Dr. Johanna Niedermayer wird in das Büro ihres Abteilungsleiters gebeten. Titelbild: www.pixelio.de/©Gerd Altmann/PIXELIO
Es war ein Strohhalm, nach dem sie da griff, aber sie wollte ihn packen. Dr. Johanna Niedermeyer hatte das Gesuch gestellt. Sie wollte sich in die Abteilung von Dr. Winkelmann versetzt werden. Und mit jedem Tag wollte sie dies immer mehr.
So kam es, nur wenige tage später, dass sie zum Abteilungsleiter Dr. Gavin Myers geladen wurde.
Sie betrat das große Büro, welches so lichtdurchflutet und freundlich war, wie es nur ging. Es war eigentlich schon zu viel es Guten, was auch die Beklemmung beim Besucher verursachte. Wenn man sich schon in so ein Büro begab, dann sollte man auch spüren, dass das nicht einfach irgendeines war sondern eines, in dem man sich gefälligst auch zu fürchten hatte, weil hier wichtige Entscheidungen getroffen werden konnten. Wer hier auf der falschen Seite saß, also der Besucher war, der musste damit rechnen, dass er noch mit einer Berufung hinein ging, aber ohne ein hinaus treten durfte. Â
Dass sie ihre Anstellung verlieren würde glaubte Johanna allerdings wenig. Trotzdem durchfuhr sie auch ein innerlicher Schauer, als sie sich das große Bild an der einen Wand betrachtete, welches Dr. Myers in Überlebensgröße zeigte. Und an der anderen ad hing noch ein Weiteres. Beide so angeordnet, dass einen die grinsenden Abteilungsleiter aus Öl musterten und zwar beide einen anstarrten.
Dann endlich bewegte sich der Drehstuhl an der Stirnseite des Raumes und Dr. Myers bat Johanna näher zu treten. Sie tat es recht zögerlich, denn irgendwie hatte man immer das Gefühl, dass diese überdimensionierten Bilder geheime Pfeile oder andere schlimme Dinge abfeuern konnten. Doch schließlich erreichte sie den rettenden Stuhl, auf dem sie sich niederließ. Er war hart, unbequem und eigentlich auch zu klein. Man merkte sofort, dass man hier eigentlich nicht sein sollte. Die einzige Person, die sich hier wohlfühlte war der Abteilungsleiter, der sich genüsslich in einem Bürostuhl rekelte, der sehr groß und wahrlich maßgeschneidert ausbalanciert sein musste.
„Frau Niedermeyer“, begann er wohlwollend und bewegte sich dabei zur Tischkante, „ich habe Sie herrufen lassen, weil mir etwas zu Ihren gekommen ist, was mich, gelinde gesagt, ein wenig verwundert hat.“
Er legte eine pause ein, wobei er keine Anstalten machte selbstständig wieder mit dem Reden zu beginnen. Er zwang seine Gesprächspartnerin so förmlich zu einer Reaktion.
„Ach so?“, kam es von Johanna. Das war es schon. Aber es reichte aus.
„In der Tat. Ich habe erfahren, dass Sie sich wollen versetzen lassen? Entspricht das der Wahrheit?“
Was sollte sie denn da antworten? Hundertprozentig hatte er eine Kopie des Gesuchs unter dem Schreibtisch. Er wusste genau, dass dem so war, also, warum lügen?“
„Ja, das ist korrekt.“
Myers blickte eine Weile stumm an ihr vorbei, als wäre sie Luft, oder als würde hinter ihr etwas sehr Wichtiges geschehen, was sie zum Teil verdeckte.
„Ich habe gehört, dass es die Historikerabteilung von Dr. Winkelmann sein soll, das entspricht den Tatsachen?“    Â
„Korrekt.“
Wieder ließ er sich zeit, doch diesmal lehnte er sich genüsslich zurück und schob beide ausgestreckte Zeigefinger an seine Lippen, wo sie eine gefühlte Ewigkeit auch blieben.
