Christoph Hohenstein
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Das
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Buch
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Gewidmet all denen, die an mich glauben
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Intro
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Seine beste Freundin Susan hatte Geburtstag. Obwohl Chris nicht nach Feiern zu Mute war, wollte er sie nicht enttäuschen. Auch wenn sie verstehen würde, dass er nach seiner Woche nicht zu Ihrer Party kommen würde, wusste Chris, dass sie dennoch enttäuscht wäre. Außerdem tat ihm die Ablenkung ganz gut. Vor sechs Wochen war seine letzte Freundin mit Sack und Pack gegangen und hatte es sich nicht nehmen lassen, sein gesamtes Bargeld mitzunehmen und andere diverse Dinge, an die er hing. Manche davon hatten auch einen nicht unterschätzbaren Wert. Trotz der Sache, tat es ihm weh, dass sie nicht mehr bei ihm war. Er hatte sie geliebt und ihr alles gegeben. Sie hatte es wirklich sehr gut bei ihm gehabt. Dass sie dann mit einem anderen Kerl durchbrannte, verstand er nicht. Danach suchte er sich einen Zweitjob und wurde sehr schnell fündig, durch die Hilfe seiner Freunde. Tagsüber arbeitete er als Feinmechaniker und abends, so wie an den Wochenenden, buckelte er auf verschiedenen Baustellen. Die Arbeit war hart, aber er verdiente gutes Geld, da die Firma ein sehr hohes Ansehen genoss und sich vor Aufträgen kaum retten konnte. Wie lange sein Körper das noch mitmachte, wusste er nicht. Aber er musste es tun, da seine Verflossene nicht nur Trauer, sondern auch Schulden hinterlassen hatte. Woher die Schulden kamen, wusste er nicht. Aber er saß drauf und setzte alles daran, die Schulden schnell wieder loszuwerden. Sobald dies erledigt war, würde er seinen Zweitjob wieder aufgeben. Lange dürfte es nicht dauern, überlegte Chris, da er vor lauter Arbeit nicht zum Geldausgeben kam.
Susan kannte er seit seiner Grundschulzeit. Sie waren immer für einander da und konnten sich stets aufeinander verlassen. In all den Jahren kam es nicht einmal vor, dass sie sich ernsthaft gestritten haben. Sie sahen sich oft, aber nicht zu oft, dass sie sich gegenseitig auf den Sack gehen konnten. Es gab Momente, da fragte sich Chris, warum er mit Susan nicht zusammenkam. Dann überlegte er weiter und kam zu der Überzeugung, das es besser so war, da ihm die Freundschaft zu ihr zu viel bedeutete. Die Angst, dass eine Beziehung die Freundschaft zerstören konnte, war zu groß. In den letzten Tagen hatte er aber ein merkwürdiges Gefühl, wenn er sie sah. Noch schlimmer war es, wenn er sie umarmte. Sein Herz schlug schneller und ihm wurde es ganz warm. Er war sich nicht mehr ganz sicher, ob er wirklich nur noch Freundschaft zu ihr spürte und wollte. Aber es konnte nicht mehr daraus werden, da Susan einen Freund hatte.
Müdigkeit überfiel Chris. Er stieg unter die Dusche und ließ das Wasser lange und heiß auf sich prasseln. Es half nichts. Er war und blieb müde. Und dann fielen seine Augen zu. Er schwankte und kam an den Wasserhahn. Plötzlich prasselte eiskaltes Wasser auf ihn herab. Chris erschrak und war auf der Stelle putzmunter. Er stellte das Wasser ab und stand Sekundenlang zitternd unter der Brause. Es war, als hätte er vergessen, was er jetzt tun wollte. Dann stieg er raus und trocknete sich ab und zog sich an.
Chris war der letzte, der zu Susans Geburtstagsfeier kam. Zum ersten mal, kam er später, als sein Freund Daniel. Susan hatte schon gar nicht mehr mit ihm gerechnet, als sie Daniel vor der Tür sah. Denn es war in der Regel so, dass Daniel der letzte war. Nach ihm kam niemand mehr. Egal wann man sich verabredete, Daniel kam regelmäßig zu spät. Sogar zur Abschlussprüfung in der Schule. Eine geschlagene halbe Stunde kam er später. Die Prüfer waren nicht sehr begeistert davon gewesen. Aber Daniel hatte die Ruhe weg. Gemächlich schlenderte er zu seinem Platz, setzte sich und machte sich an seine Prüfung.
Susans Freund schaute missgelaunt drein. Irgendetwas hatte er gegen Chris. Jeder sah es ihm an, wie er vor Eifersucht kochte. Dabei hielt sich Chris sehr zurück, wenn er in der Nähe war. Neugierig und wachsam blickten seine Augen auf das kleine Päckchen, das Susan von Chris bekommen hatte. Susan spürte seine starren Blicke und öffnete ihr Geschenk absichtlich in Zeitlupentempo. Unter dem Papier kam ein Bilderrahmen zum Vorschein, mit einem kleinen Foto von ihnen beiden, als sie noch Kinder waren. Beide von oben bis unten mit diversen Speisen und Getränken bespickt. Susan erinnerte sich noch ganz genau, wann das war. Sie gingen gerade in die dritte Klasse. Im Speisenraum war jemand ausgeflippt. Keiner kannte den Grund dazu. Aus heiterem Himmel hatte er seinen Teller mit Bohnensuppe auf dem Kopf seines Tischnachbarn ausgekippt. Derjenige wollte es rächen und seine Schnitten in sein Gesicht schmieren, doch das ging daneben. Er hatte sich schnell geduckt, und der Nebenmann bekam die Schnitten ins Gesicht gedrückt. Dann fing es richtig an. Chris und Susan schauten anfangs nur zu und lachten sich krumm. Irgendwann war es ihnen zu wenig und sie wollten mitmachen. Chris öffnete seinen Joghurtbecher und leerte ihn über Susans Kopf und schmierte es ihr kräftig ins Haar. Da er geschubst wurde, traf ein Teil des Joghurts ihren Nebenmann, dem das gar nicht gefiel. Die Essensschlacht war eines der Höhepunkte in ihrem Leben gewesen, an die sie sich oft und gerne erinnerten. Es war auch sehr lustig gewesen, bis der Direktor kam und das ausgerechnet in dem Augenblick, als eine Schüssel Schokoladenpudding geworfen wurde. Sie fiel genau in seine Richtung und landete auf seinen Anzug. Die Köchin hatte alles heimlich fotografiert gehabt und wollte die Fotos am nächsten Elternabend präsentieren. Aber da war jemand schneller gewesen. Niemand wusste, woher derjenige wusste, dass sie fotografiert wurden und wie er es geschafft hatte ihr den Film heimlich aus der Kamera zu stehlen. Hinterher hatte er die Fotos unter den Schülern verhökert und reichlich Taschengeld für sich einstecken können. Nach der Essensschlacht durften alle Schüler den Speisesaal putzen. Seit dem Tag durften sie es täglich tun. Jede Woche war eine andere Klasse dran. Bis zu jenem Tag, als sich zwei Schüler mit den Wischmopps bekämpften und sich andere dazu aufgefordert fühlten mitzumachen. Der Speisesaal war hinterher überflutet, ein Fenster hatte eine kaputte Scheibe gehabt und zwei Mopps fanden sich auf der Straße wieder. Die Eltern, der beiden Schüler die angefangen hatte, durften dafür zahlen.
Susan erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen und ihr kam es auch so vor. Von all den Geschenken, war ihr dieses am liebsten. Sie hatte nicht gewusst, dass Chris ein Foto davon ergattern konnte. Als sie damals eines haben wollte, waren sie alle schon verkauft gewesen und der Typ wollte keine weiteren Abzüge machen. Sie hatte ihn regelrecht gehasst dafür.     Â
„Das ist so ziemlich das einzige, was sie mir dagelassen hatte. Ich hoffe, es gefällt dir.“
„Und wie es mir gefällt.“
Freudentränen rannen ihr über die Wange und sie drückte Chris fest an sich. Ihr Freund raste innerlich. Er trat dazwischen und riss sie beide auseinander. Susan blickte ihn scharf an. Ihn interessierte es nicht. Susan war seine Freundin und sollte keinen anderen auch nur ansehen. Sie war sein Besitztum. Sie gehörte einzig und allein nur ihm.
Chris dachte sich seinen Teil. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihm dem Laufpass gab. Seine Eifersuchtsszenen waren zu extrem und zu meist grundlos. Äußerlich gelassen, gesellte er sich zu den anderen. Sie waren gerade dabei Rommee zu spielen. Darin war Chris sehr gut. Kaum einer hatte eine Chance gegen ihn. Egal, wie mies sein Blatt aussah, schaffte er es meist dennoch irgendwie rauszukommen und viele Karten loszuwerden, wo andere keine Chance sahen.
