Hinter dem Vorgarten
Willkommen bei Familie Biernot. Betrachten wir ihr Haus von außen. Uns fällt nur auf, dass uns nichts Besonderes auffällt. Ein 08/15-Haus wie jedes andere in dieser Straße. Es besitzt einen kleinen, gepflegten Vorgarten, der von einer niedrigen Hecke umgrenzt ist. Der Garten besteht aus einem kurz geschnittenen Rasen und ein paar winzigen Blumenbeeten. Ein aus marmorierten Fliesen bestehender Weg führt zum Haus.
Zu der Haustür gelangt man über eine vierstufige Treppe, eine Keramikkatze sitzt am Rand einer der Stufen und leckt sich die Pfote. Oben angekommen heißt auch die Fußmatte jeden Besucher der Biernots in schwungvoll gestickten Buchstaben WILLKOMMEN.
Ein scheinbar selbstgemachtes Klingelschild aus Ton - auf dem nur ihre beiden Vornamen stehen und das irgendwie traurig wirkt, weil der zu erwartende Name eines Kindes fehlt - rundet das Bild ab.
Wir lassen uns nicht blenden von der strahlend weißen Außenfassade des Hauses und werfen einen Blick hinter die Mauern, direkt in den Hausflur. Es riecht nach Citrusreiniger und Möbelpolitur. Der Boden besteht aus schönen, alten Holzdielen. Filigrane Schränkchen und Regale verraten uns, dass eine Frau die Antworten auf alle Einrichtungsfragen gegeben hatte.
Inmitten dieser seit Jahrzehnten gepflegten Gleichförmigkeit, auf halbem Weg zwischen Küche und Wohnzimmer, steht Herr Biernot und flucht innerlich darüber, dass er schon vor Jahren die knarzenden Holzdielen im Flur hatte reparieren wollen, SOLLEN, wenn es nach seiner Gattin gegangen wäre. Dass er es leise tut, hat seinen Grund. Und hier sind wir schon bei einer Geschichte, die kein Vorgarten je erzählen würde.
Der Fernseher im Wohnzimmer läuft – ein Shoppingkanal. Herr Biernot hört nicht, was der Verkäufer da anpreist, aber der Art wie er spricht nach zu urteilen, muss es sich dabei mindestens um ein Heilmittel gegen Krebs handeln. Ironischerweise hatte seine Gattin auch das Küchenmesser, das er jetzt in seiner Hand hält, bei einem dieser Shoppingsender bestellt. Das Küchenmesser, mit der er ihre Kehle aufschlitzen will. Wenn die Dielen nur nicht so einen verdammten Krach machen würden…!
Herr Biernot versucht intuitiv (sein Denken hat sich bereits distanziert) sich möglichst langsam zu bewegen, aber das verlängert nur die Dauer des Quietschens. Frau Biernot hört zwar nicht mehr allzu gut, einen solchen Krach aber würde sie missbilligend zur Kenntnis nehmen, so wie sie fast immer mitbekam, was sie nicht mitbekommen sollte. Ein Grund dafür, dass ihr Blut in wenigen Augenblicken die Wohnzimmercouch besudeln sollte.
Er hält inne, wartet auf eine Reaktion von ihr, doch es plärrt nur der Fernsehverkäufer. Er umklammert das Messer, das alles schneiden können soll (behaupteten sie jedenfalls in dem Werbespot, auch wenn Frauenhälse dabei wohl nicht gemeint waren) und wartet. Zwei Monate hatte er davor schon gewartet, so lange hatte es gedauert, bis der richtige Moment gekommen war, seine immer häufiger auftretende Fantasie in die Tat umzusetzen. Dieser Moment ist jetzt.
Betrachten wir sein Gesicht (keine Angst, er kann UNS nicht sehen). Ein sehr normales Gesicht, man könnte fast sagen langweilig. Ein Mann kurz vor dem Rentenalter. Gepflegt, aber nicht attraktiv. Kurzes, graues Haar. Eine kleine Rundbrille, die an John Lennon erinnert und die sein Gesicht recht freundlich erscheinen lässt. Man könnte ihn sich gut hinter einem Bankschalter vorstellen oder auch als Besitzer eines Streichelzoos oder Sozialtherapeut. Kein Gesicht, das jedem sofort sympathisch ist, aber eins, dem die meisten Menschen vertrauen würden. Ein ehrliches Gesicht. Selbst jetzt, wo sein Kopf ganz rot vor Aufregung ist und sein rechtes Augenlid zuckt, kommt man nicht auf die Idee, dass er gerade im Begriff ist, ein schreckliches Verbrechen zu begehen. Nicht, solange man nicht das Messer in seiner Hand bemerkt.