„Die Wasserstoffforschung hat große Schritte gemacht. In der Tat. Und ich wäre sehr erschrocken, besser gesagt, es wäre eine Schande, wenn unsere wichtigste Forscherin dann nicht da wäre. Ãœberhaupt würde es den nah bevorstehenden Durchbruch auf diesem Gebiet gänzlich gefährden, würden Sie uns verloren gehen.“ Â
Johanna war platt.
„Moment, Sie sprachen gerade von einem Durchbruch? Dr. Myers, bei allem Respekt, aber haben Sie in den letzten Monaten und Jahren die Journale gelesen?“
Myers lachte.
„Wieso sollte ich das nicht getan haben?“
„Ich meine, seit Jahren haben wir einen Fortschritt erzielt, den man kaum ausdrücken kann, weil er eigentlich nicht vorhanden ist. Wir stagnieren, vollkommen. Wir ergehen uns in wahnsinnig tollen Beschreibungen dessen, was wir nicht erreicht haben. Die letzten Jahresberichte waren ausgebläht von salvatorischen Formeln und Wortmonstren, die den Laien Respekt einflößen müssen. Aber wir, als Experten, sehen doch, trotz dieser Täuschungsversuche, dass da nichts voran geht. Ich war ja auf dem letzten Kongress und wir sind alle überein gekommen, dass sich nichts bewegt. Weder nach vorne noch zurück. Es gibt momentan keine Perspektive und das, was wenigstens danach aussieht ist uns dermaßen fremd, dass wir dies wohl in absehbarer Zeit nicht in den bisherigen Erkenntnisprozess involvieren können.“
Myers lehnte sich zurück und schien alles Gesagte noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren zu lassen.
„Nun, diese Einschätzung ist die Eine. Aber es gibt Experten, die uns in 2 Jahren den absoluten Durchbruch vorhersagen. Was sagen Sie dazu?“
„Wer? Nennen Sie mir Namen und ich werde mit wenigen Sätzen darlegen können, dass das alles dumme Optimisten sind!“, sprudelte es aus ihr heraus und sofort schlug sie die Hände vor den Mund.    Â
„Sie scheinen mir keinen großen Respekt vor deren Meinung zu haben. Und ja, natürlich weiß ich, was die großen Koryphäen unserer Wissenschaft seit Jahren schreiben. Und ich weiß natürlich nur zu gut, was Winkelmann seinerzeit schon sagte und schrieb. Trotzdem, auch der Tatsache zum Trotz, dass auch ich Zweifel habe, muss ich doch sagen käme uns nicht ungelegener, als Sie zu verlieren. Wenn es eine Wissenschaftlerin gibt, die es schaffen kann unsere jetzige Krise zu meistern, dann sind Sie das.“
Johanna war ei wenig gerührt von den Worten ihres Abteilungsleiters, die so kläglich waren, dass sie schon wieder berührten.  Â
„Es ist auch so, es ist nichts gegen Euch, aber zu meinem Mentoren habe ich ein sehr gutes Verhältnis.“
Myers nickte und blickte nach unten, wahrscheinlich in eine Akte. Er versuchte es jetzt nicht einmal mehr zu verbergen, dass er etwas Solches bei sich hatte.
„Ja, er war auf dem Kongress, weil ja auch alle anderen wichtigen Wissenschaftler vertreten waren. Und ich kann mir gut vorstellen, dass er Ihnen recht viel Sand in die Augen streute.“
Johanne erhob sich erbost und setzte sich dann wieder hin, denn wütend herumschreien nutze ihr noch viel weniger. Und eigentlich war Dr. Myers auch das falsche Ziel, denn was konnte der dafür, dass diese verdammten Forschungen nicht mehr voran kamen und sie deshalb auch nicht mehr forderten?