Susan war trotzig und stinkig auf ihren Freund. Daher setzte sie sich zum Spielen neben Chris. Sie rückte ihm nahezu auf die Pelle. Chris wollte etwas erwidern, ließ es aber lieber bleiben. Susans Laune war nicht die beste und er hatte keine Lust, dass sie auch noch auf ihn stinkig wird. Ihr Freund verzog sich, wutentbrannt, in die Küche. Er konnte es sich nicht mit ansehen, wie seine Freundin, sein Besitz, sich an einen anderen ranschmiss. Das seine extreme, unkontrollierbare Eifersucht eines Tages ihm zum Verhängnis werden würde, war ihm klar, aber er konnte nicht anders. So sehr er es auch wollte. Susan war ihm treu und würde niemals mit einem anderen Kerl flirten, oder gar mehr machen. Chris war ihr bester Freund, schon seit der Grundschule, und nicht mehr. Warum war er, Sam, dann so eifersüchtig auf ihn?
„Ich gehe ein wenig spazieren.“, sagte Sam zu Susan.
Susan achtete nicht auf ihn und spielte einfach weiter, als ob er nichts gesagt hätte. Sam wollte zu ihr laufen und ihr dafür eine knallen. Dafür und weil sie sich hemmungslos an Chris schmiss. Aber ihre Freunde waren dabei und würden es nicht so weit kommen lassen. Sie standen alle geschlossen hinter ihr und gegen ihn.
Die Luft hatte sich abgekühlt. Sam fror ein wenig. Trotzdem wollte er nicht zurückgehen, um seine Jacke zu holen. Mindestens eine Stunde wollte er jetzt draußen bleiben. Länger wäre ihm lieber, aber er wusste nicht wohin er gehen sollte. Wirkliche Freunde hatte er nicht. In die Disco gehen wollte er nicht. Im Kino liefen derzeit nur Remakes von alten Klassikern und darauf hatte er keinen Bock. Er liebte das Original, auch wenn die Spezialeffekte damals nicht die besten waren. Man hatte eben noch nicht die Möglichkeiten von heute. Respekt davor, wie sie ihre Möglichkeiten ausgeschöpft und umgesetzt hatten.
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Chris genoss Susans Nähe und fühlte sich dennoch unbehaglich dabei. Es war ein komisches Gefühl. Seine Müdigkeit kam auch wieder durch. Er spürte, wie seine Augenlider immer schwerer wurden und drohten ganz zuzufallen. Die Karten, in seiner Hand, sah er nur noch ganz verschwommen. Daher spielte er auch öfter die falsche aus und verlor haushoch ein Spiel nach dem anderen. Susan bekam mit, dass sich Chris kaum noch aufrecht halten konnte, nahm ihn an die Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer.
„Leg dich ein paar Minuten hin und ruh dich aus.“, sagte sie und zog ihm dabei die Schuhe aus. Sie war am überlegen, ob sie ihm auch bei den Hosen behilflich sein sollte, zog es aber vor, sich zurückzuhalten. Es konnte ein falsches Bild entstehen. Nicht das es ihr stören würde, aber sie wollte es nicht herausfordern.
„Ich schau dann nachher nochmal nach dir.“
Chris gab keine Widerworte. Sein Körper fühlte sich so schwer an, dass er ihr keinen Widerstand leisten könnte. Und kaum hatte sie das Zimmer verlassen, schlief er tief und fest ein. Anfangs war er in einer Dunkelheit gefangen. Nichts war zu sehen, oder zu hören. Außer Schwärze. Och schon bald sah er einen winzigen, hellen Punkt in weiter Ferne aufblitzen, der immer näher kam und größer wurde. Dann sah Chris, was es wirklich war. Er wunderte sich. Denn damit hätte er nicht gerechnet. Vor ihm entstand langsam ein Schreibtisch mit dazugehöriger Lampe und einem Bürosessel, auf dem Chris Platz nahm und darauf wartete, dass der helle Punkt sich vor ihn legte.
Es war ein großes Buch, mit vielen Verzierungen. Der Titel war in großen goldenen Lettern darauf gedruckt worden. Der Autor, dieses Buches, kam ihm seltsam bekannt vor. Kein Wunder, war er es doch selbst. Nun war Chris wirklich gespannt und konnte es nicht abwarten, bis das Buch die erste Seite preisgab. Wenn er schon ein Buch geschrieben hat, wollte er auch wissen, was er geschrieben hatte. Der Titel klang vielversprechend: Sam’s Rache“. Und endlich Öffnete sich das Buch. Als Widmung stand geschrieben: “In Erinnerung an meine besten Freunde und für meine liebe Frau Susan“. Chris stutzte und schlug die nächste Seite auf. Die Geschichte begann.
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Kapitel 1
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1
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Wochenende. Susan lief aufgeregt hin und her. Ihre erste eigene Wohnung und in wenigen Stunden würden ihre Freunde zu ihrer Einweihungsparty erscheinen. Wie lange hatte sie sich nach eigenen vier Wänden gesehnt. Bei ihren Eltern hatte es ihr zwar an nichts gefehlt, aber es war doch schon etwas anderes nicht mehr zu Hause bei den Eltern zu wohnen. Es war ein Freiheitsgefühl. Sie war ihr eigener Herr und konnte tun und lassen was sie wollte, ohne auf jemand Rücksicht nehmen zu müssen. Susan konnte es immer noch nicht fassen, dass sie eine eigene Wohnung hatte. Und alles hatte sie fast ohne andere Hilfe geschafft. Ihr Mobiliar hatte sie nach ihren eigenen Wünschen ausgesucht und von ihrem Ersparten bezahlt. Auch wenn sie jetzt kaum noch Rücklagen hatte, war es das ihr Wert gewesen.
Susan war außergewöhnlich, einzigartig und kreativ, deshalb verstand keiner, warum sie nicht eine künstlerische Karriere angestrebt hatte und stattdessen in die Pharmazie gegangen war. Als sie gestern Abend ihre Eltern zu sich eingeladen hatte, um ihnen ihre Wohnung zu zeigen, war sie sich ziemlich sicher, dass sie rückwärts wieder herausfallen werden, wenn sie ihr Schlafzimmer sahen. Die Wände waren in einem düsteren schwarzblau gehalten. Figuren aus Horrorfilmen und Horrorbüchern hatte sie mit viel Mühe und Sorgfalt mit teilweise phosphorisierenden Farben an die Wände und die Decke gezeichnet. Nachts würden die Figuren leuchten und das Zimmer erschrecken. Wie Susan in einem solchen düsteren Raum schlafen konnte, war wohl ihr Geheimnis.
Das Wohnzimmer sah hell und dunkel und einladend zugleich aus. Die Decke erstrahlte zu einem drittel in einem freundlichen Azur und einer gelben Sonne. Der Rest war relativ dunkelgrün. Die Wände waren größtenteils in dunklen braun und Grüntönen gehalten worden. Es kam einem vor, als wäre man in einem richtiger Dschungel mit Affen, Leoparden, Vögeln, Insekten, Sträucher, Lianen, Bäume und den tropischen Regen. Ihre Eltern waren von ihren künstlerischen Fähigkeiten und ihrer Kreativität überwältigt. Und noch mehr, nach dem sie ihr Badezimmer gesehen hatten. Man sah Fröhlichspringende Delphine, kristallklares Meerwasser, Palmen, weißen Strand und ein kleines Fischerboot mit einem alten Mann. Die Spiegel im Badezimmer reflektierten die Bilder so, dass man fast glauben konnte auf dem Meer zu sein.     Â
Für den Flur, der nicht allzu lang war, hatte sie ein Grundstück gewählt, das am See lag. Sie hatte nur eine Wand künstlerisch gestaltet, da die andere, bedingt durch die anliegende Küche, sehr kurz war und dort die Garderobe angebracht war. Die Garderobe selbst war Marke Eigenbau. Glattgeschliffene und verschnörkelte Holzpfähle mit Haken, die wie Schrumpfköpfe aussahen. Â
Die Küche war nicht allzu groß. Neben dem Herd standen der Geschirrspüler, eine kleine Arbeitsfläche und der Kühlschrank. Gegenüber standen ein Tisch und zwei Stühle und darüber zwei Hängeschränke. Somit war kaum Platz zum hantieren geboten, aber für sie alleine sollte es genügen.
Als ihre Eltern gegangen waren, glaubte sie eine kleine Träne bei ihrer Mutter gesehen zu haben. Auch bei ihrem Vater konnte sie ein Hauch Melancholie sehen. Ihnen fiel es nicht leicht ihre einzigste Tochter gehen sehen zu müssen, aber halten konnten sie sie nicht. Susan war der Entschluss bei ihren Eltern auszuziehen auch nicht gerade leicht gefallen, aber schließlich konnte sie nicht für immer und ewig bei ihnen wohnen bleiben. Irgendwann hätte sie sowieso ausziehen müssen.
