Epilog - der letzte Morgen
Es war immer wieder ein erhabener Anblick, wie sich Gladison unter mir aus breitete. Die verschlungenen Straßen wie Tentakel hinaus bis über die Hügel und Täler streckte, sich die kleinen Häuser daran schmiegten, jedes für sich ein Einzelstück. Ich stand vor dem Panorama-Fenster, wie fast an jedem morgen, sah über den Weinberge hinweg, die leuchtend in der Sonne schimmerten. Meine Stadt. Seit nun mehr 28 Jahren lenkte ich ihre Geschicke, war Herr über achttausend Menschen, die mir viel zu verdanken hatten. Die mir vertrauten. Gladison hatte einen erbärmlichen Ruf, als man mich zum Bürgermeister wählte, es versank im Chaos, war besessen vom Gold, welches die Haddson-Miene hin und wieder den fanatischen Maulwürfen preis gab. Und es stank. Wie ein eitriges Geschwür, mitten in einer unglaublich traumhaften Landschaft. Niemand wollte den Job, nicht einmal ich. Das ich dennoch gewählt wurde, war nur dem alten Mey zu verdanken, der in mir wohl so etwas wie die letzte Hoffnung sah, warum auch immer. Er sollte recht behalten.
An diesem morgen aber, war etwas anders. Nichts Augenscheinliches. Die Sonne war wie immer auf gegangen, ihr wärmendes Orange hüllte die Stadt wie ein großes, weiches Tuch ein. Dann erloschen die Straßenlaternen, pünktlich nach Plan, wie immer. Die neue Anlage tat ihren Dienst so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. Wenig später betraten die ersten Menschen die Straßen, auf dem Weg zur Arbeit, oder wohin sie auch immer unterwegs sein mochten. Jeden davon kannte ich, viele wohnten schon ihr ganzes leben hier. Die Stadt erwachte unter mir, man konnte fast sehen wie sie sich streckte und gähnte. Auf dem Marktplatz begannen die Händler, wie an jedem Mittwoch, ihre Stände auf zu bauen, rings um den großen Ahorn-Baum, den Fortis Mey zum Beginn seiner Amtszeit vor fast vierzig Jahren gepflanzt hatte. Nichts daran war ungewöhnlich, nichts was ich nicht jeden Morgen in den letzten drei Jahrzehnten von hier beobachtet hätte. Plötzlich begann die Tasse Holunder-Tee in meiner Hand, eines der lieb gewonnenen Rituale, leicht zu zittern. Die wunderbare, rote, duftende Flüssigkeit darin erreichte den Rand und schubste ein paar Tropfen darüber hinaus, die sich wie Blut auf dem Parkettboden aus breiteten. War ich das? Kam das Zittern von mir? Für einen Mann über siebzig hatte mir Dr. Mallroy eine ausgezeichnete Gesundheit bescheinigt. Alle Gebrechen die ich eigentlich schon lange hätte haben sollen, waren spurlos an mir vorbei gegangen. Und das, obwohl, oder gerade weil, mein Lebensrhythmus so ganz anders war als der eines normalen Menschens.
Ich sah zu Boden und versuchte mir zu erklären, woher dieses spontane Zittern kam. Im selben Moment ertönte vom Marktplatz her ein Schrei, der mich kalt erwischte. Er klang eher überrascht als ängstlich, aber vor Schreck war mir noch mehr der kostbaren Flüssigkeit aus der Tasse entwischt und machte sich nun daran, langsam in das Holz ein zu sickern. Verdammt, das würde nie wieder verschwinden, ein Fleck der für immer... laute Stimmen drangen von unten zu mir, durch die blankgeputzte Scheibe. Jemand rief panisch einen Namen, aber das Glas war zu dick, als das ich hätte mehr verstehen können. Mein Blick wanderte über den Marktplatz, auf denen die Händler nun begannen, zu einem Punkt am Rande zu zu strömen.
Erst nach acht Jahren im Amt war es mir endlich gelungen, eine Erneuerung der Stadtmitte im Stadtrat durch zu setzen. Kaum ein Ort, den ich in meinem langen Leben vorher gesehen hatte, war so um einen zentralen Punkt herum gebaut worden wie Gladison. Alle Straßen in und aus der Stadt heraus begannen und endeten genau hier, am Marktplatz. Und dennoch hatte man ihn verkommen lassen. Nicht einmal als die alte Kirche an einem Wintermorgen unter der Schneelast zu schwach wurde, um ihren Turm noch länger stolz Gott entgegen zu strecken, und Pater Jussef unter sich begrub, hatten die Stadtverordneten die Notwendigkeit zum Handeln gesehen. Es hatte viel Arbeit gekostet, die feinen Herren dazu zu bringen, das nötige Geld bereit zu stellen. Aber es gab Mittel und Wege für mich, an mein Ziel zu kommen, auch wenn es nicht immer Legale waren. Nur drei Jahre später erstrahlte der Platz im neuen Glanz, Gladison hatte sein Herz wieder gewonnen, und ich wurde gefeiert dafür. Ab diesem Tag säumten auch zwölf Bäume den Rand des Marktplatzes, einer für jeden Monat im Jahr, alle verschieden und besonders.
