blicke auf sich. Er las eine Seite. Las die selbe Seite noch einmal und dann noch ein drittes Mal. Fehlanzeige. Selbst nach dem dritten Mal, wusste er nicht, was auf der Seite stand. Er schloss das Buch, legte es zur Seite, stand auf und ging. Cynthia lief ihm hinterher. In der Küche machte er sich einen Toast und nahm ihn mit auf sein Zimmer. Cynthia folgte ihm bis dahin. ‚Irgendwas stimmt mit ihm nicht.’, dachte sie sich und ging auf ihr Zimmer. 

 Daniel schlief noch. Chris legte sich in sein Bett, dachte nach und döste ein.

Zwei stunden später wachte

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