Susan stand zwischen Wohnzimmer und Flur. Verträumt schaute sie sich in ihrer Stube um und fühlte eine kleine Leere. Sie hatte sich so sehr auf ihre eigene Wohnung gefreut und nun spürte sie fast den Wunsch alles Rückgängig zu machen. Zurück zu ihren Eltern zu ziehen. Â
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Susan hatte noch knapp zwei Stunden, bis ihre Gäste kamen. Alle ihre Freunde hatte sie eingeladen. Daniel, Sophia, Maria mit ihrem Freund Markus, Jason und Sam. Letztgenannter gehörte zu der Sorte Mensch, bei der man nie genau wusste, was man von ihnen halten sollte, ob man sie mochte, oder doch eher nicht, ob man ihnen vertrauen konnte oder lieber nicht. Sam war ein seltsamer Typ Mensch. Irgendwie passte er in ihre Clique, aber irgendwie auch nicht.
Ein letztes Mal kontrollierte sie, ob alles so war, wie es sein sollte. Auf dem Stubentisch standen die Tassen und die Teller, ein paar belegte Brötchen noch im Kühlschrank, der Kuchen stand fertig im Herd, die Kaffeemaschine brauchte nur noch eingeschaltet zu werden. So weit war alles in Ordnung. Nun freute sie sich auf ihr erstes Bad in ihrer neuen Wohnung. Sie stand schon mit einem Fuß in der Wanne, da klingelte es. Schnell zog sie sich ihren Bademantel über und ging zur Tür.
„Wer ist da?“, fragte sie.
„Ich bin es. Sam. Machst du auf?“
Susan stand unschlüssig da. Sie hatte doch ausdrücklich gesagt, dass sie nicht vor drei kommen sollten, weil sie ungestört alles vorbereiten wollte. Sollte sie ihn dennoch reinlassen? Wenn sie es tat könnte sie ihr Bad nicht richtig genießen. Aber andererseits herrschte draußen eine Eiseskälte. In diesem Jahr kam der Winter früher und härter, als sonst. Wenn sie ihn draußen stehen ließ, würde sie riskieren, das er sich einen Erfrierungstod zuzog. Konnte sie es zulassen?
„Sam?“
„Ja.“
„Warum bist du jetzt schon da. Ich habe doch ausdrücklich gesagt, dass ich vorher nicht gestört werden möchte.“
Keine Antwort. Ein großer Lastwagen fuhr an ihrem Haus vorbei und sie glaubte eine Antwort von ihm gehört zu haben, aber durch den Krach des Wagens hatte sie ihn nicht verstehen können.
„Hast du was gesagt? Ich habe dich eben nicht verstanden.“
„Ich wollte dich was fragen. Was ganz…“
Er brach ab. Susan verstand nichts.
„Warte, Sam, das Telefon läutet.“
Und bevor er noch irgendeine Antwort geben konnte, hängte sie den Sprecher auf. Für einen Moment fragte sie sich, ob er ihr das abgekauft hatte und im nächsten war es ihr schon ganz egal. Sie hatte ein beklemmendes Gefühl. Eine winzige Stimme sagte ihr, dass sie ihre Freunde anrufen soll. Sam hatte nichts Gutes im Sinn.
„Sophia. Kannst du mir einen Gefallen tun und allen Bescheid geben, das sie jetzt schon herkommen sollen?“
„Was ist bei dir los?“
„Nichts. Jedenfalls noch nichts. Es ist nur so eine Art Vorahnung. Sam steht da unten vor der Tür und möchte rein.“
„Ja und?“
„Ich habe das Gefühl, das er mir…“
„Du glaubst, das er dich vielleicht in irgendeiner Art und Weise…“
„Wie auch immer. Machst du es?“, unterbrach sie Sophia.
„Klar.“
„Danke. Bis gleich.“
Dann legte sie auf. Sie brauchte noch eine Sekunde um sich aufzuraffen, dann ließ sie Sam herein, der in der Zwischenzeit schon zweimal geklingelt hatte.
Sam kam zitternd und mit roten Wangen hoch. Seine Zähne klapperten so laut, das sie einen Bulldozer übertönen könnten.
„Du kommst sehr unpassend.“, sagte sie, als er vor ihrer Tür stand.
„Ich wollte dich nicht stören. Aber…“
„Was aber?“
„Darf ich erstmal reinkommen und mich aufwärmen?“
Susan ging zögernd einen Schritt zur Seite und dachte: ‚Bitte beeilt euch. Ich habe ein unbehagliches Gefühl und es wird immer stärker. Ich weiß, ich hätte ihn draußen stehen lassen sollen, aber ich konnte ihn doch nicht erfrieren lassen.’
Sam zog seine Jacke und seine Schuhe aus und folgte Susan ins Wohnzimmer.
„Wärme dich erstmal auf. Ich steige nur schnell in die Wanne. Danach können wir reden. Danach sind hoffentlich alle anderen da.
Sam hatte einen eigenartigen, stechenden und eindringlichen Blick, den Susan kaum widerstehen konnte. Was wollte er von ihr? Ohne es zu wollen, tat sie einen Schritt nach vorn. Sie versuchte ihren Blick von ihm zu wenden, aber schaffte es nicht. Susan war wie gebannt. Er hatte sie in seinen Bann gezogen, von dem sie sich nicht von selber wieder lösen konnte. Plötzlich läutete das Telefon und Sam wendete für einen kurzen Augenblick seine Augen dem Telefon zu. Zum Glück für Susan. Sie nutzte diesen winzigen Moment, um sich von seinem hypnotisierenden Blick zu lösen. Erleichtert griff sie zum Hörer.
„Ja?“
„Alles in Ordnung bei dir?“
„Ja. Was gibt es denn? Du willst doch nicht etwa im letzten Moment noch absagen, Daniel?“
„Nein. Ich wollte nur fragen, ob ich einen Kumpel mitbringen darf. Er heißt Chris und geht in meine Klasse. Wir wollten heute Abend eigentlich in die Disco zusammen. Ich hatte völlig vergessen, das heute schon deine Einweihungsparty war.“
„Meinetwegen. Bring ihn mit.“
Susan wollte noch mehr sagen, um das Gespräch in die Länge zu ziehen, aber ihr fiel auf die Schnelle nichts ein. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren, aber nichts. Sollte sie jetzt noch Wetter anfangen? Es wäre ein kurzes Gesprächsthema, aber wenn sie davon anfing, würde er sie wahrscheinlich für verrückt halten.
„Also bis gleich.“, sagte er.
„Okay. – Warte mal. Ich wollte dich noch fragen, ob du diesmal pünktlich bist, oder wieder zu spät kommst.“
Sie kannte schon die Antwort und sie wusste auch, dass er auf jeden fall wieder zu spät kommen würde. Trotzdem stellte sie ihm diese Frage, in der Hoffnung, dass es während des Gespräches an der Tür klingelte und sie nicht mehr mit Sam alleine war.
„Fragst du mich jetzt ernsthaft?“, lachte er.
„Ja, was denkst du denn?“
„Ich gebe mir Mühe.“
„Das sagst du immer und dann kommst du doch wieder zu spät.“
„Das liegt an meinen Genen. Ãœbrigens; wegen Chris. Ich weiß nicht wie ich es sagen soll. Er ist… Sagen wir mal so: Er ist nicht bester Laune und braucht ein bisschen Aufheiterung.“
„Das ist kein Problem. Was hat er denn?“
Susan drückte die Blase. Sie war aufgeregt. In der Zwischenzeit, dachte sie, müsste Sophia alle erreicht haben. Sie konnten jetzt schon auf dem Weg zu ihr sein. Wenn sie Glück hatte, würde es jeden Moment an der Tür klingeln und sie wäre nicht mehr allein. ‚Bitte Gott. Mach das sie sich beeilen.’
„Es ist schwierig zu erklären. Es hat was mit seiner Freundin zu tun, die ihn gestern verlassen hat…“
„Du meinst, er hat Liebeskummer?“, unterbrach sie ihn.
„Nein. Er ist froh darüber, dass sie ihm den Laufpass gegeben hat. Es ist ein wenig komplizierter. Lass uns am besten nachher darüber reden. Okay? Außerdem kann ich dir eh nicht viel darüber erzählen, weil ich nicht die Details weiß.“
„Ist in Ordnung.“
„Also bis gleich.“
„Bis gleich.“
Langsam legte sie auf. Wie lange hatte das Gespräch gedauert? Fünf Minuten? Zehn? Wahrscheinlich kürzer. Viel zu kurz, dachte sie sich. Wusste Daniel, dass sie wollte, dass sie alle früher kommen, als ausgemacht? Wahrscheinlich schon, sonst hätte er sicherlich nicht gefragt, ob alles in Ordnung sei. Bitte, flehte sie, lasst mich nicht so lange allein.
Ungewollt trafen sich ihre Blicke wieder. Susan konnte nichts anderes, als in seine stahlblauen Augen zu starren. Sein Blick zog sie magisch an. Sie fühlte sich auf einmal so müde. Was war mit ihr los? Was machte er mit ihr? Was hatte er mit ihr vor? Angst stieg in ihr auf. Ihr wurde schwindelig. Seine Lippen berührten fast die ihre und ehe sie es sich versah, wurde es dunkel um sie herum. Susan spürte nur einen kurzen Schmerz an ihrem Hinterkopf. Sterne kreisten für einen Bruchteil einer Sekunde vor ihren Augen, dann war sie weg. Sie schwebte in einer Leere. Völlige Dunkelheit umgab sie und sie spürte nichts mehr.
