Autor und Kritikerin privat
Die nächsten Tage verliefen normal, vielmehr tat ich so, als seien sie normal. Richtiger war, ich tat alles, um von einem undefinierbar gehetzten Zustand wieder in ruhigere Geleise einzubiegen. Es kommt wahrlich nicht alle Tage vor, dass ein Mann ein derartig harsche Abfuhr über sich ergehen lassen muss wie unsereiner. Zumal deren ich noch nicht viele hatte wegstecken müssen. Der letzte lag zudem so lange zurück, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte. Um genau zu sein, hatte ich überhaupt keine Erinnerungsspur von solch einer herben Abfuhr.
Nun, sofern dies überhaupt möglich sein konnte, hatte ich also keinerlei Routine und Gewohnheit darin, um leichter wieder übern Berg zu kommen.
Ich stürzte mich wie meistens in Stresssituationen auf meine Literatur. Vermehrt schrieb ich, natürlich, wie es heißt, was das Zeug hielt, also sehr unreflektiert und einfach nur, was mir so in den Sinn kam. Ich steigerte mich in eine Art Besinnungslosigkeits-Schreiben hinein. Jeden Tag erwartete ich zudem ein Paket, die meine der Kritikerin überlassenen Skripte enthielten. Aber da kam vorerst nichts. Merkwürdig erschien es mir, als es denn schon der vierte Tag war, dass da nichts kam. Was führte sie im Schilde?
Eines Tages klingelte es. Es klingelt nicht häufig bei mir, da ich ein sehr zurückgezogenes Leben führe. Ich glaube, Gesellschaft, Freundschaft und Vergnügungen halten davon ab, ein großes Werk voranzutreiben. Also habe ich kaum Bekannte, Freunde, die mich anrufen würden bei mir zuhause, meistens ist es umgekehrt, dass ich die Initiative ergreife. Dass meine pflegbedürftige, bettlägerige Mutter den in ihren Augen nutzlosen Sohn kontaktieren würde, war auch nicht anzunehmen.
Man mag es mir nicht glauben, aber ich war auf alles gefasst, vor allem auf die Kritikerin.
Ich sagte mir, rein spielerisch und rhetorisch, vielleicht ist es doch jemand anderes, womöglich die Mutter. Ja, so sprach ich zu mir und warum auch nicht. Alle menschliche Vernunft und gebotener gesellschaftlichen Umgang sagten zwar, dass dies sehr, sehr unwahrscheinlich sein mochte und zu erwarten sein dürfte, bis, na, sie wissen schon, bis halt der Altenheimchef anrief.
Aber, wer weiß? Vielleicht doch die Kritikerin. Ungeahnt kokett war ich, warum auch immer?
Jedenfalls, höchst eigenartig, dass mich überhaupt jemand anrief. Mit dieser Attitüde schlussendlich bewegte ich mich dem Apparat entgegen. Zaghaft nahm ich den Hörer ab. Ich wusste natürlich, das sie es war.
Tatsächlich, sie war am Telefon.
„Wie geht’s Ihnen?“, fragte ich neutral.
„Danke gut! Und Ihnen!“, kam es im gleichen Tonfall zurück.
„Dito!“, meinte ich kurzangebunden. So leicht sollte sie mir nicht davonkommen.
„Nun, Sie haben mir ja freundlicherweise Ihre Skripte zur Einsicht überlassen...“
„Ja!“
„Und da wollte ich mit Ihnen darüber reden.“
„Ja! Lohnt denn die Mühe?, sagte ich müde.
„Ich glaube schon. Äh, sicher, klar, doch.“
Ich ließ eine Pause aufkommen.
„Wann haben Sie gedacht?“
„Sobald wie möglich. Sobald Sie halt Zeit haben!“
Die hatte es aber mit einem Mal eilig, dachte ich und lächelte in mich hinein.
Ich hatte meinen Terminkalender vor mir liegen. Die ganze Woche leer.