„Es ist nicht so, dass er mir Sand in die Augen streute, im Gegenteil. Sein Mitarbeiter berichtete mir von den Problemen jenes Forschungszweiges. Seien Sie aber trotzdem gewiss, dass mich das nicht abschreckte. Es ist ebenso schwierig, allerding befindet man sich dort nicht in einer ewigen Warteposition, sonder schafft täglich neue Dinge. Man kann sie förmlich greifen. Dr. Myers, wann hatten Sie zuletzt das Gefühl, dass Sie nur aufstehen mussten, hierher kommen und im eigenen Labor sofort eine große Entdeckung zu machen?“, fragte sie ihren Abteilungsleiter, der von dieser Frage überrascht war.
Er druckste herum, denn in der Tat hatte er das Gefühl wahren Forscherdrangs lange nicht mehr gespürt. Und er gab ihr sogar recht darin, dass es mal wieder Zeit wurde, dass eben dieser geist durch die Hallen seiner Abteilung wehen würde. Aber das durfte er natürlich nicht offen äußern, wie denn auch? Es wäre ein Eingeständnis der Niederlage gewesen, genau das, was er verhindern wollte. Denn das bedeutete, dass Johanna nicken würde und dann ihn auch als Zeugen dafür anführen konnte, dass ein Wechsel wohl zu keinem Zeitpunkt günstiger war als dem jetzigen.
„Sie wissen, dass ich persönlich nicht mehr großartig forsche, jedenfalls nicht in den Grundlagen. Ich habe mich den größeren Zusammenhängen verschrieben. Und ehrlich gesagt musste ich zuletzt doch wieder verstärkt publizieren, dass wir Sachzusammenhänge entdeckten, die uns, sollten wir nur den letzten kleinen Erfolg verbuchen, zu der ultimativen Erkenntnis dessen bringt, wie wir Wasserstoff so effizient gewinnen können, dass es zum Hauptantriebsstoff aller unserer Motoren anwachsen könnte. Sagen Sie also nicht, es würde nichts passieren.“
Johanna gab auf. Myers würde ihr nie recht geben.
„Trotzdem, meine Versetzung ist beantragt.“
„Das will noch nichts heißen. Die Historiker müssen Sie annehmen. Und ehrlich gesagt, einen ehemaligen großen Forscher wie Winkelmann, der eigentlich auf meinem Platz sitzen müsste, wäre er damals nicht Hals über Kopf geflohen, haben die auch nur gerade so akzeptiert. Ihre Arbeiten in aller Ehre, aber glauben Sie, dass die Historiker ebenfalls bei Ihnen so denken werden, auch wenn Sie mit unserem ehemaligen Besten einen wichtigen Verbündeten auf Ihrer Seite haben, der in der Tat, wie ich vernehme, auch bei den Historikern kein kleines Tier mehr ist.“
Aus diesen Worten konnte man die vollkommene Ablehnung des damaligen Schrittes von Winkelmann erkennen. Dr. Myers war in der Tat damals schon dagegen gewesen, vor allem, weil er eng mit Winkelmann zusammen gearbeitet hatte und nach dessen Abgang das Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit sich hatte um mindestens ein Jahr verzögert. Er betrachtete ihn als einen großen Kopf, der allerdings Schönwetterlagen nutzte, also nur dann forschungswillig war, sobald ihm eine ungewisse Zukunft dahingehend erwartete, was er noch schaffen konnte. Und solche Leute konnten noch so brillant sein, sie waren nicht wahrlich der Wissenschaft, ihrer eigenen Wissenschaft verschrieben. Und genau das war der Punkt, weshalb Myers eine so starke Gegenposition zu Winkelmann einnahm.
„Ich weiß, dass Sie ihn nicht wirklich leiden können, aber wenn man mich nehmen wird, dann werde ich diese Möglichkeit nicht verstreichen lassen.“
„Das will ich Ihnen auch gar nicht verdenken, aber überlegen Sie sich gut, dass Sie auch abgelehnt werde können und dann heißt es ganz einfach, dass Sie erst einmal auf absehbare Zeit weiterhin bei uns bleiben müssen. Zumindest für ein Jahr.“
Johanna nickte.