Als sie wieder erwachte, sah sie in die besorgten Gesichter ihrer Freunde. Und noch jemand war da. Ein Arzt vielleicht? Er hielt ihren Arm, schaute auf seine Uhr und bewegte dabei seine Lippen. Er überprüft meinen Puls, dachte sie sich. Was war geschehen?
„Sie öffnet ihre Augen.“, freute sich Sophia.
„Bleiben sie bitte noch ein paar Minuten liegen.“, sagte der Arzt, der vermutlich kein Arzt war, jedenfalls nicht so aussah. Es könnte Chris sein, von dem Daniel ihr erzählt hatte. Er sah gar nicht mal so übel aus und er schien etwas von seinem Werk zu verstehen. Vielleicht sind seine Eltern Ärzte und hat es von ihnen gelernt?
„Was war denn?“, fragte sie mit erstickter Stimme.
„Das wollten wir dich eigentlich fragen.“, antwortete Daniel.
„Nach Sophias Anruf habe ich mich gleich losgemacht. Ich habe geklingelt, aber niemand wollte mir öffnen. Da habe ich es bei deinen Nachbarn probiert. Als ich endlich ins Haus und hier hoch kam, sah ich, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Ich stürzte herein und sah dich mit geöffnetem Bademantel am Boden liegen.“, erklärte Jason.
„Was?“, fuhr sie erschrocken hoch.
„Du hast kein Grund dich schämen zu müssen.“, grinste er. „Außerdem habe ich Anstandsmäßig sofort deinen Bademantel geschlossen.“
„Du versuchst witzig zu sein, um mich aufzuheitern, stimmt’s? Lass es bleiben.“
„Nicht aufregen, junge Dame. Wie fühlen sie sich?“, fragte der Arzt, der keiner war.
„Noch etwas schwach.“
„Können sie uns schildern, was geschehen war, bevor sie in Ohnmacht fielen?“
Susan dachte nach. Sie brauchte eine Weile, um sich zu sammeln und ihre Gedanken zu ordnen. Ihr kam es vor, als wäre sie eben erst aus einem langjährigen Koma erwacht. Ein Geruch stieg ihr plötzlich in die Nase. War er schon die ganze Zeit da, oder fiel es ihr erst jetzt auf? Es roch nach Urin. Hatte sie sich bepinkelt? Es wäre kein Wunder, da sie, als sie noch wach war, dringend musste.
Susan schloss die Augen und ließ die Geschehnisse in ihrem Kopf Revue passieren. Ihr Kopf schmerzte und sie spürte eine dicke Beule. Sie hoffte, dass sie keine Gehirnerschütterung davon getragen hatte.
Susan erzählte ihnen die ganze Geschichte. Angefangen von ihrem Bad, das sie nehmen wollte, dem Starren Blick von Sam, bis zu ihrer Ohnmacht.
„Holla, die Waldfee. Das klingt ja so, als hätte er so eine Art übersinnliche Kräfte. So wie der Supercop, gespielt von Terence Hill. Ich glaube, dass dieser Sam versucht hat sie zu vergewaltigen. Aber dank ihres sechsten Sinns, ist es bei einem Versuch geblieben – oder weil sie ihn angepisst haben. Kann ihr jemand ein Glas Wasser bringen?“
Also daher kommt der strenge Geruch. Sie hatte sich auf dem Teppich entleert. Ihr Gesicht lief vor Scham rot an. Wie viel Peinlichkeiten würde sie heute noch ertragen müssen?
„Wenn sie ausgetrunken haben, können sie wieder aufstehen. Gehen sie unter die Dusche und ziehen sich was drüber, auch wenn sie noch so angenehm anzusehen sind.“
Er wollte noch hinzufügen: sonst komme ich noch auf dumme Gedanken, aber er konnte es gerade noch herunterschlucken. Er wusste nicht, ob sie seinen Witz auch verstehen würden und gleich am ersten Tag wollte er es sich nicht mit ihnen verscherzen. Darüber hinaus war Jason sehr groß und kräftig.
Susan stand langsam auf. Sophia und Maria halfen ihr dabei und begleiteten sie ins Bad. Währenddessen holte Marcus einen Lappen und schrubbte den Teppich. Chris, der Arzt, der kein Arzt war, holte sich ein Bier aus seinem Rucksack und ging damit auf den Balkon. Rauchend saß er, das Bier umklammert, in der Kälte und hing seinen Gedanken nach. Jason folgte ihm, um sich bei ihm für die schnelle Hilfe bei Susan zu bedanken. Er war immer noch von seiner Arbeit begeistert.
„Ach, das war doch nichts weiter.“, wehrte Chris ab.
Jason stand aufrecht vor ihm und machte ein ernstes Gesicht. Chris wurde bei dem Anblick leicht mulmig. Man war der groß und muskulös, dachte er sich. Im aufrechten Zustand war Jason noch Furcht einflößender.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Im Grunde bin ich ein friedliebender Mensch. Tu mir nichts, tu ich dir nichts.“, sagte Jason.
„Wieso Angst? Ich sehe dich nur zum ersten Mal in voller Länge. Erschreckend voller Länge.“
Jason schmunzelte.
„Es hat seine Vor- und Nachteile so groß zu sein.“
„Lang!“, betonte Chris. „Napoleon war groß, obwohl er körperlich klein war.“
„Jason lächelte noch mehr. Ihm gefiel die Wortgewandtheit von Chris. Napoleon war groß, obwohl er körperlich klein war. Das gefiel ihm.
„Krieg ich einen Schluck?“, fragte Jason.
Chris hielt ihm die Flasche hin. Jason nahm einen kleinen Schluck und schüttelte sich.
„Das ist ja eiskalt. Man kann es fast lutschen.“
„Oh wunder. Wer hätte das gedacht. Bei angenehmen Minustemperaturen ist das Bier kalt.“
Jason wollte darauf etwas erwidern, aber ihm fiel partout nichts Gescheites ein. Eigentlich hätte Chris für seinen Sarkasmus eine Ohrfeige verdient, aber Jason fand ihn symphatisch und als er in Chris verschmitztes Gesicht sah, konnte er ur darüber lachen.
„Kommst du mit rein?“
„Wenn du mich so lieb darum bittest.“
Susan war wieder wohlauf und sauber. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und freute sich auf die Party, die leider einen unglücklichen Anfang gehabt hatte. Marcus und Daniel hatten in der Zwischenzeit alles vorbereitet. Die Brötchen und der Kuchen standen auf dem Tisch und der Kaffee war auch so gut wie fertig.
„Danke für ihre schnelle Hilfe. Oder darf ich du zu ihnen sagen? In der Zwischenzeit wurde ich ein wenig über dich aufgeklärt, Doktor Chris.“
„Das Sie gefiel mir eigentlich ganz gut. Ich fühlte mich dabei als etwas Besseres. Aber wir können uns auch duzen, wenn es dir besser gefällt.“
„Es wäre leichter für mich. Bist du Arzt oder so was?“
„Nicht das ich wüsste. Ich hatte vor kurzem nur einen Erste-Hilfe-Kurs. Ab und zu habe ich mir auch Dokumentationen reingezogen. Da schnappt man so einiges auf. Und ich hatte noch was von meiner Lehrzeit behalten.“
„Ach so. Und was machst du so beruflich?“
„Neugierig bist du überhaupt nicht. Das gefällt mir an dir. Aber wenn du es unbedingt wissen willst, dann werde ich es dir sagen. Also, gelernt habe ich Diätassistent. Da war ich noch jung und habe über vieles nicht nachgedacht. Des Öfteren glänzte ich eher durch Abwesenheit, obwohl ich es mir eigentlich nicht leisten konnte. Aber was sollte ich machen? Abends gab’s Party und reichlich Alkohol. Und mit Restalkohol durfte ich nicht mit am Unterricht teilnehmen. Weder am theoretischen, noch am praktischen. Verständlich. Ich meine,…Stell dir vor du bist meine Patientin und ich hauche dich mit meiner Fahne an. Gibt ein sehr gutes Bild ab.
Nach meiner Lehrzeit, die ich glücklicherweise noch beenden durfte und mit einer vier absolvierte, meldete ich mich bei der Abendschule an, wo ich dann den liebenswerten, aber sehr unpünktlichen, Daniel kennen lernen durfte/ musste. Bis vor etwa drei Wochen hatte ich eine Arbeit bis Mittag, kurz ABM, als Maler. Machte zwar nicht so viel Spaß, aber es brachte Kohle ins Haus. Nun mache ich nur noch Schule und genieße das bisschen Freizeit tagsüber, bis ich irgendwann wieder arbeiten gehen darf. Obwohl ich nicht daran glaube, da die meisten firmen schließen beziehungsweise ins Ausland ziehen, weil dort die Steuern nicht so hoch sind. Vielleicht werde ich mir auch ein paar sehr viele Kinder anschaffen und von dem Kindergeld leben. Man kennt es ja von anderen. Die leben sehr gut und haben keine Geldsorgen.“
„Du bist sehr sarkastisch.“, bemerkte Sophia.