„Das ist nicht gerade leicht. Momentan bin ich sehr beschäftigt.“
Ein Seufzen, ein leidendes, vermeinte ich zu hören. Allzu unfair wollte ich auch nicht sein.
„Jedenfalls, was diese Woche anbelangt...“
Ein erlösendes Stöhnen.
„Wann wäre es Ihnen demnach in der nächsten Woche möglich?“
„Moment Mal“, sagte ich und blätterte um. Da war auch nichts.
„Moment noch einmal! Es hat gerade an der Haustür geklingelt!“
„Aber natürlich!“, sagte sie geduldig.
Der Geduldsengel in Person, sehr schön. Die Haustürklingel war natürlich stumm geblieben. Trotzdem ging ich zur Haustüre heraus, trat auf dem Abtritt ein paar Mal herum und holte tief Atem und frische Luft. Wunderbar, freute ich mich unbändig.
Mich zog es schon wieder zurück, aber das wäre unklug gewesen. Ich nahm mir vor, langsam bis zwanzig zu zählen, um ein objektives Maß zu finden, denn gefühlsmäßig wären mit bereits fünf Sekunden zu lange gewesen.
Als ich ins Haus hineintrat, konnte ich mich nicht davor zurückhalten, einen Pfeil von der Dartscheibe zu entfernen und einen Wurf zu wagen. Ich warf ziemlich weit weg vom Mittelpunkt. Aha, du bist also etwas aufgeregt.
Dann ging ich zurück zum Telefon.
„Nur ein Einschreiben, entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat. Aber ich musste es gegenzeichnen.“ Ich wunderte mich, dass ich so kaltschneuzig lügen konnte und ohne Überlegungen sofort eine Unwahrheit parat hatte. Was noch verwunderlicher war, diese klang glaubwürdig.
„Oh, das wird bestimmt wichtig sein. Wollen Sie es nicht gleich lesen? Von mir aus können Sie das ruhig. Ich bin nicht in Eile!“
Das wollte ich doch noch einmal hören.
„Sind Sie sicher?“
„Aber selbstverständlich. Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe sehr viel Zeit.“
Innerlich pfiff ich: welch unerwartet sanfte Töne eines lammfrommen Schafes blökten mir denn da entgegen? Hätte ich auf ein Donnerwetter von ihr gewartet, wäre ich ganz schön schief gewickelt gewesen. Von wegen, wie können Sie es wagen, unangekündigt den Tisch zu verlassen und mich sitzen zu lassen. Aber so klang das wie Sphärenmusik in meinem Ohr. So könnte es gut weitergehen zwischen uns, so liebte ich diese Frau.
„Also gut, einen Moment!“, und ich legte erneut den Hörer ab.
Ich machte Geräusche, die dem Suchen in einer Schublade gleichkommen sollte – den Brieföffner, versteht sich – ich ging aus dem Raum, kam sogar mit einem richtigen Messer wieder und ritzte zu meinem größten Vergnügen ein zusammengefaltete Blatt Papier in der Mitte durch. Realismus pur.
Dann ließ ich noch ein paar Sekunden verstreichen, eigentlich wollte ich wieder bis 20 zählen, schaffte es aber nicht vor Nervosität. Das war jetzt zu dringend, zu erfahren, wie es weiterging. Die Braten hatte lange genug über den Spieß gebrutzelt.
„Hier bin ich wieder“, sprach ich geheimnisvoll und nahezu flüsternd in das Telefonohr. Warum? Ich weiß nicht, es kam mir nicht unpassend vor; nach dem man einen wichtigen Brief gelesen hatte, erschien mir das opportun. Es intendierte, dass ich sehr berührt von dem gerade Gelesenen war. Ich hatte Mühe, mein Lächeln und Schmunzeln nicht als Lachen ausarten zu lassen.
„Ich hoffe, es sind gute Nachrichten!“
Jetzt mache Sie mal langsam, Mademoiselle. Jetzt wird’s allmählich krampfhaft, dachte ich.