Er wagt einen weiteren Schritt und als er glaubt, die Diele würde schweigen, verlagert er sein ganzes Gewicht nach vorne und schleicht sich ein Stück vorwärts. Er könnte auch einfach ins Wohnzimmer spazieren und ihr das Messer in den Hals rammen, aber er hatte sich vorher dagegen entschieden. In seinen Fantasien schlich er sich unbemerkt von hinten an, während sie vor dem Fernseher döste und durchtrennte ihr mit einem festen Schnitt Luftröhre und Halsschlagader. Ohne Probleme, ohne Geschrei. So sollte es sein, so war es gut und nur so würde Herr Biernot es durchziehen, wenn sich ein anderer Weg nicht vermeiden ließe. Er will keinesfalls, dass sie die Chance bekommt ihn anzusehen, bevor er zustechen kann, das fürchtet er am meisten.
Es knarzt wieder unter ihm, lauter als zuvor und er zuckt zusammen.
Gleich wird sie aufstehen und nachsehen was ich treibe, denkt er. Sie wird ihren fetten Arsch aufraffen und in den Flur gewatschelt kommen und ich werde hier stehen mit einem verfluchten Fleischermesser hinterm Rücken!
Beinahe lässt er es fallen, steckt es dann aber in seine hintere Hosentasche. Es ragt gut sichtbar hervor. Genau wie sein Schatten, der fällt ihm gerade auf. Er stellt erschrocken fest, dass sein Schatten bis ins Wohnzimmer hineinragt, gut sichtbar für sie möglicherweise. Nein, auch darauf hat er nicht geachtet. Herr Biernot, der nicht in der Lage ist eine Steuererklärung zu verfassen oder einen Klodeckel zu montieren, ist allem Anschein nach auch als Killer nicht viel wert. Er fragt sich, ob sie auch den Schatten des Messers sehen konnte. Er lauscht.
Der Werbekanal plappert noch immer. Unaufhörlich, einfach unpassend in diesem Moment. Wir können nicht sagen, ob Frau Biernot den gerade stattfindenden Mordversuch verdient, wünschen uns aber eine Klinge an den Hals des Sprechers.
Herr Biernot lauscht weiter, auch seine Ohren sind nicht mehr die Besten. Abgenutzt, von ihrem Gelaber, würde er wohl sagen. Er glaubt ihr gleichmäßiges Schnarchen hören zu können. Es ist für ihn nicht einfach, das heraus zu filtern, denn manchmal atmet sie auch so, wenn sie wach ist. Er ermahnt sie dann oft, sie solle durch den Mund atmen. Sie behauptet, es wäre ihre Allergie - er glaubt, es wäre die Mischung aus Übergewicht und Raucherlunge.
Er konzentriert sich, was ihm nicht leicht fällt. In den kurzen Sprechpausen des Werbepredigers hört er genauer hin und ist sich dann sicher: Sie schläft.
Er wagt einen weiteren Schritt und wundert sich darüber, wie unendlich lang 5,70 Meter sein können (und er müsste es eigentlich wissen, er war immerhin beim Bau dabei). Jetzt ist er nur noch gut zwei Meter von der angelehnten Wohnzimmertür entfernt. Begeisterung flammt kurz in seinem langweiligen und vertrauenserweckenden Gesicht auf und lässt es so grausig erscheinen wie die bevorstehende Gewalttat. Beim nächsten Quaken der Holzdielen zuckt er kurz, hält inne und sieht dabei wieder geschäftsmäßig angestrengt aus wie ein Uhrmachen bei der Arbeit.