„Ja, gaynau. Und du bist?“
„Nicht dein Typ.“, antwortete sie.
„So genau wollte ich es gar nicht wissen und der Kaffee ist im Ãœbrigen seit einer halben Ewigkeit fertig.“
„Dann stehe auf und gehe ihn holen.“, antwortete sie. Chris war von ihr angetan. Sie hatte ihre Fresse am richtigen Platz.
„Ich bin hier nur Gast. Außerdem bin ich zum ersten Mal hier und kenne mich absolut nicht aus. - Ich dachte ich sollte es mal erwähnen, falls es jemanden hier in der Runde interessieren sollte.“
„Wie alt warst du?“
„Och. Das eine Jahr war ich mal acht, im nächsten neun, dann war ich mal zehn. Aber das ist schon lange her.“
„Ich wollte eigentlich wissen, wie alt du jetzt bist.“
„Wieso? Wolltest du mich heiraten? Ich bin zwar in einem geschlechtsreifen Alter, aber noch nicht alt genug um zu heiraten.“
„Ich wollte es nur mal wissen. Ich weiß ja nicht, ob du noch ein Weilchen leben wolltest.“
„Och, das überlasse ich ganz dem da oben. Mir ist es eigentlich ganz Wurst. – Bierwurst, Leberwurst, Blutwurst…“
Chris hatte völlig seine Ex vergessen und den Ärger, den sie ihm eingebrockt hatte. Er war bester Laune. Wie es dazu kam, wusste er nicht. Es war wieder einer jener Tage gewesen, wo er sich über nichts Gedanken machte. Sein Mund öffnete und schloss sich automatisch, was er normalerweise erst tat, wenn er die Menschen um sich herum schon länger und besser kannte. Susan und ihren Freunden gefiel irgendwie seine große Klappe. Sein Mundwerk fuhr zwar millimeterentfernt neben dem Abgrund, aber sein Gesichtsausdruck, den er dazu machte, zog ihn zurück auf die mittlere Fahrbahn. Susan schaute ihn die ganze Zeit über an und lachte über seine Witze. Wenn er sie in seinem Bann gezogen hätte, hätte sie bestimmt nichts dagegen gehabt. Aber sie hatte bei ihm sowieso keine Chance. Er hatte im Moment nur Augen für Sophia. Sie würden auch besser zusammenpassen, denn Sophia war wortgewandter und konnte stets kontern und noch eins Obendraufsetzen.
Die Zeit verging wie im Flug. Es war schon Abend und die Stimmung ganz oben. Chris ließ sich ein paar alte Tricks einfallen, die er schon immer gern mochte, weil nur wenige Menschen sie kannten. Manchmal hatte ihm die Kneipe doch etwas Gutes gebracht. Er hatte zwar in der Kneipe reichlich Geld hinterlassen, aber auch was gelernt und dadurch das Geld so gut wie wieder reingebracht.
„Hat jemand Lust zum Spielen? Ich wette um fünfzig Mark, das ich durch ein Loch in der Postkarte steigen kann.“, behauptete er und holte eine normale Postkarte aus der Innentasche seiner Jacke und einen Fünfzigmarkschein aus seinem Portemonnaie.
Jason und Marcus sahen sich an. Keiner von ihnen konnte sagen, wie Chris es anstellen wollte. Die Postkarte war etwa so groß, wie eines seiner zwei Füße. Jason wollte es ganz genau wissen.
„Fünfzig sind mir zu viel. Aber bei Zehn Mark bin ich dabei.“, sagte Jason.
„Ich auch.“, echote Marcus und zog seinen Einsatz wieder zurück, als Maria ihn gegen das Schienbein trat..
„Also gut. Bevor ich loslegen kann, brauche ich erstmal eine Schere, damit ich das Loch machen kann.“
Susan stand auf und holte ihm eine. Chris knickte die Karte in der Mitte und schnitt drauf los. Recht, links, recht, links. Als er fertig war, entfaltete er die Karte und stieg durch. Jason gab ihm widerwillig sein Geld. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, das er diesen Trick schon mehrmals in der Glotze gesehen hatte.
„Das war ein gemeiner Trick.“, sagte Marcus.
„Clever, nicht gemein.“, antwortete Chris.
„Was kennst du noch so für Tricks?“, fragte Maria.
„Ganz interessante. Was sind sie dir wert?“
„Ich wette niemals.“
„Eine Mark?“
Eine Mark war nicht so viel, deshalb ließ sie sich erweichen. Chris holte eine Packung Skatkarten aus der Tasche. Davon zog er drei Karten heraus und legte sie vor sich auf den Tisch.
„Wie du siehst, liegen hier drei Karten vor mir. Ich werde jetzt wegschauen und du nutzt die Zeit, um dir eine auszusuchen, aber so, das alle sehen können, welche du dir ausgesucht hast. Danach drehe ich mich wieder um und sage dir, welche Karte du dir ausgesucht hast.“
Maria, war sich nicht sicher. Auch wenn es nur eine einzige Mark war, … Chris drehte sich um und Maria tippte auf eine Karte.
„Du kannst dich wieder umdrehen.“, sagte sie.
Chris ließ seine Hände über die Karten schweben und nach einer Weile sagte er:
„Die ist es. Die mittlere.“
„Das stimmt. Aber wie hast du…?“, fragte sie erstaunt.
„Das bleibt mein Geheimnis. Hast du noch eine Mark., oder möchte noch jemand anderer mitmachen?“
„Hier.“, antwortete Marcus und legte ein Zweimarkstück auf den Tisch. Insgesamt verspielte er acht Mark. Auch die andren versuchten ihr Glück mehrmals und verloren. Die einzigsten, die sich aus diesem Spiel raushielten, waren Daniel und Susan. Chris hatte schon über zwanzig Mark einkassiert, als er keinen Mitspieler mehr fand. Deshalb überlegte er sich einen neuen Trick.
„Lieber nicht.“, sagten sie im Chor.
„Ich wette mit euch, dass ich einen Korken auf einem Stecknadelkopf balancieren kann. Einsatz zehn Mark?“
„Jetzt werde ich mal mein Glück versuchen.“, sprach Susan.
„Okay. Ich brauche dazu zwei Gabeln, zwei Korken und eine Stecknadel.“
Susan brachte ihm alles, was er benötigte und schaute ihm gespannt zu. Als er fertig war, wunderte sie sich nur wenig, dass er Recht behielt und der Korken auf dem Stecknadelkopf balancierte, ohne herunterzufallen.
„Ein toller Trick.“
„Kein Trick. Physik.“
Chris präsentierte noch zwei seiner Tricks, aber er bekam kein Geld dafür. Susan und ihre Freunde waren über alles erstaunt. Wie machte er das nur, fragten sie sich. Aber Chris verriet ihnen keinen einzigen davon, sondern ließ sie selber darüber nachdenken.
Es war halb zwölf. Susan konnte kaum noch ihre Augen aufhalten. Ihre Freunde machten sich langsam auf den Weg. Chris und Daniel hatten den gleichen Heimweg. Unterwegs gab Chris Daniel zehn Mark.
„Schade das es nicht mehr ist, aber für ein Bier und eine Schachtel Zigaretten an der Tanke reicht es allemal.“
„Du bist ja richtig gut drauf“, bemerkte Daniel.
„Ich staune über mich selbst. Muss wohl daran liegen, dass ich wieder Single bin. Zuallererst werde ich wieder mein Bier genießen. Ich weiß bis heute nicht, warum ich es mir von ihr verboten habe lassen.“
„Selbst dran Schuld.“
„Ich weiß. Ich werde erstmal eine ellenlange Pause einlegen, bevor ich mich wieder binde. Bis jetzt hatte ich doch immer nur Pech gehabt.“
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Gegen Mittag wurde Chris von seiner Mutter geweckt. In seinem Mund hatte über Nacht eine Katze gewohnt. Seine Zunge fühlte sich pelzig an und er selbst fühlte sich schlapp. In seinem Magen hatte sich ein Menge Luft angesammelt, die er nun zum Vorschein brachte und das nicht gerade leise.
„Komm Mittag essen.“, rief sie.
Noch nicht ganz ausgeschlafen, trottete er in die Küche. Sein Vater saß auf der Eckbank und grinste ihn an.
„Scheint ja ne tolle Party gewesen zu sein.“
Chris hatte bis jetzt nur geringe Kopfschmerzen gehabt, aber jetzt, nachdem sein Vater seine Stimme absichtlich erhoben hatte, hämmerte es, wie wild.
„Nimm dir ein Bier, dann geht’s dir gleich wieder besser.“
„Mir ging es ganz gut. Dann hast du angefangen mit schreien.“
Sein Vater lachte. Doch seine Mutter empfand ein bisschen Mitleid und ermahnte ihren Mann.