Die immer größer werdende Gruppe Menschen, die sich jetzt unten versammelte, tat das um den Juni-Baum herum, einer wunderschönen Kirsche, die gerade dabei war, ihre Früchte möglichst weit der Sonne entgegen zu strecken, um sie rot und saftig süß werden zu lassen. Nur war sie nun nicht mehr leuchtend grün, sondern grau, stahlgrau um genau zu sein. Selbst von hier oben konnte ich sehen, das jegliche Farbe aus dem Baum gewichen war, das betörende grün der Blätter genauso verschwunden wie das kräftige Braun des Stammes und das zarte Rot der reifenden Früchte. Nur noch grau, als ob ihm jegliches Leben entzogen wurde. Von einer Sekunde auf die Andere. Noch vor einer halben Stunde, als ich meinen Posten hier am Fenster bezogen hatte, um den Sonnenaufgang über meiner Stadt zu genießen, war alles in Ordnung gewesen, alles genau so wie ich es am Abend davor in die Nacht entlassen hatte. Was war passiert? Sprachlos stellte ich die Tasse neben mich auf den kleinen Mahagoni-Tisch, an dem Mary immer gesessen hatte. Es wahr ihr Lieblingsplatz, die letzten, schweren Jahre ihres Lebens gewesen, und noch immer, selbst zwei Jahre nach ihrem Tot, duftete es nach Feilchen, wen man sich in den dunklen Ledersessel setzte.
Die Menschen dort unten begannen, verunsichert umher zu laufen, diskutierten, schrien sich sogar an, um sich Gehör zu verschaffen. Hin und wieder blickten sie zu mir auf, sahen mich vermutlich am Fenster stehen, hoch oben in der Dachwohnung des Rathauses. Sicherlich würden sie gleich nach mir schicken, einen Sprecher entsenden, der mich um Hilfe bitten sollte. Nur, wie konnte ich helfen, wo ich doch genau so ratlos dem Phänomen gegenüber stand, welches aus heiterem Frühsommerhimmel gekommen zu sein schien? Ich sah in die Gesichter, sah Angst und Ratlosigkeit. Am heftigsten diskutierte und gestikulierte der Schuh-Verkäufer Jenkins, der für seine ungestüme Natur berüchtigt war. Ihm gegenüber stand Eva Lee Ross, die junge Blumenhändlerin, und rang darum, ihn zu beschwichtigen. Erfolglos, ganz ohne Frage. Jean Wully und Ephraim Klett versuchten unterdessen mit weit aufgerissenen Augen, so nahe an den Baum heran zu kommen wie möglich, vermieden es aber strickt, ihn zu berühren, als würden sie sofort tot um fallen, wenn sie es taten. Durchaus verständlich, ich hätte sicher das Gleiche getan. Etwas weiter hinten konnte ich Battis, den Gemüse-Händler sehen, der mit zwei seiner Angestellten staunend da stand, noch einen leuchtend roten Apfel in der Hand, den er wohl gerade hatte sorgsam zu den Anderen an seinem Stand positionieren wollen. Die Gruppe ergänzten noch der Stoffhändler Stratow, die Bäckerin Galison und Jannett Mattis, die leicht angegraute Weinhändlerin.
Nur eine Person hatte sich ebenfalls zu so früher Stunde am Marktplatz ein gefunden, um unbeabsichtigt Zeuge dieses verstörenden Schauspiels zu werden, deren Namen ich noch nicht kannte. Vermutlich zog sie von Ort zu Ort mit ihrem alten VW-Transporter, der nun am Rande des Platzes unter dem Februar-Baum geparkt war. Eine der fliegenden Händler die immer wieder in die Stadt kamen. Was genau sie an bot, konnte ich nicht erkennen, da sie es nur geschafft hatte, ihren Stand zur Hälfte auf zu bauen, als die Kirsche plötzlich alle Farbe verlor. Nun hockte sie etwas abseits von den Anderen neben einem großen Schäferhund, dessen Fell schon silbrig zu schimmern schien, diskutierte aber nicht oder schrie mit der Gruppe um die Wette. Mit ungläubigem Blick starrten beide den Baum an, Frau und Hund, ruhig und nachdenklich, als ob sie gemeinsam versuchen würden, des Rätsels Lösung zu finden. Bald darauf sollte sie verschwunden sein, in der Masse unter gegangen, zumindest von meiner Position aus, die sich rasch um den Baum herum bildete.
Nein, dieser Morgen war von Anfang an nicht wie Jeder gewesen. Irgendetwas hatte begonnen, das konnte ich so deutlich spüren wie den nassen Ärmel meines Jacketts, welcher nach Holunder-Tee duftete. In all den Jahren, die ich nun über Gladison wachte, hatte mir nichts Angst gemacht, nichts war unmöglich gewesen oder unergründlich. Diese Zeit war nun vorbei, es brach eine neue an. Eine Stahlgraue.