Er reckt den Kopf nach vorne – jetzt achtet er auch darauf, dass sein Schatten nicht zu weit durch den Türspalt ins Wohnzimmer fällt – und hört auf ihr Schnarchen. Es ist noch da, sein Gesicht entspannt sich. Noch zwei Schritte und er hat die Wohnzimmertür erreicht. Der Boden im Wohnzimmer ist mit Teppich ausgelegt, dort wird er keine Probleme haben. Mit der Tür auch nicht, die hatte er vor kurzer Zeit erst geölt, weil sie es gewollt hatte… Ja, auch das Messer, das Herr Biernot jetzt wieder in seiner zitternden Hand hält, hatte sie gewollt und verdammt viel Geld dafür ausgegeben. Herr Biernot wirkt nicht, als wäre er gerade für diese plumpe Ironie empfänglich. Auf dem letzten Meter ereilt ihn, womit er gerechnet hatte. Bilder aus besseren Zeiten (sie waren kurz und selten, aber es hatte sie in dieser Ehe gegeben) tauchen in seinem Bewusstsein auf. Er erinnert sich an Situationen, an die er ewig nicht mehr gedacht hatte. Sie berühren ihn sichtlich, aber er schüttelt sie ab wie Wüstenstaub.
Staub aus einer unfruchtbaren, toten Wüste.
Die Frage, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie Kinder bekommen hätten, kommt ihm hoch und bleibt wie die tausendmal zuvor, nur unbefriedigend beantwortet. Man kann sehen, dass Herr Biernot all seinen Mut zusammen nimmt - er ist kein mutiger Mann, nein, wirklich nicht – und seine Hand nach der Wohnzimmertür ausstreckt.
Er rechnet mit einem letzten Quietschen, aber die Tür gleitet sanft und leise auf. Jetzt steht er da, im Türrahmen und sieht sie von hinten auf der Couch liegen. Ihr Kopf auf der Lehne. Den lärmenden Fernseher vor sich, das laufende Notebook auf dem Tisch neben der Couch. Es ist warm und laut.
Wie kann sie so schlafen?
Ihr Schnarchen klingt nicht gesund. Tief und schnarrend, als würde sich eins ihrer Körperteile langsam aufreiben. Als müsste sie nach jedem Schlaf gemahlene Knochenmasse spucken. Ihre röchelnde Kehle und das Messer sind nur noch knapp drei Meter voneinander entfernt. Wir können in der Essecke (ungenutzt, da sie fast immer vor dem Fernseher essen) eine Wanduhr hören und ahnen, es sind Frau Biernots letzte Sekunden, die dort ticken.
Auf dem Teppich hört man seine Schritte nicht, sie schläft tief und fest, der Fernseher läuft – genau wie in seiner Fantasie. Besser konnte es für ihn nicht laufen. Trotzdem werden die nächsten Schritte die härtesten im Leben von Herrn Biernot. Er will es nicht tun, es ist so endgültig und brutal, aber er glaubt fest daran, dass es die einzige Lösung für ihn ist. Unnatürlich langsam bewegt er sich. Schon jetzt, bevor der erste Tropfen Blut vergossen ist, befindet er sich in einem Schockzustand. Er zittert und lässt das Messer fast fallen, greift dann wieder zu, so verkrampft fest, dass alle Adern an seiner Hand hervortreten. Sein Uhrmachergesicht ist rosig und verschwitzt.
Nun steht er direkt hinter ihr. Ihr Kopf liegt seitlich auf der Couchlehne, ein Kissen darunter. Er kann ihren Hals sehen und fragt sich, ob er mit dem Messer überhaupt reibungslos durch ihr immenses Doppelkinn kommen würde.
In diesem Moment dringt die Stimme des TV-Verkäufers wieder zu uns durch, er sprach auch davor, wurde aber vom Bewusstseinsfilter als unwichtig eingestuft und ausgeblendet. Jetzt können wir hören, wie er mit völlig überdrehter Stimme ruft:
Ich kann Ihnen nur raten: tun sie es jetzt, tun sie es gleich. Wenn sie es wollen – zögern sie nicht länger und tun sie´s einfach! Sie werden es nicht bereuen!
Er setzt an, hebt beide Hände. Die eine, um ihren Kopf nach hinten zu drücken, die andere, um einen sauberen Schnitt anzubringen. Sein Blick wird glasig, er ist bereit.
Es klingelt an der Tür, unnatürlich laut.
Herr Biernot hält reflexartig inne. Weiß, dass er sich bewegen und das Messer aus ihrem Blickfeld befördern sollte, aber er regt sich nicht. Der Teil seines Gehirns, der gerade der dominanteste ist, setzt auf die Überlebensstrategien seiner reptilischen Vorfahren und stellt sich tot.