„Erzähl mal. Wie war’s. Waren dort hübsche Mädchen?“
„Jetzt wo du es sagst…nichts für dich dabei gewesen. Alles viel zu jung.“
„Lausbub. Du weißt genau, wie ich es meine.“
„Wie schon einmal erwähnt, habe ich vorerst nicht die Absicht mich zu binden. Jedenfalls nicht mit Gutaussehenden Mädels. Und da waren einige Gutaussehende Mädchen. – Habt ihr was dagegen, wenn ich schwul werde?“
Seine Mutter wollte gerade den heißen Topf auf den Tisch stellen, doch sie hielt mitten in der Handlung inne.
„Wie kommst du darauf?“, fragte sie.
„Also ja.“
„Natürlich nicht.“, sagte sein Vater ernst.
„Wir haben nichts dagegen. Ich frage mich nur, wie du jetzt darauf kommst. Hast du gestern jemand kennen gelernt?“, wollte seine Mutter wissen.
„Ja.“
„Wer ist es? Wie sieht er aus? Wie alt ist er?“
„Ich war auf der Schüssel und da hat er mich angesehen. Wunderschöne rehbraune Augen, intelligenter Gesichtsausdruck, ungefähr mein Alter.“
„Wie heißt er?“
„Mein Spiegelbild.“
„Du bist doch… Von wem hast du das nur?“, lachte sein Vater und schüttelte dabei mit seinem Kopf.
„Du bist viel schlimmer. Aber mal ernsthaft. Wenn ich eines Tages mit einem Kerl Hand in Hand hier reinkommen würde, wie würdet ihr reagieren?“
„Sohn. Uns ist es egal mit wem du zusammen bist. Wir wollen nur, dass du glücklich bist. Und wenn du dabei schwul wirst… was soll´s. Wir leben in den Neunzigern. Es ist so normal, wie aufs Klo gehen. Wenn du uns einen Kerl als deine bessere Hälfte vorstellst, werden wir ihn genauso als unsere Schwiegertochter akzeptieren. Und nun erzähl mal von den hübschen, jungen, knackigen Weibern.“
„Alfons!“, mahnte ihn seine Frau Renate.
Chris fühlte sich erleichtert. Zwar hatte er schon vorher gewusst, wie seine Eltern bei dem Thema reagieren würden, dennoch wollte er es noch einmal hören.
„Warum habe ich so viel Pech mit den Frauen?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Bevor ich deine Mutter kennen gelernt habe, erging es mir ebenso, wie dir jetzt. Ich kann dir nur einen Tipp geben. Habe Geduld. Eines Tages wirst du ihr begegnen und den Rest deines Lebens mit ihr verbringen. Beziehungsweise mit ihm. Früher oder später wirst du die Richtige finden, so wie deine Mutter mich gefunden hat.“
Chris stocherte appetitlos in seinem Essen rum. Geduld. Seine Geduld war schon seit langem zu ende. Er hatte keine Lust mehr zu warten. Keine Lust noch einmal verarscht und ausgenutzt zu werden.
Den Rest des Tages verbrachte er in seinem Zimmer vor dem Rechner.
Er dachte an seine letzte Verflossene, wegen der seine Deutschlehrerin Angst vor ihm hatte. Sie dachte, dass er ihr nachstellte und verfolgte, obwohl es andersherum war. Seine jetzige Ex hatte ihr nachgestellt. War ihr hinterhergefahren, um herauszufinden, wo sie wohnt. Er hatte schon oft versucht mit seiner Lehrerin darüber zu reden und alles aufzuklären, aber sie rannte stets vor ihm weg. Nun fasste er den Entschluss ihr eine E-Mail zu schicken und ihr seine ganze Last zu schreiben, in der Hoffnung, dass sie ihn versteht und verzeiht. Zumindest nicht mehr vor Angst vor ihm davonläuft.
Im Prinzip hatte er ja auch Schuld, dass es so weit kam. Chris hatte sich von seiner jetzigen Ex dazu überreden lassen, dass er einen Brief von ihr, dem Sohn seiner Lehrerin überreicht. Sie hatte ihn so lange genervt, bis er es endlich tat. Zu der Zeit waren sie noch nicht zusammen gewesen. Zuvor hatte sie noch einen Brief an seine Lehrerin geschrieben. Was sie geschrieben hatte, wusste er nicht, aber er konnte es sich denken. Sie hatte bei fast jedem das Gefühl von ihr/ihm angeguckt zu werden. Sie fand sich selber „geil“. Auch seine Lehrerin soll sie immer angeschaut haben und seine jetzige Ex dachte, dass sie sich, obwohl schon seid längerem glücklich verheiratet, in sie verliebt hätte. Die Frau, seine jetzige Ex, war in seinen Augen einfach nur krank. Wenn man ihre so genannten Freunde sah, wusste man gleich, in welche Schublade sie gehörte, obwohl sie aus einem ordentlichen Elternhaus kam. Allesamt hatten sie einen Ratsch weg. Einer war ihr völlig hörig. Sie konnte mit ihm machen was sie wollte und er wehrte sich kaum. Dies lag wahrscheinlich daran das er dumm war und völlig in sie verknallt. Ihre beste Freundin hatte einen festen Freund im Westen und hurte durch die ganze Stadt. Nebenbei schloss sie Handyverträge ab, wenn sie mal kein Geld hatte, und verkaufte die Handys beim A&V. Wie sie die ganzen Grundgebühren zahlte, wusste Chris bis heute nicht. Der Dritte hatte einen Bestellwahnsinn. Wenn er etwas sah, das ihm gefiel, musste er es sich sofort bestellen. Aber bezahlen tat er nie. Chris hatte es selbst gespürt. Er hatte ihm nämlich einen Videorekorder verkauft. Zwar hatten sie alles schriftlich gemacht, aber das brachte auch nichts ein. Warum er sich am ende dennoch mit ihr eingelassen hatte, konnte er sich bis heute nicht erklären. Er bereute es abgrundtief. Es war für ihn die schlimmste Zeit gewesen. Er hatte sich unterbuttern und herumkommandieren lassen. Er war ihr fast so hörig, wie ihr Kumpel gewesen. Wie konnte es nur so weit kommen? Wie hatte er sich so gehen lassen können?
Seine Eltern waren von ihr von Anbeginn nicht sehr begeistert gewesen. Als sie ihr Umfeld gesehen hatten, war es gleich ganz aus. Chris warnten sie nur, aber mischten sich nicht ein. Er wusste da schon, dass er einen riesengroßen Fehler gemacht hatte, sich auf sie einzulassen, aber er konnte nicht mit ihr Schluss machen. So sehr er es auch wollte, er schaffte es nicht. Als sie endlich einen neuen Freund gefunden und ihn eiskalt per SMS abserviert hatte, dankte er Gott dafür. Dies war für ihn der schönste Tag der Beziehung gewesen.
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Chris´ Vater, Alfons, und seine Mutter, Renate, saßen lange in der Küche und diskutierten. Sie machten sich unendlich Sorgen um ihren Sohn. So depressiv, wie er am Mittagstisch war, hatten sie ihn schon lange nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war vor knapp zwei Jahren. Alfons machte sich heute noch die schrecklichsten Vorwürfe, da er in dem Jahr im Ausland gearbeitet hatte und nicht für seinen Sohn da sein konnte. Chris fiel immer tiefer in den Alkohol. Als sein Vater wieder nach Hause kam, – er kam drei Monate früher, als erwartet, da er einen schweren Unfall erlitten hatte – erkannte er seinen eigenen Sohn nicht wieder. Chris lag in seinem Bett, zusammengekrümmt, zitternd, weinend. Alfons brachte ihn unter großen Schmerzen ins Krankenhaus. Alkoholentzug. Therapie. Selbsthilfegruppe. Chris trank zwar heute wieder, aber hatte er sich unter Kontrolle.
Renate hatte alles in ihrer Macht stehendes versucht ihrem Sohn zu helfen, aber Chris wendete sich ihr ab und dem Alkohol zu. Seine Eltern wussten nicht was ihn dazu trieb und haben es bis heute nicht erfahren. Als sie Chris, nach seiner Endgültigen Heilung, vorsichtig danach gefragt hatten, sagte er ihnen, das sie ihn bitte nicht danach fragen sollten und er, Chris, möchte es so schnell wie möglich wieder vergessen.
Drei Wochen drauf war Vatertag. Chris bastelte für seinen Vater eine Collage. Jedes Foto zeigte ihn und sein Vater, wie er ihm half, z.B.: beim Fahrradfahren, die ersten Schritte, das erste mal beim Friseur. Chris war schon als Baby ein Papakind gewesen. Immer wenn er ein Problem hatte, mit welchem er nicht zu Recht kam, ging er als erstes zu seinem Vater. Und all die kleinen Dinge hatte Chris in einem langen Gedicht zusammengefasst. Sein Vater war von dem Geschenk so gerührt, das er seinen Sohn in die Arme nahm und zum ersten Mal geweint hatte. Renate hatte bis dahin nicht gewusst, dass ihr Mann weinen konnte, weil er immer hart war und nur ganz selten seine Gefühle zeigte. Die Collage hatte er in seinem Arbeitszimmer feierlich aufgehängt. Und noch heute musste er ab und an noch weinen, wenn er es sah und an die Zeit zurück dachte.
