Er war gerade erst 13 geworden und damit auch in das Alter, dass von vielen Eltern als „vpS“ -„vorpubertäres Stadium“- bezeichnet wurde. Eine Zeit in der Kinder offenbar vom Kind in den Teenager übergehen. Es scheint wohl so, als wäre diese Zeit genau so tödlich wie die eigentliche Pubertät, wenn man in die Gesichter der gestressten Eltern blickt, die mir alle mit wissendem Kopfnicken und mitfühlenden Augen hinter hersahen. Glücklicherweise stellte sich heraus, dass Jonas trotz „vpS“ eher zu den angenehmeren Zeitgenossen gehörte. Bis jetzt rebellierte er nicht mehr als sonst. Er lachte viel, und war mit sich und seinem Leben vollauf zufrieden. Nur selten, kam es vor, dass er sich zurück zog und leise wurde. Manchmal saß er in seinem Zimmer am Schreibtisch und starrte auf ein Bild seiner Mutter, hin und wieder weinte er. Er war ein Junge, der seine Mutter vermisste. Oftmals habe ich mich im Stillen gefragt, ob man es „vermissen“ nennen konnte, wo er doch Lisanna nie kennen gelernt hatte. Er hatte sie nie lachen gehört oder ihren wundervollen, leicht süßlichen Duft gerochen. Er hatte nur ein Bild von ihr, da auf seinem Schreibtisch stehen, rechts neben dem Computer. In einem kleinen silbernen Rahmen strahlte sie ihm entgegen. Mit grasgrünen Augen und ebenholzfarbenem Haar winkte sie ihm zu. Einmal, habe ich ihn danach gefragt. Ob er seine Mutter denn vermisse, obwohl er sie nicht kannte. Da hatte er mir erklärt, dass er sie sehr wohl kannte. Schließlich habe er eine lange Zeit in ihrem Bauch verbracht. Er war damals gerade 10 Jahre alt und erklärte mir das, als wäre er der weiße Erwachsene und ich das unbesonnene Kind. Er sah mich mit den gleichen grünen Augen an, mit dem gleichen Blick, mit der gleichen Ãœberzeugung, wie Lisanna. Niemand auf dieser Welt hätte es in diesem Moment gewagt, ihm zu widersprechen.
Es war an seinem Geburtstag, als er mir das ins Gesicht gesagt hatte. An diesem Tag hatte ich einen meiner stärkeren Anfälle. Es war nicht so, dass ich krank oder gar depressiv war. Ich wusste selbst nicht so genau was es war. Es kam einfach, blieb und ging wieder. Meist um Jonas' Geburtstage rum. Natürlich trauerte ich. Doch war es keine Trauer die mich während dieser Tage zerfraß, eher eine gähnende Leere. Ein schwarzes, tiefes Nichts. Ich glaube, ich wusste einfach nicht was ich fühlen sollte. Es war der Geburtstag meines einzigen Sohnes aber auch der Todestag meiner Frau.
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Es war gegen Abend, nein, spät in der Nacht gewesen. Ich saß allein im halbdunkel an unserem Küchentisch mit einem bauchigem Weinglas und einer Flasche Merlot. Sie war bereits zur Hälfte leer und ich goss mir ein weiteres Glas ein. Der Geburtstagsabend war schön gewesen. Unsere Familie, Verwandte und auch einige Freunde hatten Jonas' ersten runden Geburtstag gefeiert. Wir aßen, tanken, lachten redeten und spielten bis zur Erschöpfung dieses dämliche Kartenspiel. Doch jetzt war das Haus leer. Die Stimmen und die Fröhlichkeit verhallt und traurige Realität erfasste den Raum. Es waren zwar 10 Jahre vergangen aber ein plötzlicher Abschied schmerzt immer. Egal wie lange man auch wartete. „Die Zeit heilt alle Wunden“ heißt es, aber es bleiben immer Narben zurück. Und sie jucken, diese Narben.
Ich weinte nicht, jammerte nicht. Ich trank nur meinen Wein und starrte ins Nichts, als plötzlich mein Sohn neben mir war.
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~Paps? Ist es wieder da?~
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Ich wollte nicht, dass er mich so sah, ich wollte nicht, dass er seinen Vater so sah. Ich hatte es immer versucht zu verbergen, es zu verstecken. Doch letzten Endes, war es wohl kein besonders gutes Versteck. Ich tat mein Besten um meines Sohn diesen Anblick zu ersparen. Sein Vater traurig an dem Geburtstag seines Sohnes. Doch ich war gescheitert. In dieser Nacht wurde mir das klar.
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~Ja, es ist wieder da~
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Und er blieb bei mir. Bis er auf dem alten Holztisch einschlief und ich ihn hoch tragen musste.
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~Ja, es ist wieder da~
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Ich glaube seit diesem Tag, ging es mir besser.
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Als ich die letzten Stufen hinter mir hatte - Ich atmete schwer, was mich beunruhigte, da ich doch immer recht sportlich unterwegs war - und entlang des Flurs zielstrebig zum Zimmer meines Sohnes lief, überlegte ich wann ich das letzte Mal so einen Anfall hatte. Erstaunt stellte ich fest, dass seit Jonas' zehntem Geburtstag keiner mehr vorgekommen war. Weder am Geburtstag von Lisanna noch am Datum unserer Hochzeit. Was seltsam war. Ich trauerte an diesen Tagen und fühlte auch Kummer, doch offensichtlich nicht mehr so intensiv, so dass es mich überwältigen und mit sich ziehen konnte. Mein damals 10 Jahre alter Sohn hat mich gerettet. Erlöst von dem schwarzen Nichts nur weil er neben mir saß. Mein Sohn, Lisannas Kind.
Mit diesem wundervollen Gedanken öffnete ich Jonas' Zimmertür und wurde im selben Augenblick von einem Gestank überwältigt, der jedem Puma-Käfig dieser Welt mühelos Konkurrenz gemacht hätte.
Er mag zwar ein pflegeleichtes, nicht rebellierendes „vpS“ Kind sein, aber dafür stank er bestialisch.