Er kann hören, wie die Klingel im Flur nachhallt, sieht den verschwitzten Nacken seiner Frau vor sich und wartet auf eine Bewegung und darauf, dass es ein zweites Mal klingelt. Er sieht das Küchenmesser in seiner steif gewordenen Hand, aber kann seinen Arm nicht senken.
Ein lautes Geräusch und er zuckt zusammen, als hätte er Schluckauf. Nicht die Klingel, sondern Frau Biernot, die röchelnd ihren (stark gefährdeten) Hals von einem Schleimpfropf befreit, um danach weiter zu schnarchen.
Herr Biernot erlangt sichtbar wieder Kontrolle über seinen Körper. Er legt das Messer auf dem Couchtisch ab, hinter den Laptop, und schleicht zurück in den Flur. Direkt neben dem Wohnzimmer befindet sich das Gäste-WC, von wo aus man durch das kleine Fenster in den Vorgarten blicken kann. Da schlurft er auf Socken hinein, um zu sehen, wer vor der Haustür steht.
Er muss die Gardine zur Seite ziehen und den Kopf dicht an die Scheibe pressen, um etwas sehen zu können. Dabei fühlt er sich unbehaglich, wie ein Spanner. Wir kennen dieses Gefühl gut, bespannen wir ihn doch gerade.
Vor der Haustür steht niemand. Es kommt Herrn Biernot vor, als wäre das Klingeln eine Ewigkeit her, aber sein rationaler Verstand sagt ihm, es können höchstens 30 Sekunden gewesen sein. Mit der Skepsis eines wilden Tieres vertraut er diesem Teil seines Hirns und das lässt ihn fragen, wohin der Klingler so schnell verschwunden ist.
Wir wissen es, verraten ihm aber nichts. Waren wir es doch, die geklingelt haben.
Jetzt sehen wir sein Gesicht von außen, fest an die Fensterscheibe gepresst. Schmerzverzerrt. Das Gesicht eines Mannes, der ein scharfes Messer von hinten in die Nieren gestochen bekommt. Er schreit, doch der Schrei kommt nur gedämpft bei uns an. Sein Körper bäumt sich auf, seine Hände schlagen gegen die Scheibe, als ihm ein weiterer Stich in den Rücken dringt. Seine Lippen bilden das Wort, das sein letztes sein wird. Man muss kein Lippenleser sein, um zu sehen, dass es „Miststück“ lautet. Auch die überraschte Bewunderung darin ist deutlich zu erkennen.
Hinter Frau Biermanns feisten Schweineäuglein lauerte ein eiskalter Raubtierverstand auf seine Chance, das wird Herr Biermann in seinen letzten Sekunden klar, so wie auch uns. Wir können nur noch einmal kurz einen Blick auf ihr Gesicht am Fenster werfen, dann verlässt sie unser Blickfeld, denn wir verlassen nun diesen Ort und nehmen die Frage mit, ob es die richtige Entscheidung war, in das Geschehen einzugreifen. Hätten wir überhaupt zusehen können, ohne es zu tun?
Die Fassade des Hauses, der Vorgarten. Alles wirkt immer noch normal, nur etwas hässlicher. Zwischen den Blumenbeeten fällt uns noch ein halb verwester Vogelkadaver auf, den wir zuvor nicht bemerkt haben. Die Dämmerung ist angebrochen, das Licht verschwindet langsam und macht Platz für die Nacht.
zellhaufen Re: - Zitat: (Original von petjula007 am 28.01.2013 - 18:50 Uhr) Ist ja eine schlimme Geschichte. Kann ich mich nicht so mit anfreunden. Aber Du hast einen sehr guten Schreibstil und an Spannung fehlt es auch nicht. LG petjula007 Danke. Stimmt, die Geschichte ist schlimm, aber es ist nicht wirklich meine Geschichte. Alltäglicher Kram. Wollte einfach eine andere Art des Erzählens versuchen. Direkter und "interaktiver". |
petjula007 Ist ja eine schlimme Geschichte. Kann ich mich nicht so mit anfreunden. Aber Du hast einen sehr guten Schreibstil und an Spannung fehlt es auch nicht. LG petjula007 |
zellhaufen Re: - Zitat: (Original von lachmal am 28.01.2013 - 13:10 Uhr) oh oh wer zulange wartet ist dohl das Opfer :-) gern gelesen ich lasse dir noch Grüße da Bärbel In so einer Art von Ehe kann das passieren... Mir ging es hier in erster Linie um die Art des Erzählens, die Story kam wie von selbst. LG Z |