„Glaubst du, er…“
Alfons brauchte nicht weiterzureden. Renate wusste nur all zu gut, was er jetzt sagen wollte, denn sie dachte genauso.
„Ich glaube…Ich hoffe er geht mit seinem Problem zu dir. Ich weiß nicht, ob ich es noch einmal ertragen kann, ihn so zu sehen, wie damals.“
Alfons stand auf und ging zu Chris’ Zimmer. Er hob die Hand und wollte anklopfen. Dann überlegte er es sich anders. Er wird schon zu mir kommen, dachte er sich, diesmal bin ich da und bleibe es auch. Komme was will.
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„Na Chris. Wieder nüchtern?“, fragte ihn Daniel, als sie zusammen zur Schule gingen.
„Was denkst du denn. Bis auf das Antikopfschmerzbier, habe ich gestern nichts getrunken.“
„Und? Gut vorbereitet für dein Referat.“
„Natürlich…hab ich das vergessen. Welches Referat?“
„In Physik. Du sollst heute über Energie und Umwelt reden.“
„Ach, genau. Naja. Das kriege ich schon hin. Das Thema ist ja nicht schwer.“
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„So, liebe Leute. Ich bin der Chris und für die nächsten paar Minuten euer Lehrer. Mein Thema lautet Energie und Umwelt. Was gibt es dazu zu sagen? Mehr als genug. Zunächst möchte ich euch erst einmal ein paar Energiearten vorstellen. Da wären zu nennen: chemische Energie, thermische, oder auch Wärmeenergie, kinetische, oder Bewegungsenergie, potentielle, oder Lageenergie, Solar, oder Sonnenenergie, Wasserkraft, Windkraft, elektrische Energie…“
Chris holte alles heraus, was sein Hirn hergab. Die Zeit verging und Chris redete immer weiter. Er hatte das Gefühl, als könnte er ewig so weiterreden. Es gab so vieles, was man dazu sagen konnte. Die Einheit hatte nur neunzig Minuten. Ein Blick auf seine Lehrerin sagte ihm, dass die Einheit gleich vorbei sei und er zum Schluss kommen sollte. Bis auf die zwei ausländischen Mädchen in der ersten reihe, hatten alle zugehört. Wenn er mitbekommen hatte, dass sie quatschten, anstatt zuzuhören, stellte er sich vor ihnen hin und blickte sie an.
„Warum hört ihr mir nicht zu?“, fragte er dann.
„Du sprichst zu schnell. Wir verstehen dich nicht.“
„Achso. Dann werde ich langsamer reden.“
Doch bei dem Wollen ist es geblieben. Kaum hatte er sich bemüht langsamer zu sprechen, beschleunigte er wieder sein tempo und sein sächsischer Dialekt wurde immer schlimmer. Selbst seine deutschen Mitschüler und seine Lehrerin hatten dann ihre Probleme ihm zu folgen.
„…dies geht aber nur, nachdem es geregnet hat. Die Feuchtigkeit geht aus dem Boden und sammelt sich an der Kunststofffolie. Da der Stein die Folie in der Mitte nach unten drückt, sammeln sich die Wassertropfen in der Mitte und fallen direkt in den darunter aufgestellten Becher. Damit möchte ich mein Referat beenden. Schönes Wochenende, bis morgen.“
„Vielen Dank erstmal. Der Inhalt war sehr gut und enthielt viele Informationen, aber die Vortragsweise gefiel mir nicht so gut. Sie waren mir ein bisschen zu klapsig. Ich trage ihnen eine zwei plus ein.“
„Besser als ich dachte und endlich mal ein Erfolgserlebnis. Ich dachte schon, ich bekomme in diesem Leben gar keines mehr.“
„Geht es ihnen so schlecht?“, fragte sie mit ein wenig Mitleid in der Stimme.
„NNeiiiin…noch viel schlechter, als sonst. Bis morgen dann.“
In der Pause standen sie, Daniel und Chris, auf dem Schulhof und rauchten.
„Hast dich ganz wacker geschlagen.“
„Tja. Entweder man hat’s, oder man hat’s nicht. Es war ein simples Thema. Jeder andere hätte es genauso gut hingekriegt.“
„Wenn du es sagst. Hast du dir schon einmal überlegt Lehrer zu werden?“
„Um Gottes Willen. Lass mich mal so ´ne Klasse haben, wo nur Idioten drin sind, die keine Lust haben und ständig den Unterricht stören. Außerdem hört man zuviel in den Nachrichten, von wegen Amoklaufenden Schülern und so. Viel zu gefährlich.“
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Obwohl es erst Ende Oktober und laut Kalender noch Herbst war, lagen die Temperaturen dennoch weit unter dem Gefrierpunkt. Chris wollte eigentlich mit seinen Eltern Halloween im Garten feiern. Er hatte es sich schon richtig ausgemalt. Doch bei dem Wetter konnte er es wahrscheinlich vergessen. Nichts mit grillen und feiern. Sein Vater war guter Stimmung. Ihm war es egal, ob das Wetter gut oder schlecht war. Er hatte seinem Sohn versprochen Halloween im Garten zu feiern, also wollte er es auch durchziehen. Auch wenn ihn alle für verrückt halten würden, war er nicht davon abzubringen. Seit zwei Tagen war er damit beschäftigt Kürbisse auszuhöhlen und alles für die Party vorzubereiten. Anfangs hatte er sich noch über den Vorschlag seines Sohnes amüsiert, aber mittlerweile wollte er es selbst. Kein anderer würde bei der Kälte draußen feiern. Geschweige denn zu grillen. Das reizte ihn dazu, es zu tun. Renate war es egal. Sie wusste, dass sie keine Chance gegen die beiden hatte. Außerdem fand sie, dass es mal etwas anderes war.
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Chris und sein Vater standen am Grill. Es herrschte klirrende Kälte. Seine Mutter saß in der Laube und wärmte sich am Ofen. Daniel sollte schon vor einer halben Stunde da sein. Chris wusste, dass er zu spät kommen würde, deshalb hatte er ihn schon eher herbestellt, aber bisher war er noch nicht in Sichtweite.
„So langsam glaube ich, dass er nicht mehr kommen wird.“, sagte er zu seinem Vater.
„Wird ihm wohl zu kalt sein. Nichts gewöhnt, der Junge.“
Kaum hatte Alfons das gesagt, sah er ihn schon kommen. Doch er war nicht allein. Mit ihm kamen noch ein paar andere.
„Ihr grillt ja wirklich.“, rief Daniel erstaunt.
„Natürlich. Was hast du denn gedacht?“, gab Chris als Antwort zurück.
„Ich dachte wir treffen euch zu Hause an. Wir standen über zehn Minuten vor eurem Haus und haben geklingelt.“
Nun erkannte Chris auch, wen Daniel mitgebracht hatte. Seine Clique.Â
„Wer will eine Wurst und wer lieber ein Steak?“, fragte Alfons die jungen Leute.
Sie schauten sich gegenseitig an und wussten nicht so recht, was sie sagen sollten. Mit der Einladung hatten sie gar nicht gerechnet. Sie dachten, das sie Chris nur kurz besuchten und dann weitermarschieren würden.
„Nicht so schüchtern. Es ist mehr als genug da. Meine ehemaligen Kollegen werden nicht mehr erscheinen. Die sind nicht so abgehärtet, wie wir zwei. Aufwärmen könnt ihr euch in der Laube. Meine Frau hat den Ofen schon angeheizt.“
Sie bedankten sich bei Alfons für die Einladung und liefen fröstelnd in die Laube. Nachdem sie Renate begrüßt und sich vorgestellt hatten, setzten sie sich hin. Es war angenehm warm, in der Laube und ein wenig beengt. Renate stand auf und stellte jedem einen Teller vor die Nase.