„Ach nein, passt schon!“
Die Frage, ob ich erneut eine Absage von einem Verlag auf ein von mir eingereichtes Manuskript erhalten habe, was ihr bestimmt auf der Zunge lag und ich ihr einfach einmal bösartigerweise unterstelle, kam natürlich nicht.
Aber ich legte es ihr in den Mund.
„Sie brauchen nicht zu glauben, dass ich gerade wieder eine Absage von einem Verlag bekommen habe.“
„Aber nein. Das denke ich gar nicht.“
„Wirklich?“
„Nun.“ Sie stotterte etwas herum, fasste sich schnell wieder und setzte forsch an zu sagen.
„Genau darüber will ich mit Ihnen reden.“
„Ah!“
Noch forscher: „Aber lassen Sie uns über Ihre Manuskripte reden, ja!“ Es klang wie eine recht inständige Bitte, dem ich nicht widersprechen konnte, ohne jetzt sadistisch zu wirken. Überziehen wollte ich natürlich auch nicht. Aber noch ein bisschen zappeln lassen, schadete nicht.
„Ach ja, meine Manuskripte.“ Tonfall Gleichgültigkeit anstimmen. Würde sie nicht sofort nachhaken, dann könnte ich anfügen: die können Sie gern behalten, ich lege nunmehr keinen Wert mehr auf ihre Stellungnahme, wenn ich es denn je getan hätte. Aber eilfertig kam gleich wie ein Schuss aus der Pistole ein Treffensvorschlag, das Angebot eines Dates. Die Lady wusste sehr genau, was auf dem Spiel stand, vor allem für sie – hehe.
Jetzt kam mir noch ein großartiger Gedanke. Wenn jetzt der Leser über Folgendes meint, ich würde übertreiben, kann ich das verstehen. Aber die Lady hatte es nicht anders verdient. Sie musste leiden.
Ich nahm meine Handy an mich, scrollte darin herum und ließ einen Ton erklingen.
„Oh, mein Handy klingelt. Entschuldigen Sie noch einmal!“
„Aber selbstverständlich!“
Das war zum Schießen. Ich war richtig Stolz auf meine Erfindungsgabe des Schummelns und Tricksens. Hätte ich mir gar nicht zugetraut, zu welch Meisterschaft ich doch fähig war! Darauf durfte ich einen trinken. Ich ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und schenkte mir Wein ein.
Ich ahnte, wie sehr sie auf heißen Kohlen saß. Sie hatte aus keinem andern Grund angerufen, um die guten Beziehungen wieder aufzunehmen, ganz klar. Aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, dessen sie sich so schnell wie möglich wieder entledigen musste. Je länger ich es hinauszögerte, sie davon abhielt, sich ihrer Schuld zu befreien, wie auch immer, durch eine Einladung oder weiß der Geier etwas, desto länger würde sie leiden müssen.
Noch einmal zählte ich bis 20. Allmählich wurde mir das fast zur Routine und sinnierte darüber, warum gerade 20 und nicht 25 oder 19? Jedoch das ist mühsig, kam ich schnell zum Schluss.
Ich ging wieder ran.
„Café Fatale!“
Och, die Lady ging jetzt aufs Ganze, war des Wartens und Harrens müde geworden. Na gut!
Ich tat, als kennte ich es nicht und machte keinen Hehl daraus.
„Mir unbekannt!“, ha, und kein der Höflichkeit gezolltes Adverbium wie „leider“ oder „unglücklicherweise“ oder solch einen schmalzigen Schmonzes der alten Schule eingefügt. Sie sollte schmoren in ihrem Fett, dieses Biest.
So nahm sie zwangsläufig die Mühe auf sich, mir den Weg dorthin zu beschreiben. Ich fragte noch ein paar Mal nach, in welche Straße, wenn ich von hier oder dort kam, man einbiegen musste? Ihre Geduld war bestimmt auf eine harte Probe gestellt worden, aber sie hielt sich tapfer. Sie hatte einiges gutzumachen.
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