„Dieser Alternative bin ich mir sehr wohl bewusst.“
„Gut, dann habe ich dem auch nichts mehr hinzuzufügen. Sie dürfen gehen“, meinte er und starrte wieder nach unten.
Johanna war einerseits froh aus dem Büro heraus zu sein, doch andererseits hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass dieses Gespräch einen gewissen Einfluss auf ihre Zukunft haben würde, denn der Abteilungsleiter hatte mit einem Bleistift hantiert, als sie gegangen war.
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Wenige Tage später lag Johanna in den Armen ihrer Freundin Nora und weinte leidenschaftlich. Das Gesuch war erfolglos geblieben. Das Ergebnis der Abstimmung war knapp zu ihren Ungunsten ausgefallen. Es war einerseits die Ablehnung an sich, aber gerade die Knappheit des Ergebnisses steigerte die Schmach noch deutlich. Ihre Hoffnung diesem langweiligen Trott endlich entkommen zu können war mit einem Schlag erst einmal für weitere 365 Tage auf Eis gelegt worden.
„Das ist so verdammt ungerecht! Ich hätte noch deutlicher auf meine Arbeit verweisen sollen, aber dann hätte man mich in eine Besserungsanstalt gesteckt. Oh Gott, Nora! Bitte sag mir, dass das alles nur ein böser Traum ist!“
Sie weinte an der Schulter ihrer besten Freundin. Die heißen Tränen liefen in Noras Dekolleté. Diese musste dabei aufpassen, dass ihr nicht ein erregter Seufzer entfuhr. Ihre geliebte Freundin war ihr so nahe wie noch nie zuvor. Eigentlich musste sie den Kopf ihrer widerstandslosen Geliebten nur ergreifen, ihre Lippen auf ihre führen und sie dann erst ein wenig küssen, dann mehr, dann die Zunge ins Spiel bringen und der Rest ergab sich dann. Oh wie gerne würde Nora Teichmann den Menschen, den sie heimlich so begehrte, mit ihrer Liebe erfreuen. Sie erbebte leicht, als Johanna sie fest an sich zog und dabei selbst fast in die Horizontale kam. Sie lagen beide nun fast aufeinander, gemeinsam auf Johannas Sofa. Johanna war so nach unten gerutscht, dass die beiden Gesichter auf gleicher Höhe waren.
Nora hätte leichtes Spiel gehabt. Eine Hand war auch schon beim Saum der Bluse ihrer besten Freundin angelangt. Nur ein wenig damit spielen, den warmen Rücken hinauffahren, dabei küssen. Sie war dem Ziel ihrer heißen Sehnsüchte so nah, trotzdem ließ sie es bleiben. Es war die heiße Leidenschaft, die in ihr brannte und gleichzeitig der Schmerz des Verlustes, den sie deutlich vor sich sah. Den Verlust der besten Freundin für immer. Nur weil ihr Körper auch sie begehrte, noch mehr als den eigenen Freund, der momentan nicht so viel für sie da sein konnte, wie die Geliebte. Doch daran konnte es scheitern. Erst einmal die liebste Freundin durch diese Unachtsamkeit verloren und dann vielleicht gar den Freund. Sie konnte sie gewinnen, aber auch beide verlieren. Und da war die Fallhöhe einfach zu hoch. Nora wollte dies nicht, weshalb sie einfach die Nähe genoss, allerdings nicht mehr tat als Johanna liebevoll zu streicheln, bis diese erschöpft vom vielen Weinen einschlief. Nora deckte sie liebevoll zu, küsste sie leicht auf die Wange und begab sich dann in ihr eigenes Bett, welches sie so gerne mit der Frau, die sich nur wenige Meter von ihr entfernt befand, geteilt hätte. Â