„Sohn, schäme dich. Du hast mir gar nicht gesagt, dass wir Gäste bekommen. Vor allem hast du verschwiegen, das so hübsche Gäste erscheinen.“
„Ich wusste doch auch nichts davon. Und guck nicht dauernd den Weibern hinterher. Wenn das Mutti sieht, wird sie wieder eifersüchtig.“
„Gucken darf man doch wohl noch. Vergiss das alte Sprichwort nicht: Appetit darf man sich holen, aber gegessen wird zu Hause. Ob ich es bis dahin aushalte?“
„Ich glaube, mir ist so eben der Appetit vergangen.“
„Ja, du hast Recht. Wirklich hübsche Dinger. Heute müsste man noch mal jung sein.“
„Willst du wirklich noch einmal vierzig Jahre arbeiten gehen?“
„Lümmel. Dir sollte mal jemand Benehmen beibringen. Geh zu deiner Mutter und sag’s ihr. Ich habe jetzt keine Zeit dafür. Muss schließlich deine Gäste bedienen.“
„Mädels hinterher gucken, meinst du. Ãœbrigens riecht es hier schon ziemlich verbrannt. Solltest zur Abwechslung mal wieder auf den Grill starren.“
„Aha. Lass es brennen. - Verdammt. Warum sagst du mir nicht, das ich die Würste umdrehen muss?“
„Du warst zu beschäftigt, um mir zuzuhören.“
Alfons hatte damals, als Chris noch ein Embryo in Renates Bauch war, seine Zweifel gehabt, ob Chris wirklich von ihm sei. Zu wenig war er zu Hause und zu viel hatte er gehört. Erst Jahre später hatte er herausgefunden, dass die Gerüchte erlogen waren. Renates ehemalige Freundin war eifersüchtig gewesen, weil Alfons sich für sie entschieden hatte und wollte sie mit allen Mitteln auseinander bringen. Alfons und Renate hatten damals einen Riesenstreit deswegen. Es sah auch so aus, als würden sie sich trennen, aber Alfons hatte auf sein Herz gehört und war froh darüber. Er liebte seine Frau und seinen Sohn über alles. Er würde alles für sie tun. Sein ganzes Herzblut steckte in seiner kleinen Familie. Der klägliche Rest. Die anderen waren sich entweder zu gut, um zu ihnen zu gehören oder schon längst verstorben.
„Schmeckt’s euch?“, fragte Alfons.
„Prima. Aber ist es ihnen nicht zu kalt da draußen?“, fragte Maria.
„Ich bin ein Mann und kein Weichei. Außerdem habe ich es meinem Sohn versprochen.“
Trotz des miesen Wetters war die Party ein voller Erfolg. Alfons hatte sich einiges einfallen lassen, um seine Gäste, die gar nicht eingeplant, aber dennoch herzlich willkommen waren, zu erschrecken. Bis weit nach Mitternacht wurde gefeiert. Alfons und Renate freuten sich, dass Chris so viel Spaß dabei hatte, denn oft sahen sie ihn nicht so glücklich.
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Anfang November war es so kalt, das alles ausfiel. Es fuhren keine Straßenbahnen, Busse, Züge und Autos mehr auf den Straßen. Die Stromleitungen waren eingefroren. Die Heizung lief Tag und Nacht auf volle Kraft, trotzdem war es noch ziemlich kalt. Und der Heizölkanister im Keller war schon ziemlich aufgebraucht. Wenn es nicht bald wärmer werden würde, würde keiner kommen können, um den Kanister aufzufüllen und dann würde es noch kälter in der Wohnung werden. Die Wahrscheinlichkeit war dann groß, das sie in ihrer eigenen Wohnung erfrieren würden.
Chris lag größtenteils in seinem Bett und schlief. Immer wieder tauchte in seinen Träumen Susan auf. Er hielt sie fest in seinen Armen und küsste sie. Sie sah dabei sehr glücklich aus und er hatte das Gefühl, als wäre sie tatsächlich bei ihm. Dabei hatte er gedacht, dass er eher mit Sophia ein Tächtelmächtel anfangen würde. Sie war ähnlich, wie er.
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Zwei ganze Tage hielt das Wetter so an. Dann kam ein plötzlicher Wetterumschwung und das Thermometer stieg auf knapp über null Grad Celsius. Das Eis auf den Straßen schmolz. Die Kanalisation wurde kaum mit dem vielen Wasser fertig. Auf den Straßen stand das Wasser bis zu zwanzig Zentimeter hoch. Die Feuerwehr war im Dauereinsatz und pumpte die Keller leer. In den Nachrichten hieß es, das das Wetter durch die Umweltverschmutzung verrückt spiele und es nur noch eine Frage der Zeit wäre, bis es kein „normales Wetter“ mehr gebe.
Chris machte sich seine eigenen Gedanken darüber und schrieb sie auf. Irgendwann, wollte er wahrscheinlich seine Gedanken der Öffentlichkeit zeigen. Bis er so weit war, würden noch Jahre vergehen. Er war kein Schreibertyp und er schrieb deshalb auch nur sehr selten, obwohl seine Aufsätze immer gut benotet wurden.
Als er sein Dokument speicherte und das Schreibprogramm schloss, war ihm auf einmal etwas merkwürdig zumute. Er kannte das Gefühl. Vor ungefähr zwei Jahren hatte er es schon einmal gehabt, nur viel intensiver. Seine damaligen Freunde – er hatte sie an jenem Abend das letzte Mal gesehen – hatten Chris eine, damals, neue synthetische Droge eingeflößt. Sie entstand in einem heruntergekommenen Keller irgendeines Typen. Die Droge war mehr oder weniger ein Abfallprodukt gewesen und dermaßen verunreinigt, das selbst Ratten davon abstand hielten.. Niemand, selbst der Hersteller, wusste so genau was alles drinsteckte. Chris war also ein Versuchskaninchen gewesen. Anfangs fühlte er sich noch normal, doch die Wirkung stellte sich von einem Moment auf den anderen plötzlich ein. Chris sah Sterne aufblitzen. Die Gesichter um ihn herum begannen zu flimmern und zu verschwimmen. Er fühlte sich miserabel. Raum und Zeit waren nicht mehr linear. Stimmen wurden verzerrt. Er hatte das Gefühl, als würde sein Hirn gleich explodieren. Licht und Dunkel wechselten stetig. Es war ein Höllentrip. Das nächste, an das er sich erinnern konnte, war, dass sein Vater ihn ins Krankenhaus brachte und ihn jeden Tag besuchen kam. Die Ärzte behandelten wegen Alkoholsucht, weil er die typischen Anzeichen dafür aufwies, und fanden keine Spur dieser Droge in seinem Körper.
Chris legte sich hin und schloss die Augen. Alles um ihn herum drehte sich. Er schrie. Seine Eltern schreckten hoch und rannten zu ihm. Doch als er in ihre Gesichter sah, bekam er Angst. Es waren nicht seine richtigen Eltern, dachte er, denn sie sahen für ihn wie Monster aus. Hässliche Fratzen, die lange, knochige Finger hatten, mit denen sie ihn greifen wollten.
Seine Eltern hatten Angst um ihn. Chris schrie immer lauter. Sein Vater versuchte einen Notarzt zu erreichen, aber die Telefonleitung schien kaputt zu sein. Kein Freizeichen war zu hören. Immer wieder wählte er die Nummer, bis er sah, dass das Kabel nicht in der Buchse steckte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er es herausgezogen hatte. Hastig steckte er es wieder rein und versuchte erneut den Notarzt zu erreichen. Danach begann ein scheinbar endloses Warten.
Chris rollte sich in seinem Bett hin und her. Sein Geschrei war so laut, das er damit hätte Tote aufwecken können. Der Speichel floss aus seinen Mundwinkeln. Die gesamte Muskulatur war bis aufs äußerste angespannt. Sein Gesicht war knallrot.
Eine halbe Stunde später kam der Notarzt und brachte Chris sofort ins Krankenhaus. Alfons begleitete ihn. Er hielt Chris Hand und betete für ihn.
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Renate rief aller zehn Minuten über Alfons Handy an und fragte, ob er ihr schon was über Chris Zustand sagen könne. Jedes Mal musste er die Antwort verneinen. Er lief vor dem Krankenhaus auf und ab und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als er sich die letzte Zigarette herausnahm, zerknüllte er die Schachtel und nahm sich vor, dass er nach dieser letzten Zigarette aufhören würde zu rauchen. Aber er wusste, dass das nicht geschehen würde. Dafür rauchte er schon zu lange und zu gerne.
Endlich kam der behandelnde Arzt zu ihm und klärte ihn über Chris’ Zustand auf.
„Ihr Sohn scheint etwas Falsches gegessen zu haben, oder er hatte Drogen zu sich genommen. In seinem Körper haben wir eine noch unbekannte Substanz gefunden. Wir wissen nicht ob es eine neue Art von Droge ist, oder ob es vielleicht im Essen drinnen war. Wir werden uns auf jeden Fall kundig machen und sie sofort informieren, sobald wir mehr wissen. Im Moment sieht es so aus, das der Körper selbst gar nicht und das Gehirn nur ein wenig angegriffen wurden. Wir haben die Substanz vollkommen aus seinem Körper entfernt, sowie die angegriffenen Gehirnzellen. Für die nächsten Tage werden wir ihn zur Beobachtung hier lassen.“
Alfons bedankte sich und ging langsam nach Hause. Als er dort ankam, erfuhr er von seiner Frau, dass da Krankenhaus angerufen hatte und Chris ins Koma gefallen war. Sein Hals wurde auf einmal ganz trocken. Er nahm sich ein Bier und ging in sein Arbeitszimmer. Dort schaute er auf die Collage seines Sohnes und fing an zu weinen und zu beten. Er betete